Lübeck - Neubauten im Gründerviertel

  • ......

    Aber bei den Fenstern ist alles zu spät.

    Wobei es immer noch die Möglichkeit gibt, mit nachträglich außen aufgeklebten Sprossen eine Verbesserung herbeizuführen.

    Eine solche Maßnahme wäre allemal besser als das "Gegenstück" mit innenliegenden oder innenseitigen Sprossen, bei denen die Spiegelungen trotzdem vollflächig sichtbar sind.

    Man muss sich eben zwischen maximalem Lichteinfall und einer schönen Ansicht entscheiden.

  • Ich glaub gar nicht, dass Fenster hier was (zum Guten) ändern würden. Das sind einfach moderne Bauwerke, die man nicht auf "alt" trimmen sollte. Diese Fenster sind Teil des "Konzeptes", und sie zu ändern im Sinne würde wahrscheinlich zu unstimmigen Ergebnissen führen, wie auch der Einbau ungegliederter Fenster in Altbauten in erster Linie eine Unstimmigkeit darstellt.

    Die "Altstadtwirkung" dieses Viertels ergibt sich lediglich im Ganzen. Via "Nachbesserung" der Details ist da wohl nichts zu machen. Im Gegenteil - "alte Fenster" würden die "Altstadtuntauglichkeit" anderer Elemente, etwa der Glätte der Fassaden, nur noch mehr und über Gebühr herausstreichen. So wie es ist, passt es "irgendwie". Daran was zu ändern, in jede Richtung, kann gefährlich werden (dh in erster Linie in Banalität abdriften).

    Augustinus (354-430) - Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat
    14. Buch 9. Kapitel
    Der Staat oder die Genossenschaft der nicht gottgemäß, sondern nach dem Menschen wandelnden Gottlosen dagegen, die eben infolge der Verehrung einer falschen und der Verachtung der wahren Gottheit Menschenlehren anhangen oder Lehren der Dämonen, er wird von den bezeichneten verkehrten Gemütserregungen geschüttelt wie von Fieberschauern und Stürmen.

  • Bei den Häusern selbst war mein Eindruck, dass sie zwar respektvoll die Motivik der Altstadthäuser wiederaufnehmen, es bei den meisten Fassaden jedoch ein wenig an Ausdrucksstärke fehlt. Der lange Riegel an der Lederstraße/Einhäuschen Querstraße schien mir recht öde und von den Proportionen her völlig verunglückt:

    Der erste Satz trifft auf einige Häuser wie Fischstraße 16 und den Erninnerungsbauten sicher zu, aber bei den vielen einfachen Spitzgiebelhäusern, z.B. in der Alfstraße, sehe ich absolut nichts von respektvoller Wiederaufnahme der Motivik der Altstadthäuser. Das sind einfach moderne Entwürfe mit zu großen bodentiefen Fenstern die gerade einmal notgedrungen die in den Gestaltungsrichtlinien vorgegebene Materialtität und die im Bebeauungsplan festgelegte Kubatur erfüllen. Sonst scheren sie sich um nichts.

    Ja, der Riegel an der Einhäuschen-Querstraße ist wirklich furchtbar geworden. Das größte Problem ist das deutlich zu hohe Erdgeschoss, das noch viel höher ist als das der Vorderhäuser an Fisch- und Braunstraße. Das war in den ersten Visualisierungen auch noch ganz anders. Aus irgendeinem Grund wuchs sich das dann in der Ausführung zu dem jetzigen Monstrum aus. Ich vermute ja, dass die Tiefgaragenaufzüge den Platz nach oben brauchten und das EG deswegen höher werden musste. Aber das ist wie gesagt nur eine Vermutung. Vielleicht wollte man auch irgendwie mehr Fläche reinquetschen. Wir werden es wohl nie erfahren...

    Ich habe das Viertel zwar selber noch nicht gesehen, aber mir fällt auch anderswo immer wieder auf, dass passende (traditionelle) Naturstein-Bodenbeläge und die Abwesenheit von Autos sehr viel zur Wirkung eines Straßenzuges beiträgt. Man stelle sich diese Straßen also als verkehrsberuhigten Bereich ohne ruhenden PKW-Verkehr vor, sodass Kinder wieder auf der Straße spielen, die Leute vor ihren Häusern stehen, sitzen und klönen (so heißt das im Norden, glaub' ich ;) ) können, und zu diesem Zwecke ein paar private Blumenkübel, Bänkchen, etc. aufstellen, und das Ganze ohne Asphalt und Betonpflaster.

    Denn aus meiner Sicht ist die Architektur dort insgesamt schon stimmig, aber der öffentliche Raum und dessen Nutzung passen eben nicht dazu.

    Ist denn bzgl. Straßenbeläge noch eine Änderung geplant?

    Ja, Altstadtstraßen ohne Autos haben wirklich ein ganz anderes Flair. Das ist sehr gut in den Straßen zu erleben, die zu schmal zum parken sind wie z.B. in der Kleinen Petersgrube. Oder auch in der Hüxstraße, die zu verschiedenen Gelegenheiten hin und wieder autofrei ist. Leider lässt sich das aufgrund des allgemeinen Parkplatzmangels aber nicht altstadtweit durchsetzen.

    Und ja, Alf-, Fisch- und Braunstraße sollen noch erneuert werden. Das hätte auch schon längst passieren sollen. Aber vermutlich wird jetzt damit gewartet bis die restlichen Grundstücke bebaut sind, um die neuen Beläge nicht gleich wieder durch schwere Baufahrzeuge zu ruinieren. Wie die Straßen aussehen sollen, wurde meines Wissens nach noch nicht öffentlich vorgestellt, aber ich vermute, dass es so werden wird wie die gerade umgebaute Mengstraße, also mit geschnittenem Kopsteinpflaster auf der Fahrbahn und roten Pflastersteinen mit grauem Granitkleinpflaster auf den Gehwegen. Zumindest wäre es seltsam, wenn die anderen drei Straßen ganz anders werden würden:

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    Untere Mengstraße, Neugestaltung 2022. Foto von mir, Juni 2022

    Weitere Aufnahmen aus der nördlichsten der drei parallel verlaufenden Gründerviertelstraßen, der Alfstraße:

    Die Nordseite wurde in der Nachkriegszeit mit einem von der Straße zurückgesetzten Backsteinriegel bebaut, der mit Querflügeln bis zur früheren Straßenkante reicht.

    Das stimmt nicht. Zusätzlich zur unsäglichen Auflösung der historischen Bauflucht durch die kammartige Bebauung wurde die Alfstraße in diesem Bereich auch noch aufgeweitet. Selbst die Querflügel reichen nicht bis zur ehemaligen Bauflucht, sondern sind um die Breite des Gehweges, also wohl 2-3m, zurückgesetzt. Der historische Gehweg verlief auf der Fläche des heutigen Parkstreifens.

    Übrigens sieht man auf den Fotos ganz gut, dass Lübeck ein Problem mit seinen Gehweg- und Straßenbelägen hat. Gussasphalt auf Gehwegen mag praktisch sein, sieht aber billig, ja oft richtig schäbig aus. Auch die schönste Architektur wird dadurch beeinträchtigt.

    Ja, der Asphalt auf den Gehwegen in der Lübecker Altstadt ist vermutlich praktisch, aber vor allem ist er auch der überkommene historische Belag. Optisch ist er wirklich nicht schön, aber es war halt "immer" so. Daher tue ich mich mit anderen Belägen schwer wie z.B. auf dem obigen Bild der Mengstraße. Als alter Lübecker mutet es mir seltsam an, auch wenn es optisch sicher schöner ist. Hinzu kommt noch, dass eine Pflasterung, insbesondere bei den stark abschüssigen Straßen, z.B. durch Befahren im Laufe der Jahre"gerne" mal ins Rutschen kommt und dann aufwändig neu verlegt werden muss. In der unteren Hüxstraße ist das Gehwegpflaster inzwischen durch Befahren erheblich deformiert.

    Vielen Dank für die Photos aus der Alfstraße der Altstadt von Lübeck. Eine interessante Mixtur aus 50er-Jahre-Architektur an der Nordseite und postmoderner 2015er-Jahre-Interpretationen und Reko-Versuchen auf der Südseite der Alfstraße lässt sich dort entdecken. Auch dieses hatte ich mir auf meiner Entdeckungsreise Herbst 2022 angesehen. Und ich muss zugeben, dass mir die Nordseite der Straße besser gefällt. Die architektonische Gestaltung mag ja weniger altstadttypisch sein, aber sie wirkt irgendwie "gewachsener" als die in einem Wurf gebaute Südseite. Super finde ich den Mut zu Grüninseln zwischen den Zeilenbauten.

    Das kann ich nun gar nicht nachvollziehen. Da ist mir eine angepasste moderne Bebauung auf historischen Parzellen doch deutlich lieber als ein 50er-Jahre Wohnblock, der den historischen Stadtgrundriss komplett negiert. Ich hoffe, dass das Ding doch noch irgendwann wegkommt, auch wenn das wohl noch lange dauern kann. Das Grün kann meinetwegen in die Innenhöfe, aber wir sind hier in einer bedeutenden historischen Altstadt und nicht in einer Gartenbauausstellung.

    Lûbeke, aller Stêden schône, van rîken Êren dragestu de Krône. (Johann Broling, Lübecker Kaufmann und Ratsherr, um 1450)

  • Die Fensterhöhe und -größe im Erdgeschoß wurde in vielen Städten auch dadurch beeinflußt, ob das Haus und die Straße eine Geschäfts- bzw. Gewerbenutzung hatten oder ob es es eine reine Wohnstraße war. Im Kaufmannsviertel gab es die Handelshäuser mit hohen Fenstern und Geschäftsnutzung im Erdgeschoß, mit Kontoren und häufig auch einem Zwischenboden und einer meist beheizbarer Kammer/ Schreibstube ("Dornse"). In reinen Wohnstraßen in Lübeck und andernorts war das im Erdgeschoß keine Selbstverständlichkeit. Erdgeschosse könnten dort auch zu reinen Wohnzwecken gedient haben und hätten dann nicht unbedingt diese Fenster gehabt. Wenn es bei den Neubauten im Gründungsviertel nun solche großen Fenster gibt, dann kann es durchaus dem gewachsenen Milieu entsprechen.

  • Die Lübecker Politik hatte nicht den Mut, nach Dresdner oder Frankfurter Muster zu rekonstruieren, und die Stadt und Bürger zahlen nun den Preis, in dem sie dauerhaft mit einem mittelmäßigen Ergebnis leben müssen.

  • Kann man so sehen, muss man aber nicht. Im Unterschied zu den genannten Städten sind in Lübeck umfangreiche Alstadtviertel erhalten, sodass ein rekonstruiertes Altstadtgebiet nicht dieselbe Bedeutung wie dort hätte. Für Lübeck hätte, finde ich, das Potsdamer Muster mit einzelnen Rekonstruktionen besonders hochwertiger Häuser besser gepasst.

    Das Lübecker Ergebnis kommt mir immerhin doch etwas besser als nur "mittelmäßig" vor, aber darüber kann man natürlich verschiedener Auffassung sein. Manche Bilder sagen mir sogar recht zu, manche weniger.

    Augustinus (354-430) - Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat
    14. Buch 9. Kapitel
    Der Staat oder die Genossenschaft der nicht gottgemäß, sondern nach dem Menschen wandelnden Gottlosen dagegen, die eben infolge der Verehrung einer falschen und der Verachtung der wahren Gottheit Menschenlehren anhangen oder Lehren der Dämonen, er wird von den bezeichneten verkehrten Gemütserregungen geschüttelt wie von Fieberschauern und Stürmen.

  • Für Lübeck hätte, finde ich, das Potsdamer Muster mit einzelnen Rekonstruktionen besonders hochwertiger Häuser besser gepasst.

    Man hat rekonstruiert. Fischstraße 17. Braunstraße 18, Fischstraße 19, Fischstraße 24 und Fischstraße 7–9 sind nachempfunden.

    Aber grundsätzlich finde ich es schon sehr traurig, wie gerade hier über das Viertel abgeurteilt wird. Ich finde man sollte da den modernen Architekten die Hand reichen und motivieren, sich weiter in diese Richtung zu entwickeln. Dieses ständige in den Wind schlagen von Versuchen etwas anders zu machen (,,halbgar", etc.) hält uns in diesem teuflischen Kreislauf, bei dem es nur Extreme gibt. Moderne Archtekten, die sich nicht trauen klassischer zu bauen, und klassische Architekten, die in Nischen fristen, aus denen sie auch nur mit ganz stinknormal modernen Bauten kommen. Was diesen Versuchen hier fehlt ist etwas Übung. Dann klappt das auch immer besser.

  • Der älteste Teil einer Weltkulturerbe-Altstadt ist allerdings ein denkbar ungeeigneter Ort zum "üben".
    Das kann man gern in neueren Stadterweiterungen machen.

    Ansonsten sehe ich deinen Punkt und ergänze, dass der Austausch intensiviert werden muss. Das kann durch Sanierungs- und Rekonstruktionsprojekte genauso geschehen wie durch tradtionelle Neubauprojekte. Es wird halt doch Zeit für ein deutsches Poundbury, das die Besten zusammenbringt und anderen als Anschauungsmaterial dient.

  • Der älteste Teil einer Weltkulturerbe-Altstadt ist allerdings ein denkbar ungeeigneter Ort zum "üben".
    Das kann man gern in neueren Stadterweiterungen machen.

    Wir leben nun einmal in einer Realität in der die Neubauten mit dem höchsten Anspruch an die Gestaltung im direkten Umfeld von Altsubstanz entstehen. Würde man solche Neubauten nun geistig aus dem Kontext lösen und in ein anonymes Neubaugebiet weiter außerhalb versetzen, so würden die Jubelstürme wohl nicht mehr abbrechen. Man muss natürlich nicht begrüßen, was das letztlich heißt, nämlich, dass man in Deutschland kontextbezogen gerade so das allernötigste in die Gestaltung steckt, und damit eher den Durchschnitt an Gestaltungsqualität im Stadtraum im Vergleich zu vorangegangener Gestaltung langsam aber stetig senkt, aber mit ein paar aktuellen Spielregeln muss man eben arbeiten. Wir werden heute und morgen nicht dieses - auch ökonomisch bedingte - System umwerfen. Auch nicht mit einem deutschlandweit einzigartigen Projekt dann im Sinne eines Poundburys oder Jakriborgs.

  • Das Gesamtprojekt ist noch nicht fertiggestellt; und vermutlich dürfte es bisher auch noch nicht jeder von uns gesehen haben. Als Zwischenbilanz wird man vielen Fassaden gerne zugestehen, daß sie ambitioniert und wohlgelungen sind und oft auch in einer angemessenen, stadttypischen Traditionsfolge stehen, womit sie auf ihre Art etwas langjährig gewachsenes in die Zukunft hinein tragen. Die Rolle als Gründungsviertel und viele weitere Details beeinflussen andererseits ihre Gesamtwahrnehmung, so daß die zugegebenermaßen sehr hochgesteckten Erwartungen auch dazu führen, daß man den Fassaden bescheinigen muß, sie wären andernorts sicher eine sehr große Bereicherung gewesen; hier haftet ihnen trotz allem ein gewisser, zwanghafter Makel an, den sie an einem historisch unbelasteteren Ort nicht verdient hätten, dessen Wahrnehmung an einem anderen Ort sicher auch nie aufgekommen wäre.

    Es ist nun einmal, wie es ist. Und wie es ist, wird es realistischerweise auch bleiben. Es gibt in Lübeck noch viel anderes. Manche Spitzenergebnisse von Potsdam freilich werden den Beschauer in Lübeck ständig daran erinnern, daß es mit etwas gutem Willen sehr wohl auch anders geht. Es soll damit nichts schlechtgeredet, sondern nur etwas festgestellt werden.

  • Was diesen Versuchen hier fehlt ist etwas Übung. Dann klappt das auch immer besser.

    Ich verstehe es nicht. Bis ins frühe 20. Jahrhundert konnte jeder Maurermeister ein wohlproportioniertes Häuschen bauen - Ingnieure oder Architekten mit Hochschulausbildung wurden bei kleineren privaten Projekten nicht hinzugezogen.

    Heute schaffen Profis mit jahrelanger Ausbildung im Entwerfen in aller Regel trotz millionenfach vorhandener realer Vorlagen genau dies nicht. Weil ihnen "Übung" fehlt? Nein, weil man ihnen erfolgreich eingetrichtert hat, dass man die vormoderne Vergangenheit nicht einfach so bruchlos kopieren darf. Die millionste Kopie eines Kastens hingegen ist kein Problem.

  • Heute schaffen Profis mit jahrelanger Ausbildung im Entwerfen in aller Regel trotz millionenfach vorhandener realer Vorlagen genau dies nicht. Weil ihnen "Übung" fehlt? Nein, weil man ihnen erfolgreich eingetrichtert hat, dass man die vormoderne Vergangenheit nicht einfach so bruchlos kopieren darf. Die millionste Kopie eines Kastens hingegen ist kein Problem.

    Ich halte das für einen Irrtum. Das unterstellt, dass die Architekten hier sehr bewusst manches unattraktiver gestaltet hätten, es aber eigentlich besser könnten, was aber bereits in der Postmoderne sich anders dargestellt hat. Moderne Architektur macht es meinem Eindruck nach leichter, mit weniger Fähigkeit etwas (im modernen Sinne) Brauchbares zu schaffen. Einmal wird Disproportionalität als Werkzeug verkauft. So ist ein viel zu großer überhängender Gebäudeteil plötzlich eine ,,scheinbar schwebend leichte, aber kraftvolle Geste", alles scheinbar bewusst ,,mutig" und ,,ausdrucksstark", was dem gewillten Beobachter so unangenehm auffällt. Man verzichtet weitgehend auf Symmetrien, wodurch dem Beobachter entgeht, dass es viel zu wenig Gestaltung in der Fassade gibt. Je mehr Redundanz, umso eher durchschaut der Beobachter gestalterische Mängel und extreme Verarmung. Überhaupt, dieser Anspruch von Reduzierung: welche rein gestalterische Aufgabe ist komplexer: eine rohe Betonplatte mit Fensteröffnungen aus einem großen Element zu arrangieren, oder aber ein Fassadenrepertoire, bei dem bereits an einem Fenster kleine Säulen vielleicht das Motiv eines Eingangsportals wieder aufgreifen, bei dem eine Illussionsmalerei farblich abgestimmt eingebunden werden soll, oder einfach mal ein sechseckiger Erker proportioniert und gestaltet werden will. Zuletzt verzichtet man auch auf Symbiose. Man möchte immer für sich allein stehen, vielleicht sogar herausstechen. Es ist deutlich schwieriger sich einzupassen, in einen Ort einzufühlen, als nach Schema F sich abzusetzen, u.a. genau durch brachiale Massivität und Auflösung weiter Teile an Struktur. All diese modernen Entwurfstechniken waren hier im Viertel nicht oder kaum anwendbar.
    Noch kurz bezüglich realer Vorlagen: Kannst Du einen Van Gogh malen, wenn Du seine Bilder nur lange genug anschaust? Nein, Du wirst es üben müssen, und zwar ohne Ende, wie im übrigen die Vorlagen, wie ein Van Gogh selbst.

  • Ich verstehe es nicht. Bis ins frühe 20. Jahrhundert konnte jeder Maurermeister ein wohlproportioniertes Häuschen bauen - Ingnieure oder Architekten mit Hochschulausbildung wurden bei kleineren privaten Projekten nicht hinzugezogen.

    Heute schaffen Profis mit jahrelanger Ausbildung im Entwerfen in aller Regel trotz millionenfach vorhandener realer Vorlagen genau dies nicht. Weil ihnen "Übung" fehlt? Nein, weil man ihnen erfolgreich eingetrichtert hat, dass man die vormoderne Vergangenheit nicht einfach so bruchlos kopieren darf. Die millionste Kopie eines Kastens hingegen ist kein Problem.

    Ich verstehe es auch nicht, und die Frage, warum das so ist, lässt mich nicht los. Blickt man in der Baugeschichte der Menschheit sehr weit zurück, kommt man sogar zu dem Schluss, dass früher - also bis ca. 1960 - überall auf der Welt Schönheit selbstverständlich war. Auch uralte Tempel in Thailand, Japan, Mittelamerika, die unabhängig von den nahöstlich-ägyptisch-europäischen Anfängen der Baukunst entstanden sind, sind doch zu 100 Prozent ästhetisch überzeugend gewesen, und das ganz ohne institutionalisierte Ausbildung ihrer Architekten.
    Es muss also so etwas wie einen natürlichen menschlichen Schönheitssinn geben, nach dem auch ohne Ausbildung schöne Proportionen und Ornamente gestaltet werden können. Betrachtet man es so, kann die Erklärung für unser heutiges Desaster wohl nur sein, dass die Ausbildung der Architekten seit ca. 1960 den natürlichen Zugang zum angeborenen Schönheitssinn bzw dessen Anwendung auf die entworfene Architektur weitgehend verschüttet und zerstört. Und zwar so gründlich, dass es selbst für gutmeinende Architekten schwer wird, den Zugang zu ihrem natürlichen Schönheitssinn wiederzufinden und ihn anzuwenden, während Laien weiterhin auf Anhieb erkennen können, was schön und wohlproportioniert ist und was nicht.

    Man müsste analysieren, wie es so weit hat kommen können.
    Heute ist es so, dass die Reihenfolge beim Bauen für Architekten die Folgende ist: 1. Was ist die Bauaufgabe, wie ist mein Budget? 2. Wie mache ich einen Mindeststandard-Entwurf daraus, der alle inhaltlichen und rechtlichen Anforderungen erfüllt?
    Früher war es anders: 1. Was ist die Bauaufgabe, wie ist mein Budget? 2. Welches wäre die schönste Ausführung?

    Eingestellte Bilder sind, falls nicht anders angegeben, von mir

  • Weil ihnen "Übung" fehlt? Nein, weil man ihnen erfolgreich eingetrichtert hat, dass man die vormoderne Vergangenheit nicht einfach so bruchlos kopieren darf. Die millionste Kopie eines Kastens hingegen ist kein Problem.

    Ich würde behaupten, dass es im Zuge der Demokratisierung der Kunst vielen Architekten an elementarsten Fähigkeiten fehlt (und damit auch an Lehrern, die sie weitergeben könnten), die zu großen Teilen eben nicht einfach „lernbar“ sind wie ein Schnitzel zu kochen oder das Alphabet zu beherrschen. Die renommiertesten Architekten der Schweiz sind Herzog und DeMeuron. Ich habe mir mal den Spaß gemacht und nach Handskizzen von ihnen gesucht. Fehlanzeige, keine einzige. Entweder gibt es kaum welche oder sie schämen sich für die Ergebnisse. Wie will man also von jemandem, der nicht in der Lage ist, einen architektonischen Entwurf zu zeichnen (von den bildhauerischen Schmuckelementen mal ganz zu schweigen) erwarten, dass er es mit den Architekten vergangener Zeiten auch nur im mickrigsten Ansatz aufnehmen kann (Leo von Klenze und Schinkel waren beispielsweise neben der Architektur auch brillante Maler)? Die vorherrschende geometrische Strenge des Gros an Architekten ist ein Ersatz für sonstige handwerkliche Defizite. Anders gesagt: eine Gerade zu ziehen oder einen Halbkreis zu zirkeln ist wesentlich einfacher als einen künstlerisch anspruchsvollen Entwurf zu skizzieren. Die Anforderungen wurden also auf den kleinsten gemeinsamen Nenner heruntergefahren, so dass letztlich jedes Kleinkind, das nicht blind ist, theoretisch Gebäude entwerfen könnte. Wenn ich mir die überall sichtbaren „Werkbeispiele“ und voller Stolz eingereichten „Wettbewerbsbeiträge“ ansehe, erinnern mich die heutigen Anforderungen an Architekten zunehmend an diesen Schimpansen, dessen „Gemälde“ nicht mehr von moderner Kunst zu unterscheiden sind. Zumindest sehe ich das so.

  • Ich habe mir mal den Spaß gemacht und nach Handskizzen von ihnen gesucht.

    Und wo hast du das getan - im Hausmüll? Ich wüsste nämlich nicht, wo sonst man deren Skizzen finden sollte. Wenn das Büro mal aufgelöst ist und deren Entwürfe ins Museum gewandert sind, kann man nochmal suchen. Aber bis dahin...

  • Bei dieser Diskussion sehe ich das Problem, dass manche davon ausgehen, dass es ein unverrückbares Schönheitsideal gäbe. Das mag zwar für wenige Bereiche wie die Proportionslehre gelten, im Übrigen zeigt uns aber die Kunstgeschichte, dass dies eben nicht zutreffend ist. Im Barock waren Rubens-Frauen angesagt, heute treffen sie nicht mehr den Kern unseres Schönheitsempfindens. In der Romanik waren schwere Gliederungen aus Lizenzen und Friesen Ausdruck höchster Formvollendung. Heute würde kaum ein Mensch sein Haus so gestalten wollen. Kunst und Gestaltung unterliegt stets einem gewissen Zeitgeschmack. Heutige Architekten bauen nicht zwingend aus Unvermögen nicht ansprechend, sie empfinden ihre Architektur als schön oder zumindest zweckdienlich. Und wenn ihnen der Bauherr in diesem Punkt auch noch zustimmt, dann ist doch für den Architekten alles erreicht. Es gibt für ihn doch gar keinen Grund über alternative, vollkommen andersartige Gestaltungsmöglichkeiten nachzudenken. Ziel muss es also sein, deutlich werden zu lassen, dass es jenseits der Interessen von Architekt und Bauherr auch noch ein öffentliches Interesse des Durchschnittsbürgers gibt, der mit der entstandenen Architektur leben muss. Und es muss vermittelt werden, dass dieses Interesse sich häufig nicht mit dem deckt, was die Architekten da entwerfen.

    Kunsthistoriker, Historiker, Webdesigner und Fachreferent für Kulturtourismus und Kulturmarketing

    Mein Bezug zu Stadtbild Deutschland: Habe die Website des Vereins erstellt und war zeitweise als Webmaster für Forum und Website verantwortlich. Meine Artikel zu den Themen des Vereins: Rekonstruktion / Denkmalschutz / Architektur / Kulturreisen

  • Also wenn ich Bücher von oder über Architekten und deren Projekte lese, sind doch meistens auch die Entwurfsskizzen mit ihren ursprünglichen Ideen publiziert, direkt aus dem Skizzenbuch. Da laufend weniger Bücher gedruckt werden, sondern nur noch Internetseiten veröffentlicht werden, geht diese Gewohnheit leider verloren. Fragt mich nicht nach den Gründen, denn ich weiss sie selber nicht. Aber ich finde das schade.

    Die Skizzen meiner Semesterarbeiten und Diplomarbeit hüte ich immer noch :) Und sie bedeuten mir auch etwas.

  • Es ist so, wie tegula schreibt: diese Bauten haben eine andere, moderne Ästhetik. Anpassung an Kubatur und Dimension sowie an die engen Gassenfluchten des Mittelalters sowie ein Verzicht auf ausgesprochene Modernismen waren der einzige Tribut an die Vergangenheit. Das kann man kritisieren oder als dem Zeitgeist oder dem Heute geschuldete Selbstverständlichkeit abtun. Den Architekten "handwerkliche Fehler" oder "mangelndes Formempfinden" zu unterstellen, nämlich ausschließlich im Hinblick auf frühere Stile, halte ich für kühn oder besser sogar verfehlt. Gerade eine gewisse Qualität im Formempfinden hebt diese Häuslein deutlich gegenüber der Wiederaufbautristesse hervor, wie auch ein Blick auf die leider übriggebliebenen Exemplare dieser architektonisch so unseligen Zeit hinlänglich beweist (deren Wertschätzung offenbar bei einigen hier, wenngleich eher südlichere Gefilde betreffend, hinsichtlich des Nordens ist man erfreulicherweise da angemessen kühl-sachlich, so etwas wie eine Renaissance erfährt).

    Man hat rekonstruiert. Fischstraße 17.

    Na komm...

    Augustinus (354-430) - Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat
    14. Buch 9. Kapitel
    Der Staat oder die Genossenschaft der nicht gottgemäß, sondern nach dem Menschen wandelnden Gottlosen dagegen, die eben infolge der Verehrung einer falschen und der Verachtung der wahren Gottheit Menschenlehren anhangen oder Lehren der Dämonen, er wird von den bezeichneten verkehrten Gemütserregungen geschüttelt wie von Fieberschauern und Stürmen.

  • ursus carpaticus Dann sind das für dich formvollendete ästhetische Bauten? Bzw. wenn es denn dem Zeitgeist entsprechen sollte, derartige Ästhetik, wo sind die Jubelstürme aus der Breite der Bevölkerung, die diesen Zeitgeist ja scheinbar so trägt, wie es tegula am Beispiel des Schönheitsideals vergleicht?
    Ich finde man kann nicht sich auf einen Zeitgeist stützen, der so von den meisten Menschen gar nicht gelebt wird. Zeitgeist hat immer etwas mit Masse zu tun, und ich sehe überhaupt keine massenhafte Umsetzung von solch einer Gestaltung.
    Insofern muss ich davon ausgehen, dass sehr wohl hier entscheidende Dinge anders gemacht wurden, und man nicht einfach sagen kann, das ist einwandfreie zeitgeistige Ästhetik, ,,die sieht halt so aus", haben die Architekten alles genau so gemacht wie immer, werden sich auf jeden Fall vollends zufrieden zurücklehnen mit ihrem Werk und sagen, das war mal wieder eine Glanzleistung. Wir werden es vermutlich daran sehen, wie viel Preise es vom BDA dafür regnen wird :wink:
    Stattdessen könnte man auch einfach zugestehen, dass die Architekten sich hier ein bisschen vorgewagt haben aus der Komfortzone, und entsprechend eben die Unerfahrenheit durchaus Spuren hinterlässt. Aber nee, das sind Fachkräfte, die brauchen keine Übung. Weiter oben hieß es ja, dass jeder Maurermeister das konnte. Wollen nur alle heute nicht mehr... völlig logisch.