Vielleicht ist auch das ein Grund, warum man den Historismus nicht rekonstruieren möchte, da der Historismus Massenware war.
Das ist genau das, was ich zu erläutern versuche. Die lange Ablehnung des Historismus und die vergleichsweise Geringschätzung gegenüber anderen Epochen sind ja nicht im luftleeren Raum entstanden, sondern haben Gründe. Ob man diese Ansichten teilt, steht auf einem anderen Blatt. Es geht mir um Nachvollziehbarkeit, nicht um Überzeugung.
Da stellt sich die Frage, kann Massenware Kunst sein? Meiner Meinung nach ja. Ob Handwerk oder Kunst in der Industrie, beides kann kreativ und anregend sein.
Sicher kann Massenware Kunst sein, jedoch mit einem anderen Anspruch - weg von der individuellen Schöpfung, hin zu ästhetischen Standards.
Ich hätte jetzt bei der Beurteilung der Wertigkeit angenommen, dass der Maßstab in beide Richtungen, also zurück und vorwärts in der Architekturgeschichte, kohärent sein sollte. Also sprich, dass eine Gestaltung als wertvoll oder weniger wertvoll betrachtet werden kann unabhängig von epochalen Umbrüchen.
Mir geht es gar nicht primär um Wertigkeit. Wenn ich aber verdeutlichen möchte, wie epochal die Veränderungen dieser wenigen Jahrzehnte waren, muss ich aufzeigen, wie anders das Baugewerbe über Jahrhunderte, ja sogar Jahrtausende funktionierte. Daran anknüpfend versuchte ich - und das ist mir hier offensichtlich noch nicht ausreichend gelungen - aufzuzeigen, dass die Folgen dieser Veränderung weit über den engen Rahmen der Architektur gingen. Die Baukunst (die Betonung liegt hier auf der Kunst) musste sich neu definieren (daraus erwuchsen Reformbewegungen), ganze Berufszweige starben aus (und neue wurden geboren), der Städtebau nahm einen ungeahnten Aufschwung, wodurch sich ganz neue Stadtlandschaften bildeten und die Wohnbedingungen ganzer Bevölkerungsschichten veränderten. Kurzum: Die industrielle Fertigung von Baumaterialien ist nicht nur in diesem gesellschaftlichen Kontext zu sehen, sie befeuerte auch die gesellschaftliche Wandlung.
Ich sehe da also eigentlich keine Verdrängung von Kunsthandwerk, selbst wenn gewisse Bausteine nun vorgefertigt waren.
Diese Beschreibung der Veränderungen kratzt meiner Ansicht nach nur an der Oberfläche und reicht nicht aus, um den Umbruch zu umschreiben. Vorgefertigte Bausteine gab es auch schon im Mittelalter, wie ich weiter oben erläuterte. Entscheidend ist, dass bestimmte Bauelemente, ja sogar der Backstein als Baumaterial selbst, in weitgehend unbegrenzter Menge und vor allem - und das ist für den Fassadenstuck so entscheidend - in immer gleichbleibender Qualität, in immer identischer Ausführung, sehr günstig und ohne entsprechenden Fachkräfte verfügbar war. Ich will es mal profan ausdrücken: Dadurch konnte man nun bauen, bis der Arzt kommt: Industrielle, Geldbürgertum, Unternehmer. Bauherren waren jetzt nicht nur die Aristokratie oder wie früher die Kirche. Gebaut wurde ästhetisch anspruchsvoll, aber durch die schiere Menge und Verfügbarkeit von Geld und Baustoffen auch auswechselbar.