Gründerzeitler - Regionale Unterschiede

  • Mich würde mal interessieren, welche Regionalen Unterschiede Gründerzeithäuser so haben und ob man sie nach Region unterscheiden kann. Damit meine ich vor allem typische Bebauung. Das einzige, was mir nämlich aufgefallen ist, ist, dass im Raum Frankfurt viele Gründerzeitler - da sie aus Mainsandstein sind - eine rötliche Farbe haben, ansonsten aber die Gebäude deutschlandweit recht ähnlich aussehen. Ist das wirklich so?

    Danke für eure Antworten schonmal.

    Wo die Sonne der Kultur niedrig steht, werfen selbst Zwerge lange Schatten
    Karl Kraus (1874-1936)

  • Mindestens für Hamburg:
    Mangels regional typischen Vorkommen gibt es hinsichtlich des Materials starke Unterschiede.

    Zwei Nachbarhäuser:

    Fast schon Jugendstil


    Hapa-LLoyd

    Klöpperhaus am Rödingsmakrt

  • ich denke nicht, dass dem so ist. und zwar aus folgenden gründen:

    zum einen schrieb die architektur der gründerzeit oft die jeweilige lokale/regionale archtiekturtradition fort. das bezieht sich nicht nur auf die verwendeten regionaltypischen materialen (sandstein, kalkstein, schiefer- oder ziegeldächer), sondern auch auf die tradierten formen, wie z.b. mansardendächer in dd, dreietagige erker in l, usw.
    zum anderen bildeten sich in dieser epoche neue gebäudetypen heraus, die sich aufgrund ihrer funktion auch in ihrem aussehen stark voneinander unterscheiden, wie zum bäderarchitektur von berliner mietskasernen.
    und drittens gab es natürlich auch damals ärmere und reichere städte und regionen, was zu einer (im durchschnitt) unterschiedlichen ausprägung vom fassadenschmuck bis hin zur treppenhausgestaltung führte.

    von allen regionalen einflüssen abgesehen, kann aber wohl auch die faustregel gelten: je grösser das wachstum einer stadt zur damaligen zeit war, desto höher die bebauung und je reicher die stadt war, desto mehr türmchen obendrauf.

  • Ich finde, daß Süddeutschland eine andere Gründerzeitarchitektur hervorgebracht hat als der Norden Deutschlands. Der Süden ist etwas schlichter und weniger "barock", farblich etwas gedeckter und meist sind die Fassaden komplett verputzt. Mir persönlich gefällt die norddeutsche Gründerzeitarchitektur besser, wobei man aber klar zwischen privatem und staatlichem Historismus unterscheiden muss. Der staatliche Historismus ist nämlich über ganz Deutschland gleich ! Schon damals galt es als Chic "inter"-nationale Architektursuperstars für Staatsgebäude zu verpflichten. :zwinkern:

  • Es gibt natürlich lokale Prägungen, und die machen den Historismus gerade interessant. Gutes Beispiel: der "(Neu-) Nürnberger Stil", der als solcher auch kunstwissenschaftlich bezeichnet wird. Natürlich

    Richtig ist, wenn rakete schreibt, daß lokale Traditionen fortgeschrieben wurden.

    In Nürnberg wollte man nach dem traumatischen Verlust der Reichsfreiheit 1806 und der Einverleibung nach Bayern angesichts des durch den wirtschaftlichen Aufschwung in der Gründerzeit wiedergewonnenen Selbstbewußtseins "lückenlos" an die große Zeit der Stadt im 16. Jahrhundert anknüpfen.

    Dies führte zur bewußten, aber auch freien Übernahme typisch nürnberger Bauformen v. a. der Renaissance um 1600 als Zierformen an Gründerzeitgebäuden.

    Vielleicht das beste Beispiel ist das Hotel Deutscher Kaiser in Nürnberg. Das ist schon ein Erlebnis für sich:

    Quelle: baukunst-nuernberg.de

    Zahlenmäßig gibt es in Nürnberg aber auch viel "durchschnittliche" Gründerzeitbauten, die zwar architektenbedingt lokaltypisch sein mögen, aber im wesentlichen allgemeine Stilmerkmale aufweisen.

  • Solche erkerartigen Balkons zur Straßenseite sind meines Erachtens eine Eigenart der Gründerzeitler Wiesbadens. Ich habe sowas jedenfalls bislang in keiner anderen Stadt so gehäuft gesehen.

  • Nein, die sind nicht unbedingt typische Eigenart von Wiesbaden. Diese Art von "Balkonen" gibt es auch in der Bäderarchitektur recht häufig (beispielsweise auf Usedom), bei Gelegenheit werde ich mal ein paar Bilder dazu hochladen. Gefällt mir auf jeden Fall sehr gut, schaut richtig mondän aus, vorallem mit all dem Stuck und den Ornamenten :)

  • Zitat von "erbsenzaehler"

    Nein, die sind nicht unbedingt typische Eigenart von Wiesbaden. Diese Art von "Balkonen" gibt es auch in der Bäderarchitektur recht häufig (beispielsweise auf Usedom), bei Gelegenheit werde ich mal ein paar Bilder dazu hochladen. Gefällt mir auf jeden Fall sehr gut, schaut richtig mondän aus, vorallem mit all dem Stuck und den Ornamenten :)

    Sind die Vorbauten dort nicht etwas filigraner ? In Wiesbaden schaut es mit den vielen Säulen deutlich stabiler aus als etwa in Travemünde.

  • Es fällt mich auf dass in Berlin alle Gründerzeitler in Kategorien einzuordnen sind. Die fingen eigentlich um 1870-1880 ganz einfach an. Dann kam eine sehr massive welle von reicher geschmückten Gründerzeitler mit Balkone, Erker, über alle 4-5-6 Etagen denselben Abwechslung, unter dem Dachgeschoss die am einfachsten Etage. Über den Fenster pro Etage immer denselben Schmuck. Dann sind viele Häuser symetrisch und es gibt auch bewust asymetrische Bauten (Savignyplatz).
    Natürlich: wie erhobener den Gegend, wie reicher dekoriert (Westen: Friedenau, Viktoria Louise Platz, Prager Platz).

    Es gab damals viel Stuck und noch wenig Putz und öfters Fassaden malereien. Heute ist dass: viel Putz, wenig Stuck, keine Malereien.

    Früher: viele Dachdetails/giebel, Türmchen, Dachreiter. Heute sind die fast allan verschwunden.

    Von 1910-1925 gibt es eine mehr romanrische (mitteläterliche) Still. Die Dächer werden weniger steil, es gibt mehr Putz, weniger Türme.

    Dann gibt es noch Gründerzeit mit Wilhelminische Merkmalen oder mit Jugendstill.

  • Die angebliche Faustregel "Je reicher, bedeutender oder größer die Stadt, desto höher die (gründerzeitliche) Bebauung" ist Quatsch. Um das festzustellen, genügt ein Blick ins Rheinland: Köln hatte 1910 517 000 Einwohner, war einer der wichtigsten Gewerbestandorte in Preußen und das ökonomische und kulturelle Zentrum der Rheinprovinz. Und trotzdem blieb man hier dem rheinischen Dreifensterhaus treu: ein drei- oder viergeschossiges Haus mit drei Fensterachsen. Es wurden wenige Fünfgeschosser errichtet. Ähnliches gilt für Düsseldorf oder Wuppertal, beide ebenfalls florierende Industriestädte. Hier spielte eine sehr viel ältere regionale Tradition eine Rolle, von der man sich erst nach dem Ersten Weltkrieg löste, indem man großräumige Siedlungen errichtete. In den Altstädten spielt diese begrenzte Bauhöhe noch heute bei Neubebauungen eine Rolle. Das hat nichts mit der Bedeutung oder dem Wohlstand einer Stadt zu tun.
    Wie es sein kann, dass die Städte dieser Region trotz meist niedriger Bebauung so hohe Einwohnerzahlen aufwiesen, zeigt ein Blick auf den Stadtplan: Vergleicht man zum Beispiel Köln und [lexicon='Leipzig'][/lexicon] etwa um 1920 miteinander, so stellt man fest, dass Köln bei gleicher EInwohnerzahl deutlich mehr bebaute Fläche beanspruchte.
    In Mainz habe ich übrigens beim Hindurchfahren mit dem Zug mehrere Straßenzeilen mit geschlossener fünfgeschossiger Bebauung aus der Gründerzeit entdeckt. So etwas hat es in Köln fast gar nicht gegeben, obwohl die Stadt um 1910 fünfmal so groß war wie Mainz!

  • Beim Vergleich Dresden-Görlitz fällt mir auf, daß man in Dresden viel eher zu offener Bebauung überging und ganze Stadtviertel mit den 4-stöckigen Würfelhäusern zupflasterte, von denen keines dem anderen gleicht,
    während in Görlitz vergleichbare Wohnlagen in geschlossener Bebauung ausgeführt wurden, die dort praktisch bis an den Stadtrand reichte.

  • Zitat von "uaoj36"


    Früher: viele Dachdetails/giebel, Türmchen, Dachreiter. Heute sind die fast allan verschwunden.

    Gibt es eigentlich in Berlin (oder in einer anderen deutschen Stadt) einen Verein/ Interessengemeinschaft, der sich speziell für die Rekonstruktion der historischen "Dachlandschaft" einsetzt :?:

  • Was auch noch typisch für Dresdner Gründerzeit ist, wie ich finde, sind die abgeschrägten Ecken an den Straßenkreuzungen. Habe ich in keiner anderen Stadt so konsequent erlebt.

  • Im Norden sind Gründerzeitler vor allem aus Backstein. Bei Kasernen ( 77er in Celle) und Gefängnissen ( JVA Oslebshausen bei Bremen, JVA Renneberg in Braunschweig ) fällt auf, dass diese an Ordensburgen angelehnt sind, was wohl die Macht Preussens im Deutschen Reich manifestieren sollte.
    Bei der JVA Oslebshausen hat man dabei sehr schön Bauformen des Klosters Jerichow / B verbraten.

  • Zitat von "Der Herzog"

    Im Norden sind Gründerzeitler vor allem aus Backstein.


    Wobei Norden nicht gleich Norden ist. Im Raum Hannover findet man tatsächlich viel Backstein, in Hamburg sind die Gründerzeitler aber schon wieder fast alle verputzt - in sehr hellen Tönen (weiß-beige).

    Ich entschuldige mich von Herzen für meine früheren arroganten, provokanten, aggressiven und unfreundlichen Beiträge!
    Jesus ist mein Herr und Retter!

  • Ein wirklich interessantes Thema, haben wir mittlerweile Foristen an Bord, die dazu sich auskennen, bzw. ggf. selbst versucht haben gewisse Abgrenzungen zu bilden? Manchmal erscheint mir bei den Bild Quiz, dass da einige schon ein sehr gutes Gespür für haben, in welche Region ein entsprechender Bau passen könnte.

  • Diese beiden Aufnahmen sind beide in München entstanden, wobei der Backsteinbau eher norddeutsch wirkt und dir anderen 3 Gebäude weitaus südlicher wirken, ähnlich Gebäude sind mir auch aus Bozen bekannt. Es gibt zwar immer wieder mal Ausnahmen, wie den hier gezeigten Backsteinbau, aber Münchner Gründerzeitgebäuden sieht man ihre Herkunf glaube ich schon recht häufig an.


    Hat die Schönheit eine Chance-Dieter Wieland

  • Zu dem zweiten Bild aus der Amalienstraße ist zu sagen, dass diese Häuser tatsächlich sehr münchnerisch aussehen, allerdings handelt es sich um einen Stil, der in München erst ab ca. 1890 im Spannungsfeld zwischen Späthistorismus und Heimatstil entstand und erst dann eine sehr charakteristische, regional inspirierte Historismusarchitektur ergab (vor allem in den Werken der Brüder Seidl, aber auch anderer Architekten), die aus einem heutigen, etwas oberflächlichen Rückblick "den Historismus" Münchens prägen. In Wahrheit aber gab es auch in München zur eigentlichen Gründerzeit um 1870-90 einen internationalen, akademischen Historismus, der auch in vielen anderen Städten hätte stehen können, bevor sich eben zur Jahrhundertwende der "malerische" Regionalstil immer mehr durchsetzte. Und diesen Regionalstil kann man natürlich relativ einfach von anderen Regionalstilen unterscheiden. Dass man diesen Stil auch in Tirol und Südtirol wiederfindet, ist auch kein Zufall: München war für Tirol in kultureller und künstlerischer Hinsicht lange Zeit ein wichtigerer Orientierungspunkt als Wien, das viel weiter weg war. Der österreichische Historiker Michael Forcher schrieb über die Kulturbeziehungen zwischen München und Tirol folgendes (aus "Bayern-Tirol", 1981):

    "Die Ausstrahlung der Kunstmetropole München hatte nicht nur in der Malerei für Tirol entscheidende Bedeutung. München war in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg das Mekka für alle schöpferischen Kräfte Tirols vom Kunsthandwerk bis zur Literatur, von der Bildhauerei bis zur Baukunst. Gerade die Architektur im damaligen Tirol wäre undenkbar ohne die starke Beziehung zu Bayern und zur Münchner Schule mit ihrer spezifischen Form einer sogenannten Regionalromantik und ihrem Nahverhältnis zur Heimatschutzbewegung. Eine ganze Generation von Tiroler Baumeistern und Architekten wurde fast ausschließlich in München ausgebildet, wodurch im Tiroler Baugeschehen dieser Zeit der Einfluss der rationalistisch-fortschrittlichen Wiener Otto-Wagner-Schule nur eine untergeordnete Rolle spielt. Vorbildcharakter für Tiroler Baumeister und Architekten hatten auch die zahlreichen von Münchner Baukünstlern ausgeführten Arbeiten in Tirol, vor allem öffentliche Gebäude und Bürohäuser. So entwarf z.B. der Münchner Ludwig Lutz die Innsbrucker Handelskammer (1900-1902) und die Creditanstalt (1905/06), um unter vielen nur einen Namen und zwei beispielhafte Bauwerke zu nennen. In Kufstein, wo der kulturelle Einfluß Bayerns naturgemäß immer besonders stark war, berief die Stadtführung im Jahr 1899 den Münchner Architekten Otto Lasne zur Erarbeitung eines "Stadtregulierungsplans". In ihrer Auseinandersetzung mit der heimischen Baukultur, die erst die Überwindung des akademischen Historismus ermöglicht hatte, bezogen die Münchner Architekten auch die Tiroler Tradition mit ein."

    "In der Vergangenheit sind wir den andern Völkern weit voraus."

    Karl Kraus