Als erste Kirche außerhalb der Altstadt möchte ich die Klosterkirche St. Anna im Lehel (münchnerisch "Lechl") vorstellen.
Klosterkirche St. Anna im Lehel
St.-Anna-Straße 19
Erbaut 1727-39
Typus: längsovaler, von seitlichen Konchen umgebener Zentralraum mit rundem Presbyterium und querovalem Orgelchor
Baugeschichte:
- 1725 Baugenehmigung durch Kurfürst Max Emanuel: die Vorstadt Lehel hatte damals noch keine eigene Kirche, weswegen die Bewohner den Kurfürsten baten, dort eine Kirche zu errichten; der Kurfürst verband den Bau der gewünschten Kirche mit der Ansiedlung des Hieronymiten-Ordens im Lehel, die an ihrem bisherigen Standort am Walchensee nicht zufrieden waren und eine neue Niederlassung suchten.
- 1727 Grundsteinlegung durch Kurfürstin Maria Amalia, der Gemahlin des neuen Kurfürsten Karl Albrecht (dessen Vater Max Emanuel 1726 verstorben war) und Ernennung des Kirchenbaus als Votivkirche anlässlich der Geburt des Kurprinzen Max III. Joseph.
- 1727-33 Bau der Kirche nach Plänen von Johann Michael Fischer; 1729/30 Deckenfresken von Cosmas Damian Asam; 1730 vorläufige Benediktion der Kirche; 1734 Altarblätter von C. D. Asam; 1737 Weihe; 1738/39 Errichtung des Hochaltars und der beiden Haupt-Seitenaltäre durch Egid Quirin und Cosmas Damian Asam. Die Altaraufbauten, Plastiken und Stuckaturen der Kirche schafft Egid Quirin Asam, die Fresken und Altarblätter Cosmas Damian Asam, den Tabernakel mit den beiden Engeln sowie die Kanzel Johann Baptist Straub.
- 1753/54 Fertigstellung der Fassade
- 1802 Säkularisation und Aufhebung des Ordens, 1807 Auszug der Hieronymiten; ab diesem Zeitpunkt dient St. Anna als Pfarrkirche des Lehels.
- In das Kloster, das seit 1807 als Magazin und Kaserne gedient hatte, ziehen 1827 die Franziskaner ein, die ihrerseits 1802 von ihrem angestammten Kloster am Max-Joseph-Platz vertrieben worden waren und nun im Zuge der kirchlichen Rehabilitationspolitik Ludwigs I. wieder nach München geholt werden.
- 1845 Renovierung
- 1852/53 wird, nachdem der alte Chorturm baufällig geworden war, der Kirche eine neue Vorhalle mit zwei flankierenden Türmen vorgelagert (Architekt August von Voit); diese neoromanische Fassade, die sich an St. Ludwig in der Ludwigstraße orientiert, soll dem Kirchenvorplatz einen zeitgemäßeren und repräsentativeren Charakter geben.
- 1893 Umgestaltung einiger Teile der Ausstattung im Sinne der damals populären Nazarenerkunst, wobei einige wertvolle Altarblätter von C. D. Asam verloren gehen.
- 1934 Renovierung des Innenraums, 1935 neues Relief an der Korbbrüstung der Kanzel mit der Darstellung der Stigmatisation des hl. Franziskus von Konrad Ritter von Hofmann
- 1944 Zerstörung des Dachstuhls und laut Karlheinz Hemmeter in “Bayerische Baudenkmäler im Zweiten Weltkrieg” auch des Gewölbes; in der Denkmaltopographie steht allerdings nichts von einer Zerstörung des Gewölbes (lediglich von einem Absenken desselben um 25cm) und Fotos von 1946 zeigen ein zwar ausgebranntes, aber baulich intaktes Gewölbe; allerdings ist auf den Fotos auch nicht das gesamte Gewölbe zu sehen. Die Türme und der Innenraum brennen aufgrund von Brandbomben völlig aus: Deckenfresken, Stuckaturen, Orgelempore und ein Großteil der Ausstattung werden vernichtet.
- 1946 Abtragung der neoromanischen Türme bis auf Höhe des Fassadengiebels, neuer Dachstuhl, Stabilisierung des Gewölbes samt weißem Anstrich, Nachguss der zerstörten Stuck-Kapitelle, Errichtung von provisorischen Altären aus übriggebliebenen Resten; in dieser sehr einfach wiederhergestellten Form wird die Kirche 1951 wiedereröffnet.
- 1965/66 Rekonstruktion der Barockfassade durch Erwin Schleich unter Einbeziehung der um ein weiteres Geschoß reduzierten Turmstümpfe und der erweiterten Vorhalle von 1853
- 1967-79 Rekonstruktion der kompletten Innenausstattung unter Leitung von Erwin Schleich: 1967 Stuckierung der Kirche, Rekonstruktion des Allianzwappens über dem Chorbogen und des Freskos im Presbyterium; 1970 Wiederherstellung des Hochaltars (dessen Tabernakel den Krieg überstanden hatte); 1972 Rekonstruktion des großen Freskos im Mittelraum (anhand von Farbdias von 1942); 1973 Restaurierung der beiden vorderen Seitenaltäre (die Altarblätter von C. D. Asam waren vor der Bombardierung gerettet worden); 1974 Wiederherstellung der Kanzel; 1975 Rekonstruktion des Hochaltarbildes (anhand eines Schwarzweißfotos) und Neukonzeption des Antoniusaltars; 1976 Wiederherstellung des Kreuzaltars und des Freskos über der Orgelempore, Stuckierung der Emporenbrüstung; 1978 Erneuerung des letzten Seitenaltars links mit neuem Altarblatt 1979. Die Künstler und Kunsthandwerker des Wiederaufbaus: Karl Manninger, Maler (Deckenfresken, Hochaltarbild, Altarblatt letzter Seitenaltar links); Hermann Rösner, Bildhauer (Hauptportal, St. Annafigur im Giebel der Fassade, Hl. Franziskus und Hl. Antonius in der Vorhalle, Putti am Kreuzaltar, linker Engel am Antoniusaltar); Robert Auer, Maler (Bildtafeln Antoniusaltar); Joseph und Jakob Schnitzer (sämtliche Stuckarbeiten); Firma Kunze (Maler- und Vergolderarbeiten); Albert Knestele & Franz Schreiner (Rekonstruktion verschiedener Großplastiken).
- 1999 Einweihung der neuen Orgel mit neuem neobarocken Orgelgehäuse der Firma Hermann Mathis (Näfels/Schweiz), Schnitzarbeiten von Bildhauer Wieland Graf.
St. Anna im Lehel ist ein Frühwerk von Johann Michael Fischer, einem der bedeutendsten barocken Kirchenbaumeister Süddeutschlands: zu seinen Werken gehören u.a. die Klosterkirchen von Ottobeuren, Zwiefalten, Rott am Inn, Fürstenzell und Dießen am Ammersee sowie St. Michael in Berg am Laim in München.
Bernhard Schütz schrieb über St. Anna im Lehel:
„Fischer gab hier auf Weltenburg, wovon das Konzept für St. Anna gerne abgeleitet wird, eine eigenständige, erfindungsreiche Antwort. Schon der Grundriss bietet zum Weltenburger Längsoval eine ganz besondere Alternative, weil das Oval auf der Querachse ein wenig eingezogen ist. Die Grundrissfigur erinnert an die Form einer Geige. Das ist im Kirchenbau etwas sehr Seltenes. Angeschlossen ist der Chor in Form einer Rotunde. Fischer griff bei der Gesamtdisposition des Grundrisses nicht auf Weltenburg zurück, sondern auf einen Musterbau in Böhmen: die wohl von Christoph Dientzenhofer entworfene Schlosskirche in Smiřice, bei der die Geigenform noch viel deutlicher in Erscheinung tritt und wo in der Gewölbezone ein überall einschwingendes Bogenachteck ausgebildet ist. Die böhmische Präzision der Form ist bei Fischer zurückgenommen; sie ist ein wenig abgeschliffen, doch bleibt das böhmische Muster, nicht zuletzt auch bei der Chorrotunde, immer noch erkennbar. Für die Anschauung bleibt der Raum freilich eine längsovale Rotunde. Die ovale Form wird durch die Einschwünge nicht aufgehoben, sondern - typisch für den frühen Fischer - mit feinem Bewegungsspiel belebt. Vollends konträr zu Weltenburg ist die Wandform, die Fischer in St. Anna erprobte. Während der Aufbau in Weltenburg, festen Schalen vergleichbar, von Travéen mit ungemein gewichtiger Ordnung bestimmt wird, umkleidete Fischer in St. Anna den Raum an den Längsseiten jeweils mit drei Abseiten in Form von Konchen. Die Konchen sind eine frei modellierte Umformung des althergebrachten Motivs rektangulärer Wandpfeilerabseiten, und entsprechend sind die Konchenwände, zum Kernraum hin, mit Hilfe der Pilasterordnung zu festen Pfeilerköpfen verfestigt. Zum Kernraum öffnen sich die Konchen durch ihre Stirnarkaden, die zusammen mit den Öffnungsarkaden zum Chor und Eingangsraum einen den Raum umschließenden Arkadenkranz bilden.”
Kurz gesagt: Fischer nimmt das eigentlich longitudinale Wandpfeilerschema, zentralisiert es und bringt es zum Schwingen.
Im Gegensatz zu diesem klar strukturierten Unterbau ist die Gewölbezone ohne weiteres Stützensystem aufgesetzt, Bernhard Schütz schreibt hierzu: “Hier verschneiden sich die Kalotten der Konchen und die Flachkuppel des Kernraums ohne jeden Gurt einfach nur mit einer Gratlinie, die dann der Stukkateur als Profilleiste hervorgehoben hat. Ohne ein konsequentes Stützen-Bogen-System ist die Wölbung wie von Hand aufmodelliert. Fischer rechnete von vornherein mit der Ausstattung und ließ ihr an der Decke ein ideales freies Feld.” Vor allem dieses Ineinanderfließen der Raumteile ist der Grund, weswegen St. Anna im Lehel die erste Rokokokirche in Altbayern genannt wurde: in dem bis dahin vorherrschenden italienisch-österreichischen Ovalkirchentypus war hingegen eine deutlich artikulierte Abgrenzung zwischen Unterbau und Kuppel üblich, meistens ein Tambour mit Gebälk. Hinzu kommt das Lichte und Leichte, das vor allem im Vergleich zur mehr oder weniger gleichzeitig entstandenen Asamkirche auffällt, die mit ihren Hell-Dunkel-Kontrasten und dem schweren, marmorierten und vergoldeten Ornat noch klar in der römischen Barocktradition steht. Trotzdem würde ich St. Anna insgesamt noch als spätbarock bezeichnen: die Asamsche Ausstattung besitzt noch keine Rokokoelemente (lediglich die wahrscheinlich erst um 1756 entstandene Kanzel von J. B. Straub) und rein architektonisch ist eine Unterscheidung zwischen Barock und Rokoko im altbayrischen Kirchenbau sowieso schwierig bis unmöglich, da sich die Charakteristiken des Rokokostils hier kaum architektonisch manifestierten (mit wenigen Ausnahmen wie der Wieskirche), sondern auf Dekoration und Ausstattung beschränkten.
Bernhard Schütz abschließend zur Architektur von St. Anna: “St. Anna im Lehel ist ein Musterbeispiel für Fischers Fähigkeit, mit modellierten Wand- und Wölbflächen zu arbeiten, denen die Pilaster und Pilasterpfeiler als Ordnungsmacht entgegengestellt sind. Die Flächen umschließen als Schalen den Raum, die Pilaster aber weisen den Zusammenhang vor, in welchem die Teile zu sehen sind.”
Was die Ausstattung betrifft, so überrascht die höfische Eleganz und Festlichkeit, die eigentlich einer Vorstadtkirche bzw. der Klosterkirche eines Eremitenordens unangemessen erscheint: nicht nur das große, aufwändige Deckenfresko, die elegant geschwungene Kanzel oder die insgesamt sieben reich geschmückten Altäre fallen dabei ins Auge, sondern vor allem auch das prächtige bayerisch-österreichische Allianzwappen über dem Altarraum, welches die Verbindung zwischen Kurfürst Karl Albrecht von Bayern und seiner Gemahlin Maria Amalia von Österreich symbolisiert. Der Grund für die reiche Ausstattung war die Förderung des Kirchenbaus seitens des kurfürstlichen Hauses als Votivkirche anlässlich der Geburt des Kurprinzen Max III. Joseph, weswegen Maria Amalia auch den Grundstein gelegt hatte.
Im 2. Weltkrieg brannte die Kirche nahezu vollständig aus und die Ausstattung incl. Fresken und Stuck wurde bis auf wenige Reste zerstört. Übrig blieben Teile der Seitenaltäre, Teile der Kanzel, die beiden Stuckfiguren der hll. Pius und Augustinus sowie der Tabernakel des Hochaltars. Die verlorengegangene Ausstattung wurde unter der Leitung von Erwin Schleich 1967-79 vollständig und originalgetreu rekonstruiert, wobei man die Leistung des Malers Karl Manninger besonders hervorheben muss: er rekonstruierte nicht nur die drei Asamschen Deckenfresken, sondern auch das Hochaltargemälde und das Altarblatt des hinteren linken Altars. Besonders das große zentrale Deckenfresko mit der Einführung der hl. Anna in den Himmel ist ihm herausragend geglückt und stellt vielleicht Manningers beste Arbeit in München dar. Auch insgesamt ist die Rekonstruktion der Ausstattung von St. Anna hervorragend gelungen und wirkt absolut authentisch und stimmig: auch neu entworfene Teile wie die Orgel von 1999 oder die teilweise neu ausgestatteten beiden mittleren Seitenaltäre fügen sich ohne stilistische oder qualitative Brüche ein.
Innenansicht vor der Zerstörung:
Weitere Innenansichten vor der Zerstörung:
- https://www.bildindex.de/document/obj20…m340409/?part=0
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Zustand nach der Zerstörung durch Brandbomben:
- https://www.bildindex.de/document/obj20…m202016/?part=0
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Zustand nach der ersten, rein konservierenden Instandsetzung (Foto von 1955):
Auf dem obigen Foto sieht man, wie traurig die Kirche aussehen würde, hätten sich danach nicht die traditionalistischen Kräfte um Erwin Schleich und Norbert Lieb durchgesetzt und die Innenausstattung komplett rekonstruiert.
Heute:
Zum Vergleich nochmal die Rückseite nach den Zerstörungen: https://www.bildindex.de/document/obj20…m202015/?part=0