Osterwieck (Galerie)

  • Weiter geht's mit dem zweiten Teil der großen Harz-Tour. Heute steht Osterwieck (Landkreis Harz) auf dem Programm, die große Schwester von Hornburg, nur zehn Kilometer entfernt, Hornburgs Partnerstadt und bis 1941 zusammen mit dieser im Landkreis Halberstadt gelegen.

    Ich wollte mich eigentlich zu Fuß von Hornburg nach Osterwieck begeben, habe mich dann aber etwa auf der Hälfte der Wegstrecke, nach knapp einer Stunde Wanderung bis zum Dorf Rimbeck, entschieden, den Rest der Strecke doch mit dem Bus zu fahren. Unterwegs ist mir folgender Haufen an Betonblöcken am Straßenrand aufgefallen. Reste der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze?

    Ansonsten war vom Grenzverlauf absolut nichts mehr zu erkennen - mal abgesehen vom Schild "Willkommen im Landkreis Harz" am Straßenrand, das die Grenze zwischen Niedersachsen und Sachsen-Anhalt markierte. Wie gesagt bin ich in Rimbeck in den Bus eingestiegen. Das Dorf hat eine nette Barockkirche, die aber leider verschlossen war.

    Ich bin nicht direkt bis Osterwieck gefahren, sondern in Lüttgenrode ausgestiegen und die letzten zwei Kilometer zu Fuß gegangen. In Lüttgenrode befand sich nämlich bis zum 30-Jährigen Krieg ein Kloster. Die Klausurbauten sind schon lange verschwunden, aber laut meinem Dumont-Reiseführer Harz von 1993 (einen aktuelleren gab's in der Stadtbücherei leider gerade nicht) steht die Klosterkirche St. Stephanus mit ihrem markanten Doppelturm noch. Es handele sich um eine einschiffige flach gedeckte romanische Hallenkirche, die im Inneren noch eine Nonnenempore aufweise, sagte der Reiseführer. Allerdings stand dort auch der Hinweis, dass die Kirche in ihrer Substanz aufgrund der jahrzehntelangen Vernachlässigung stark gefährdet sei. Nur wie gesagt, das war 1993. Also war ich gespannt, ob die Kirche inzwischen saniert sei. Von weitem machten die Türme jedenfalls schon mal einen ordentlichen Eindruck.

    Aus der Nähe betrachtet kam dann jedoch der Schock:




    Das Dach war verschwunden, ein Großteil der Südseite des Langhauses niedergelegt, die Nordseite war abgestützt und wirkte nach wie vor einsturzgefährdet und auch der Chor war offenbar etwas aus dem Lot geraten.

    Ein Schild wies darauf hin, dass die Ruine des Kirchenschiffs 2006 gesichert wurde und zeigte auch einen Längsschnitt durch die Kirche, mit einer beeindruckenden Westkrypta. Die war aber leider völlig zugemauert, sodass ich im Inneren des Kirchenschiffs (das durch einen Bauzaun abgesperrt war) nicht auf Erkundungstour gehen konnte.



    Säulenkapitell gefällig? Das lag einfach auf der Wiese neben der Kirche. Man hätte es einfach einsacken können - vorausgesetzt man ist stark genug.

    Eingestürzte Scheune direkt an den Türmen der Kirche:

    Mit etwas getrübter Stimmung machte ich mich auf den Weg nach Osterwieck. Schon von weitem sah ich die durchaus beeindruckende Stadtsilhouette, aus der die Pfarrkirche St. Stephani dank ihrer westwerkartigen romanischen Doppelturmfront besonders heraussticht.

    Osterwieck ist durchaus mit Hornburg vergleichbar, jedoch mit einigen Unterschieden. Zum einen gibt's deutlich mehr historistische Überformungen (vor allem am Marktplatz), auch wenn die sich im Gegensatz zu größeren Städten wie Quedlinburg in Grenzen halten. Außerdem sind die Folgen des Stadtbrands von 1884, der vor allem den südöstlichen Teil der Stadt getroffen hatte, nach wie vor klar erkennbar. Und nicht zuletzt hat die Verwahrlosung der Bausubstanz in DDR-Zeiten (mit fast 40 abgerissen Fachwerkhäusern, knapp die Hälfte davon erst in den Achtzigern) doch einige Wunden in der Stadt hinterlassen, die noch lange nicht alle geheilt sind. Durch diese drei Faktoren (Stadtbrand, Historismus, Abrisse) ist das Stadtbild heute leider nicht mehr so geschlossen wie in Hornburg, doch der Anteil der Fachwerkbauten ist nach wie vor beeindruckend, ebenso wirken die Gebäude selbst teils deutlich größer und weniger provinziell als in Hornburg.

    Noch ein paar Zahlen, bevor wir uns den Bildern zuwenden. Osterwieck hat heute knapp 3800 Einwohner, weniger als im Jahre 1880 (um 1950 waren's noch etwa 6000 Einwohner). Von den 376 Fachwerkhäusern in der Altstadt stammen 13 aus der Zeit vor 1530, 113 aus der Zeit zwischen 1531 und 1620 (das sind 30 Prozent!), 62 aus der Zeit bis 1720, 100 aus der Zeit bis 1830 und 88 aus der Zeit ab 1831. Damit lässt Osterwieck, was Fachwerk vor dem Dreißigjährigen Krieg angeht, nicht nur prozentual gesehen die Städte Quedlinburg, Stolberg und Wernigerode hinter sich (alle drei Städte haben nur 4-12 Prozent ihrer Fachwerkbauten aus dieser Zeit, Osterwieck exakt ein Drittel), sondern auch absolut. Selbst Quedlinburg besitzt nur noch 81 Fachwerkhäuser aus der Zeit vor 1620.

    So, nun aber genug Statistik. Am besten nähert man sich der Stadt von der Schulzenstraße her, denn das ehemalige Schulzentor lässt sich nach wie vor gut erahnen. Und direkt hinter der Torgasse mit ihren barocken Sandsteinfiguren befindet sich auch noch ein Rest der Stadtmauer sowie Reste des Tores selbst (vermute ich zumindest), wie man erkennt, wenn man sich auf den Wall begibt:




    Geht man die Stadtmauer entlang, gelangt man in die Vogtei, wo wir eine alte Bekannte wiedersehen: Die Ilse, beziehungsweise abermals einen abgezweigten Kanal von ihr namens Mühlenilse.

    Bis auf ein Haus ist hier alles gut saniert. Vor allem das ehemalige Hospital St. Bartolomäus wirkt sehr stattlich (man beachte den massiven Brandgiebel):





    Im Hagen ist der Eindruck jedoch schon etwas getrübt. Hier stehen einige Häuser, bei denen dringend Handlungsbedarf besteht - wobei ich die vielen bereits sanierten Bauten natürlich nicht außer Acht lassen will. Dadurch wird der Kontrast zu den verfallenden Häusern jedoch noch verstärkt. Und der Zustand mancher unbewohnter Häuser ist schon erschreckend.





    Das Haus Hagen 45 (ehemaliges Diakonat) fällt vor allem durch seine Giebelständigkeit auf. Damit erinnert es eher an ostwestfälische Bauten als an südniedersächsische. Obwohl auch hier wieder auffällt, dass der Giebel nicht komplett verziert ist, sondern nur im ersten Geschoss.

    Am Ende des Hagen, dort wo er in Richtung Kapellenstraße abknickt, steht eines der traurigsten Beispiele der Stadt, das trotz seiner Verwahrlosung noch immer beeindruckende Haus Hagen 21/22 von 1580. Besondere Sorgen macht mir das teilweise abgedeckte Dach im rechten Hausteil, zumal es nicht so aussieht, als wäre das erst seit gestern abgedeckt.





    Weiteres durchlöchertes Dach (von einem Haus in der Kapellenstraße - von welchem hab ich aber nicht rausfinden können):

    Biegt man am Ende des Hagen in die Kapellenstraße ein, blickt man auf das zweitälteste bekannte Haus der Stadt (dendrochronologisch auf 1453 datiert, noch mit gotischem Treppenfries an der Giebelseite. Die Fassade zur Kapellenstraße wurde später erneuert.


    Und wo wir schon mal dabei sind: Kapellenstraße 34 wurde auf 1450 datiert (links, noch mit angeblattetem Fußband):

    Blick in die Kapellenstraße Richtung Osten, rechts eine Abbruchlücke:

    Blick in die andere Richtung. Der Schlecker rechts ist ein Neubau aus den Neunzigern, der eine DDR-Baulücke schließt. Meiner Meinung nach ganz okay. Der Bau fügt sich gut in die Bebauung ein, ohne groß historisierend zu wirken. Traurigerweise war der Schlecker eines von wenigen Ladengeschäften in der Straße, die nicht leer standen:

    Gegenüber fließt die Mühlenilse unter einer Scheune hindurch, bei der man offenbar mit einer Sanierung begonnen, diese jedoch nicht fertiggestellt hatte:


    Schön saniertes Haus mit gleich zwei Schaufassaden. Die Autos im Vordergrund parken übrigens dort, wo ehemals die Hofbereiche der oben erwähnten abgerissenen Häuser lagen:


    Durch die Stobentwete geht es, vorbei an einem leerstehenden Renaissance-Fachwerkhaus...

    ... in die Mittelstraße, in der man unvermittelt vor einer frischen Baulücke steht. Laut Denkmalverzeichnis von 1994 stand dort ein verkleidetes Fachwerkhaus aus der Zeit um 1600. Offenbar war es nicht mehr zu erhalten. Hoffentlich wird die Baulücke wieder angemessen geschlossen.

  • In der Mittelstraße gibt es viele weitere schöne Fachwerkbauten, leider oftmals leerstehend (gerade auch die Läden im Erdgeschoss). Insgesamt wirkt die Straße, ebenso wie die Kapellenstraße, recht unbelebt und trostlos, trotz der teils sanierten Häuser:












    Die historistischen Ladeneinbauten haben ja durchaus noch ihren Charme, der folgende DDR-Umbau ist jedoch eine Katastrophe (nicht, dass es so was im Westen nicht auch gegeben hätte - ich sag nur Hameln) - wobei die Leuchtreklame fast schon Denkmalwert hat:

    Es tut sich was:

    Die Häuser Mittelstraße 23-25 (allesamt aus dem späten 16. Jahrhundert) wurden noch in den 80ern abgerissen. Nummer 23 und 24 wurden durch diesen relativ unauffälligen Neubau ersetzt...

    ... Nummer 25 jedoch durch einen hitorisierenden Bau mit Fachwerkvorblendung. Ob dies noch zu DDR-Zeiten oder erst nach der Wende geschah, weiß ich allerdings nicht:


    Am Ende der Mittelstraße treffen die Rosmarinstraße, die Neukirchenstaße und die Tralle aufeinander. Dort blicken wir auf dieses bemerkenswerte Haus, das an der einen Seite Fächerrosetten zeigt, an der anderen jedoch Arkadenbrüstungen. Es entkam übrigens nur knapp dem Brand von 1884, der das Quartier zwischen Tralle und Rosmarinstraße fast völlig zerstörte.

    Direkt daneben steht eines der schönsten Häuser der Stadt - aber auch gleichzeitig eines der traurigsten Beispiele für die Verwahrlosung in den letzten Jahrzehnten. Es handelt sich um das ehemalige Gasthaus "Zur Tanne", das aus zwei Gebäudeteilen besteht. Die Durchfahrt ist vermutlich der älteste Teil. Sie entstand um 1500. Das Hauptgebäude wurde 1614 erbaut und zeigt schöne Beschlagwerkbrüstungen. Es wurde wohl von Anfang an als Gasthaus erbaut:







    Die Rückseite sieht noch übler aus. Offenbar hat man dort auch (schon vor längerer Zeit) ziemlich unsachgemäße Sicherungsmaßnahmen durchgeführt:

    Noch übler sieht's allerdings bei dem Haus aus, das wiederum daneben steht:

    Und von vorne (mit beeindruckendem historistischem Umbau):

    Auf der anderen Straßenseite stehen Neubauten aus der Zeit nach dem Stadtbrand. Das Ladenlokal der "Pizzaria" war übrigens auch ungenutz.


    Schöne historistische Fachwerkbauten in der Tralle:

    Die Häuser Tralle 1 und 2 wurden Anfang der 80er abgerissen. Nach Vorgabe der Denkmalpflege sollten die Fassaden der beiden Renaissancefachwerkhäuser den Neubauten wieder vorgeblendet werden. Dies geschah jedoch nur in den Obergeschossen, und bei Tralle 2 auch nur zum Teil, da die Fassade des alten Hauses während des Abbruchs einstürzte und einige der Hölzer zerstört wurden. Das ist sicher kein idealer Umgang mit der alten Bausubstanz, aber immer noch besser als wenn die alten Zierhölzer einfach entsorgt worden wären:


    In der Schützenstraße hat nur ein Haus aus dem 16. Jahrhundert den Stadtbrand von 1884 überlebt. Dafür aber ein sehr schönes:


    Am Ende der Schützenstraße steht zum Markt hin dieses Eckhaus aus dem späten 17. Jahrhundert, das jedoch Anfang des 20. Jahrhunderts stark umgebaut wurde, vor allem durch die Abrundung der Ecke. Es haben sich jedoch interessante Balkenköpfe erhalten:


    Der Marktplatz zeigt Häuser aus den verschiedensten Zeiten. Im Mittelpunkt steht das Gerichtsgebäude aus dem 18. Jahrhundert, auf der anderen Straßenseite das neue Rathaus, das nach dem Stadtbrand entstand:




    Das alte Rathaus, im Kern ein spätgotischer Steinbau, steht eher am Rande des Marktes. Es wurde in der Renaissance durch einen Erker ergänzt und bekam im Barock teils neue Fenster. Ich kenn mich mit der Baugeschichte des Gebäudes nicht aus, hab aber das Gefühl, da fehlt an der Schauseite ein ehemals vorhandener Zwerchgiebel, da sie bis auf den Erker auffällig schlicht wirkt. An der Rückseite befindet sich ein Treppenturm:



    Neben dem Rathaus gibt es einen Durchgang zum Stephani-Kirchhof:

    Die Kirche stammt aus verschiedenen Phasen. Der Chor ist spätgotisch, das Kirchenschiff stammt größtenteils aus der Renaissance und die mächtig wirkende Doppelturmfront noch aus dem frühen 12. Jahrhundert. Leider war sie nicht geöffnet, sodass ich sie nur von außen fotografieren konnte:



    Rund um die Kirche befinden sich schlichte Fachwerkhäuser:

    Über den Kirchhof gelangt man in die Schulzenstraße. Dort stehen zwei der bedeutendsten Fachwerkhäuser der Stadt. Das eine ist das Haus Schulzenstraße 3, die alte Vogtei. Es zeichnet sich zum einen dadurch aus, dass es als einziges Haus der Zeit vor dem 19. Jahrhundert (neben dem Rathaus) ein massives Erdgeschoss mit Vorhangbogenfenstern besitzt, zum anderen aber dadurch, dass es im Jahre 1533 erbaut wurde und schon Fächerrosetten besitzt und damit eines der ältesten Häuser überhaupt mit dieser Zierform ist, was auf gute Verbindungen nach Braunschweig und Halberstadt weist, wo die Fächerrosetten erst kurz zuvor (ich glaube 1532 in Halberstadt) das erste Mal überhaupt auftraten:


    Und wo wir gerade bei Braunschweig sind. Das Haus Schulzenstraße 8, das einzige Haus mit figürlichen Schnitzereien in Osterwieck, wurde 1534 erbaut, wahrscheinlich vom Braunschweiger Simon Stappen:



    Nebenan gibt's wieder Arkadenbrüstungen:

    Damit mache ich erstmal eine kleine Pause. Die restlichen Bilder folgen morgen. Dann geht's in die Straße Sonnenklee, die Neukirchenstraße, die Nikolaistraße (samt Nikolaikirche), die Rössingstraße (mit ehemaligem Adelshof), die Straße Wietholz und den restlichen Teil der Kapellenstraße.

  • Danke für die Bilder! Ich hoffe wirklich, dass die letzten Häuser gerettet werden. Wenn man die Häuser nicht retten kann, sollte man sie nach Braunschweig verkaufen. Wäre das nicht eine Idee? Schade, dass ausgerechnet der Harz besonders vom Bevölkerungsrückgang getroffen ist.

    Ich haber übrigens mit einem Dänischen Architekten vor ungefähr 10 Jahren gesprochen. Er war kurz nach der Wende für die Sanierung der Osterwiecker Altstadt zuständig und bekam damals mehr oder wenig freie Hände. Es war wirklich ein Traumjob für ihn gewesen.

    Wie viele der Häuser sind jetzt saniert? 50 %?

    Unsere große Aufmerksamkeit für die Belange des Denkmalschutzes ist bekannt, aber weder ökonomisch noch kulturhistorisch lässt es sich vertreten, aus jedem alten Gebäude ein Museum zu machen. E. Honecker

  • Wann ist denn die Kirche in Lüttgenrode eingestützt?
    1992 war es jedenfalls schon eine Ruine.

    http://www.bildindex.de/bilder/MI12560g14b.jpg
    http://www.bildindex.de/bilder/MI12561a05b.jpg

    Ich finde es auch immer wieder schockierend, wenn man in kleinere Ost-Städte kommt, was dort einerseits für hohe Qualität noch unsaniert, verlassen, verfallen, ungesichert, steht, andererseits daneben kaputt-sanierte Altbauen in Baumarktqualität. Irgendwie menschenleer sind die Ort fast immer.

  • Danke für die ausführlichen und bestens kommentierten Bildserien zu diesen beiden Schmuckstücken. Insgesamt gesehen steht dort noch erfreulich viel aus der Zeit vor 1600.

    Bin auch schon mehrfach in dieser Gegend gewesen und war zuletzt im September 2003 u.a. in Hornburg, Osterwieck und Goslar (Osterwieck hatte ich übrigens auch in der engeren Auswahl bzgl. hier einstellen und schon einiges an Dias eingescannt). Seinerzeit war dort in Osterwieck auch kaum wer auf den Straßen unterwegs, dafür traf ich aber erstaunlicherweise Leute aus München.
    Städte mit niederdt. Fachwerk fand ich immer schon ganz besonders reizvoll und fotogen (andererseits leide ich entsprechend in Hildesheim, Halberstadt und Braunschweig heutzutage wie kaum irgendwo anders, von Nürnberg, Augsburg oder München mal abgesehen...)

    Seit damals (2003) wurde u.a. das Eulenspiegelhaus und Hagen 3 renoviert, an die Lücke neben Mittelstr. 17 kann ich mich irgendwie nicht erinnern, ansonsten hat sich offensichtlich nicht allzuviel verändert, das ehem. Gasthaus zur Tanne dämmert (erwartungsgemäß, bin mal gespannt auf den "Bunten Hof") leider auch noch auf Renovierung wartend vor sich hin.

    Zitat von "Maxileen"

    Direkt daneben steht eines der schönsten Häuser der Stadt - aber auch gleichzeitig eines der traurigsten Beispiele für die Verwahrlosung in den letzten Jahrzehnten. Es handelt sich um das ehemalige Gasthaus "Zur Tanne", das aus zwei Gebäudeteilen besteht.

    Ich weiss nicht, was du an Literatur zu Osterwieck besitzt, im Stadtführer von Theo Gille steht zu diesem Haus übrigens einiges dazu, u.a. wer die letzte Gastwirtin nach dem Krieg war und das das Haus seitdem leer steht und "wenn die Denkmalpfleger nicht immer wieder Sicherungs- und Instandsetzungsarbeiten vorgenommen hätten, wäre das Haus wohl nicht mehr zu erhalten."
    Ansonsten steht dort noch in Bezug auf denkmalpflegerische Arbeiten, das 1978 zur Durchführung von Sicherungsmaßnahmen die Brigade Wiegmann gegründet wurde (die nach der Wende aufgelöst wurde), bestehend aus 6 Mitgliedern, die verschiedene Gewerke beherrschten und schon aufgrund der zahlenmäßigen Stärke nicht in der Lage sein konnten, bei dem teilweise katastrophalen Zustand vieler Gebäude allviel zu bewirken. Durch diese Brigade wurde aber aber u.a. neben dem Schäfers Hof auch das Gasthaus zur Tanne 1980 und 1989 im Bestand gesichert (u.a. hing der Dachstuhl in der Luft, die Hauswand zum Hof neigte sich um etwa 70cm und morsches Gebälk wurde ausgetauscht). Bleibt zu hoffen, das dort und anderswo doch irgendwann mal wieder jemand einzieht (wenn auch da sicherlich nicht viel dafür spricht)...

  • Schönes Dorf ! Und manche Einwohner scheinen Außergewöhnliches zu mögen, wie etwa das Fachwerkhaus mit Dachziegel an der Fassade. Wieso eigentlich nicht ? :gg:

  • Däne: Ich schätze mal, es sind etwa zwei Drittel der Häuser inzwischen saniert. Problematisch sehe ich es, dass es oftmals die besonders großen Häuser sind (Gasthaus "Zur Tanne", mehrere Häuser an der Kapellenstraße, der Bunte Hof), die noch nicht saniert wurden, was wohl vor allem daran liegt, dass sich erstmal ein Investor finden muss, und vor allem was den Bunten Hof angeht, ist es schwer, auch eine angemessene Nutzung zu finden, ohne dass das Haus gleich völlig umgebaut wird. (mehr zum Bunten Hof kommt noch).

    Leipziger: Tja, gute Frage, wann die Kirche eingestürzt ist. Wenn sie schon 1992 Ruine war, scheint der Dumont-Reiseführer von 1993 da auch schon überholt zu sein.

    Markus: An Literatur habe ich vor allem das Denkmalverzeichnis für den Landkreis Halberstadt von 1994 und das Buch "Die Fachwerkstadt Osterwieck" von 1998 zurate gezogen.

    Oliver: Dachziegel an der Fassade gibt's öfters, vor allem im Giebelbereich. Beim schnellen Durchschauen der Fotos ist das bei mindestens 30 Häusern in Osterwieck der Fall.

  • Wie versprochen geht's jetzt weiter mit der Straße, die auf den schönen Namen Sonnenklee hört. Dort gibt es wieder ein giebelständiges Haus mit Arkadenbrüstungen an gleich drei Seiten der Fassade:

    Rest einer Scheune (?) in der Schulzenstraße, der jetzt als Grundstückseingrenzung genutzt wird:

    Das spätgotische Haus Schulzenstraße 11 entstand um 1520:

    Baulücke am Sonnenklee, hinter dem leer stehenden Haus befinden sich Reste der Stadtmauer.



    Ähnlich wie in Hornburg sind auch in Osterwieck die Straßenlaternen schön anzusehen:

    Geschlossene Reihe von Fachwerkhäusern des 19. Jahrhunderts in der Gartenstraße im Bereich der ehemaligen Stadtmauer:

    Bisher noch verhülltes Fachwerkhaus von 1598 aus der Sackstraße:


    An der Straßenecke Sonnenklee / Sackstraße wurde nach dem Stadtbrand von 1884 Platz für eine große Bürgerschule frei.

    Einige frisch sanierte Fachwerkhäuser im Sonnenklee...

    ...und einige unsanierte. Besonders das Haus Sonnenklee 33 von 1698 ist bemerkenswert, weil es sich mit seinen Andreaskreuzen ganz klar an mitteldeutschen Fachwerkzierformen orientiert und nicht mehr an niederdeutschen. Dies ist sehr typisch für die Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg in dieser Region und ist vor allem auch in Quedlinburg zu beobachten (dort gibt es sogar Häuser mit Thüringer Leiter im Brüstungsbereich des Oberstocks):




    Die Nikolaistraße und die Neukirchenstraße grenzen den Bereich einer spätmittelalterlichen Stadterweiterung mit der Nikolaikirche im Zentrum ein. Zuerst ein paar Bilder aus der Nikolaistraße und von der Nikolaikirche, einer gotischen Saalkirche, deren Langhaus jedoch im 16. Jahrhundert durchgreifend verändert wurde. Der Turm stammt noch aus dem 13. Jahrhundert. Auch die Nikolaikirche war leider verschlossen:






    Das passiert, wenn man trennt, was eigentlich zusammengehört:

    In der Neukirchenstraße gibt es dieses schöne Renaissance-Fachwerkhaus mit 16 Gebinden Länge:

    Ein bisschen Historismus mit einer Mischung aus Harzer (Verbretterung) und Schweizer (Schwebegiebel) Stil:

    Das Haus Neukirchenstraße 19/20 zeigt ungewöhnlich tiefe Schiffskehlen an der Oberstockschwelle und den Füllhölzern:

    Noch ein sehr schönes Haus aus der Neukirchenstraße:

    An der Mauerstraße befindet sich eine weitere Schule aus dem späten 19. Jahrhundert:

    Direkt gegenüber, in der Rosmarinstraße, liegt der Bunte Hof, ein 1579 errichteter Adelshof, der ehemals drei Flügel umfasste. Der linke Flügel wurde bereits um 1900 abgebrochen, wobei auch der dazugehöriger Treppenturm verschwand, der rechte Flügel, an den noch erhaltenen Treppenturm, wurde in den 50ern oder 60ern abgerissen, sodass heute nur noch der Hauptflügel erhalten ist. Immerhin hat man beim Abbruch des rechten Flügels die Zierhölzer der Fassade erhalten, indem man die Fassade einfach "umgeklappt" hat, sodass sie sich jetzt rechts des Treppenturms befindet, in dem Bereich, der ehemals die Nahtstelle zwischen Hauptflügel und rechtem Flügel gebildet hat.

    Das Gebäude besitzt im zweiten Oberstock einen großen durchgehenden Saal, der von mächtigen Unterzügen überspannt wird. Leider gab es keine Möglichkeit, ins Innere des schon lange unbewohnten Gebäudes zu kommen.


    Rückseite:


    Die Rössingstraße mit Blick auf die Neukirchenstraße. Links steht das Haus Rössingstraße 14, das Ende des 16. Jahrhunderts in markanter Ecklage errichtet und 1709 um einen massiven Anbau erweitert wurde. Möglicherweise handelt es sich um eine Hauskapelle. In der Literatur konnte ich dazu jedoch leider nichts finden:




    Wir sind wieder zurück in der Neukirchenstraße. Hier ein stark umgebautes Renaissance-Fachwerkhaus:

    Hier mal ein genutzter Ladeneinbau:

    Und noch ein paar schlichtere Bauten.

    Jetzt kommen wir in die Straße Wietholz, die eigentlich mit am lebendigsten wirkte, obwohl sich in dieser Gasse nur kleinere Häuser, meist aus dem 17./18. Jahrhundert, befinden. Aber die meisten Häuser wurden liebevoll saniert und scheinen wegen ihrer geringen Größe vor allem als Einfamilienhäuser genutzt zu werden:





    Vom Wietholz zweigt eine kleine Gasse namens Damm ab, an deren Ende die Mühlenilse fließt. Rechts befanden sich bis in die Achtziger noch Häuser, heute ist dort eine Wiese mit kleiner Bruchsteinmauer als Einfriedung. Die Baulücken wurden dadurch zwar nicht gefüllt, aber es sieht deutlich besser aus als wenn die Fläche einfach brach läge:

    Leider endet das Wietholz unschön an einer Bausünde: Einem Plattenbau-Mehrfamilienhaus, für das in den Achtzigern acht Fachwerkhäuser im Wietholz abgerissen wurden. Doch es hätte schlimmer kommen können. Ursprünglich plante man, das gesamte Viertel rund ums Wietholz abzureißen und mit Plattenbauten zu bebauen. Realisiert wurden davon nur zwei Bauten an der Mauerstraße, die zwar störend wirken, aber zum Glück ganz am Rand der Altstadt stehen.

    Zum Abschluss zeige ich nun die noch fehlenden Häuser aus der Kapellenstraße. Fangen wir mal in richtiger Reihenfolge am Marktplatz an. Das Haus Kapellenstraße 1 stammt von 1537 und zeigt abermals stark ausgeprägte Schiffskehlen. Wegen seiner Größe und der Zierformen würde es auch in Braunschweig nicht deplatziert wirken:



    Auch das Haus nebenan aus dem frühen 17. Jahrhundert wirkt äußerst prachtvoll:


    Auch auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen zwei große frühneuzeitliche Fachwerkbauten. Eins der Häuser ist leider mit einem üblen Verputz versehen:

    Auch im östlichen Teil hat die Kapellenstraße noch einiges zu bieten. Leider sind einige der Häuser stark überformt:


    Die beiden mittleren Bauten sind unauffällige Neubauten aus den 90ern, um DDR-Abbruchlücken zu schließen. Auch hier standen ehemals Fachwerkhäuser aus dem 16. Jahrhundert:




    DDR-Neubau, vermutlich mit Resten der Verzierungen des ehemals dort stehenden Altbaus (obwohl die Brüstungsbretter mit den Fächerrosetten verdächtig neu aussehen). Anders lässt sich auch nicht erklären, warum das Gebäude unter Denkmalschutz steht:





    Am Ende der Kapellenstraße, direkt an die ehemalige Stadtmauer grenzend, steht der Schäferhof, dessen einzelne Bauteile aus dem 16. bis 19. Jahrhundert bestehen und der glücklicherweise bewohnt ist. Am auffälligsten ist der Taubenturm aus dem frühen 18. Jahrhundert, der mitten im Hof steht:



    Mit einem Blick auf das historistische Postamt (das aber seit ein paar Jahren auch leer steht) möchte ich die Osterwieck-Galerie beenden:

    Am Wochenende folgt dann der dritte Teil der Harztour: Goslar.

  • Vielen Dank für die wunderbare Galerie einer Stadt, die ich selbst noch nicht besuchen durfte und daher nur in Wort und Bild kenne.
    Tatsächlich erstaunt mich der noch recht große Bestand an wirklich alten, aber sehr verfallenen Häusern. Schaut man sich jedoch die Planungen an, wie man ich den späten 80ern mit der Altstadt verfahren wollte, kann man dem lieben Gott nur für die glückliche Fügung des Schicksals danken.

    Sehr empfehlenswert ist das herausragende Osterwieck-Buch eines ehemaligen Mitarbeiters am Landesamt (ehem. Institut) für Denkmalpflege. Hans-Hartmut Schauer hat sich ab den 70er Jahren gegen den schleichenden Verfall und den Abriss der Altstädte in Harzgebiet eingesetzt. Mit seinen verdienstvollen Arbeiten hat er wichtige Grundlagen gelegt für einen fachgerechten Umgang mit den verkommenen Fachwerkstädten Quedlinburg und Osterwieck nach der Wende.

    Schauer, Hans-Hartmut: Die Fachwerkstadt Osterwieck, Verlag Bauwesen, Berlin 1998

  • Danke für diese sehr interessante Tour durch dieses Fachwerkstädtchen. Hat die Region durch die ehem. Grenzlage wirtschaftlich eigentlich eher einen Aufstieg erlebt oder sieht es genauso trostlos aus, wie die Medien einem von Sachsen-Anhalt glauben machen?

  • Man muss doch mit Sorge sehen, wie viele aeusserst wertvolle Haeuser dort ganz verfallen herumstehen, waehrend die Zukunft des Staedtchens, demographisch und wirtschaftlich betrachtet, nicht sehr vielversprechend sein kann..

    VBI DOLOR IBI VIGILES

  • Demographisch trifft die nächtste Keule die ex-DDR ab 2015. Dann wird sich die Bevölkerung noch rapider abnehmen. Ich finde es wirklich merkwürdig, dass demographie so wenig Interesse in D. vorgerufen hat. Denne gerade Deutschland hat ja

    1) Die wenigsten Geburten pro 1000 Frauen
    2) Die Älteste Bevölkerung (Mit Japan)

    Und das seit langem.

    Städte wie Osterwiek haben nur als Ferienorte eine Überlebenschance. Aber das ist ja auch möglich, wenn man sich die schönen Häuser ansieht.

    Unsere große Aufmerksamkeit für die Belange des Denkmalschutzes ist bekannt, aber weder ökonomisch noch kulturhistorisch lässt es sich vertreten, aus jedem alten Gebäude ein Museum zu machen. E. Honecker

  • Danke für die schönen Bilder. Den Ort kannte ich gar nicht. Was mir auffällt ist der bessere Straßenzustand (Bundesmittel) und der stärkere Gegensatz zwischen sanierten und verfallenden Häusern gegenüber dem Ort im westlichen Harz. Der Ort hat knapp 20% an Einwohnern verloren (durchschnittlicher Wert im Osten), und die Häuser sind vor allem Wohnhäuser, also keine laufenden Einnahmen durch Vermietung. Die Sanierungskosten kann trotz bis zu 60%iger Förderung nicht jeder stemmen.

    Zitat von "Däne"

    Demographisch trifft die nächtste Keule die ex-DDR ab 2015. Dann wird sich die Bevölkerung noch rapider abnehmen. Ich finde es wirklich merkwürdig, dass demographie so wenig Interesse in D. vorgerufen hat. Denne gerade Deutschland hat ja

    1) Die wenigsten Geburten pro 1000 Frauen
    2) Die Älteste Bevölkerung (Mit Japan)

    Meine These: das geringe Interesse in Deutschland entspringt einer ideologischen Verbohrtheit der Eliten. Die Antworten die die demographische Entwicklung verlangt stimmen nicht im geringsten mit dem derzeitigen Zeitgeist überein, der eine vollständige Unterordnung aller Lebensbereiche unter die Erfordernisse des "Marktes" verlangt.
    Ich bin immer sehr neidisch auf die egalitären Gesellschaften Skandinaviens. Das dänische "Flexicurity", die Verbindung von Flexibilität und Sicherheit, ist meines Erachtens die Antwort einer aufgeklärten Gesellschaft auf die Erfordernisse der Zeit. Wir in Deutschland fördern nur die "Flexibility", die "Security" wurde als Markthemmnis erkannt und schrittweise abgeschafft. Gerade im Osten ist das noch stärker spürbar als im Westen. Im Prinzip ist die kinder- und bindungslose Ich-AG gewünscht.
    Und zur speziellen Situation Ostdeutschlands sei gesagt das sich nichts ändern wird, weil man keinen Plan B hat. Man setzt auf "Leuchttürme", lügt sich mit denen in die Tasche und ignoriert einfach das die Provinz in dem Maße ausgezehrt wird wie die "Leuchttürme" gefördert werden. Wer kommt schon nach Osterwieck?

  • ...und dabei ist der ort noch gut dran. er hat zwei autobahnanschlüsse (A391 und B6n) und braunschweigs innenstadt ist in 20-30 min erreichbar.

  • Zitat von "Karasek"


    Meine These: das geringe Interesse in Deutschland entspringt einer ideologischen Verbohrtheit der Eliten. Die Antworten die die demographische Entwicklung verlangt stimmen nicht im geringsten mit dem derzeitigen Zeitgeist überein, der eine vollständige Unterordnung aller Lebensbereiche unter die Erfordernisse des "Marktes" verlangt.
    Ich bin immer sehr neidisch auf die egalitären Gesellschaften Skandinaviens. Das dänische "Flexicurity", die Verbindung von Flexibilität und Sicherheit, ist meines Erachtens die Antwort einer aufgeklärten Gesellschaft auf die Erfordernisse der Zeit. Wir in Deutschland fördern nur die "Flexibility", die "Security" wurde als Markthemmnis erkannt und schrittweise abgeschafft. Gerade im Osten ist das noch stärker spürbar als im Westen. Im Prinzip ist die kinder- und bindungslose Ich-AG gewünscht.
    Und zur speziellen Situation Ostdeutschlands sei gesagt das sich nichts ändern wird, weil man keinen Plan B hat. Man setzt auf "Leuchttürme", lügt sich mit denen in die Tasche und ignoriert einfach das die Provinz in dem Maße ausgezehrt wird wie die "Leuchttürme" gefördert werden. Wer kommt schon nach Osterwieck?


    Ich weiss, dass viele Europäer neidisch nach Dänemark blicken. Schliesslich liegt die Arbeitslosenquote bei etwa 3 % während die Geburtenrate bei 1,9 liegt. Ich finde schon, dass in Deutschland eine Veränderung spürbar ist – siehe die Planung zur Krippenausbau. Das ist die einzige Lösung, wenn man mehr Kinder haben will. Ich spreche da aus eingener Erfahrung. Was man in D. dabei oft vergisst: in Vergleich zu Dänemark liesse sich mit einem Krippenausbau die Zahl der Erwerbstätigen deutlich steigern: für viele Mütter wäre es möglich eine Vollzeitstelle zu besetzen. In Dänemark lässt sich die Zahl der Erwerbstätigen aber nicht mehr steigern – über 70 % der Frauen arbeiteten schon. Das führt in Dänemark zur Zeit zum enormen Lohndruck -> höhere kosten -> bald mehr Arbeitslosen. Dazu kommt, dass die meisten Dänen wegen der Immobillienblase enorm Verschuldet sind. Jetzt fallen die Preise und das tut schon richtig weg. Dann wird die Kehrseite des Flexicurity-models bald sichtbar: die enorme Kosten. Nicht umsonst zahlen wir mehr steuern als jedes andere Volk auf der Welt. In schätze mal, dass man in 5 Jahren nicht so sehr über Flexicurity sprechen wird…

    Dänemark ist sicherlich eine egalitäre Gesellschaft. Aber warum neidisch sein? Das bedeutet nämlich auch, dass die meisten Dänen aussergewöhnliche Persönlichkeiten und Erfolg mit misstrauen betrachtet. Ein Motto lautet: Flieg nicht höher als die Flügel tragen können - > lieber am Boden bleiben. Viele dänische Künstler sind ja auch nach Berlin, Frankreich oder in die Türkei gezogen. Um atmen zu können.

    Ostdeutschland leidet immer noch an die Währungsreform. Ich glaube aber schon, dass sich langfristig die Situation stabilisieren wird. Leuchttürme zu fördern finde ich ganz ok, die Giesskanne wird nichts bringen. Generell sollte man in D. nicht so meckern. Ihr seid für die künftige Rezession besser gerüstet als Länder wie UK, Dänemark und Spanien.

    Unsere große Aufmerksamkeit für die Belange des Denkmalschutzes ist bekannt, aber weder ökonomisch noch kulturhistorisch lässt es sich vertreten, aus jedem alten Gebäude ein Museum zu machen. E. Honecker

  • Danke für die interessanten Ausführungen "von der anderen Seite", Däne.

    Zu den Bildern von Maxileen. Hier erstmal ein großes Dankeschön für die enorme Arbeit der vielen Bilder und ihrer ausführlichen Kommentierung. Erschreckender als der Verfall manch kostbaren Gebäudes (mit teilweise erstaunlich hoher künstlerischer Qualität für eine Stadt dieser Größe) finde ich eher das "Geisterstädtische", das an vielen Bildern ablesbar ist. Und dabei ist, wie ja schon im Thread gesagt, die Spitze des Eisberg der Bevölkerungsentwicklung noch längst nicht erreicht. Der Staat wird hier zweifellos spätestens in 20 - 30 Jahren die Entscheidung treffen müssen, ob man Orte wie diese der Natur überlässt, oder eben auf Staatskosten als Freilichtmuseen erhält.

    So oder so sollten Städte wie diese aber mehr für den Tourismus tun, ist er doch das einzige, was sie mittelfristig am Leben halten kann. Dazu gehört vor allem die Unsitte, die Kirchen, am besten noch ohne Angabe von Öffnungszeiten, abzuschließen, was ich auch schon mehrfach in verschiedenen Provinzkäffern, allerdings in "Westdeutschland", erlebt habe.

  • Genau. Aber deshalb finde ich, dass man ernsthaft überlegen sollte, ob man die wertvollsten Bauten nicht in Nachbarstädten translozieren könnte.

    Ich glaube aber auch, dass die meisten Altstädte allein aus praktischen Gründe überleben werden: die sind relativ klein und kompakt, bieten kurze Wege usw. Das Problem in Osterwieck ist vielleicht, dass die Altstadt ein grossteil der Stadt ausmacht. In Stralsund und Bautzen ist es schon etwas anders. Für viele kleinere Städte wird folgenes wohl passieren:

    1 Phase (bis 1998): Sanierung der Altbauten und Neubau. 2 Phase (bis 2002): Weniger Sanierung und kaum Neubau. 3 Phase (Heute): Kaum Sanierung, erste Abbrüche, vor allem bei Plattenbauten, aber auch bei Gründerzeitbauten. Keine Neubauten. 4 Phase (ab 2015): Kaum Sanierung, vermehrte Abbrüche bei Alt- und Plattenbauten. Keine Neubauten. 5 Phase (ab 2040): Kaum Sanierung, wenige Abbrüche. Gewisse Stabilisierung auf niedrigem Niveau.

    Unsere große Aufmerksamkeit für die Belange des Denkmalschutzes ist bekannt, aber weder ökonomisch noch kulturhistorisch lässt es sich vertreten, aus jedem alten Gebäude ein Museum zu machen. E. Honecker

  • Zitat von "Däne"


    Ich weiss, dass viele Europäer neidisch nach Dänemark blicken. Schliesslich liegt die Arbeitslosenquote bei etwa 3 % während die Geburtenrate bei 1,9 liegt. Ich finde schon, dass in Deutschland eine Veränderung spürbar ist – siehe die Planung zur Krippenausbau. Das ist die einzige Lösung, wenn man mehr Kinder haben will. Ich spreche da aus eingener Erfahrung. Was man in D. dabei oft vergisst: in Vergleich zu Dänemark liesse sich mit einem Krippenausbau die Zahl der Erwerbstätigen deutlich steigern: für viele Mütter wäre es möglich eine Vollzeitstelle zu besetzen. In Dänemark lässt sich die Zahl der Erwerbstätigen aber nicht mehr steigern – über 70 % der Frauen arbeiteten schon. Das führt in Dänemark zur Zeit zum enormen Lohndruck -> höhere kosten -> bald mehr Arbeitslosen. Dazu kommt, dass die meisten Dänen wegen der Immobillienblase enorm Verschuldet sind. Jetzt fallen die Preise und das tut schon richtig weg. Dann wird die Kehrseite des Flexicurity-models bald sichtbar: die enorme Kosten. Nicht umsonst zahlen wir mehr steuern als jedes andere Volk auf der Welt. In schätze mal, dass man in 5 Jahren nicht so sehr über Flexicurity sprechen wird…

    Abwarten. Bis jetzt hat dieses Modell zu weit zufriedenstellenderen Ergebnissen geführt. Ihr könnte ja mal den deutschen Weg ausprobieren, mit institutionalisierten Lohndruck, unterfinanzierter Bildung, unterfinanzierten öffentlichen Einrichtungen, einem Steuersystem das zugunsten von Kapital und Unternehmen aus dem Gleichgewicht gekommen ist usw.. Alle Kennzahlen sind eindeutig auf Dänemarks Seite.
    Übrigens sieht das Familienbild von Teilen der bundesdeutschen Gesellschaft überhaupt keine arbeitende Frau und Mutter vor. ;)


    Zitat von "Däne"


    Dänemark ist sicherlich eine egalitäre Gesellschaft. Aber warum neidisch sein? Das bedeutet nämlich auch, dass die meisten Dänen aussergewöhnliche Persönlichkeiten und Erfolg mit misstrauen betrachtet. Ein Motto lautet: Flieg nicht höher als die Flügel tragen können - > lieber am Boden bleiben. Viele dänische Künstler sind ja auch nach Berlin, Frankreich oder in die Türkei gezogen. Um atmen zu können.

    Sicher, das ist die eine Seite. Ich kenne selbst ein paar Dänen die in der Werbung sind und überall arbeiten, nur nicht in Dänemark. Das tun sie aber eher aufgrund der Größe des Landes. So viele interessante Auftraggeber gibts dort einfach nicht.
    Andererseits: die soziale Durchlässigkeit in Deutschland ist eine der geringsten in der westlichen Welt, der Lebensweg ist durch die Geburt vorgegeben. Diese Situation hat sich seit dem Ende der 70er immer weiter verschärft, und sie wird überhaupt nicht thematisiert. Stattdessen redet man von "Eliten", was in der Praxis die Situation noch verschärfen wird. In Dänemark wandern außergewöhnliche Personen vielleicht ab, bei uns haben sie (empirisch bewiesen) überhaupt nicht die Möglichkeit sich zu entwickeln.


    Zitat von "Däne"


    Ostdeutschland leidet immer noch an die Währungsreform. Ich glaube aber schon, dass sich langfristig die Situation stabilisieren wird. Leuchttürme zu fördern finde ich ganz ok, die Giesskanne wird nichts bringen. Generell sollte man in D. nicht so meckern. Ihr seid für die künftige Rezession besser gerüstet als Länder wie UK, Dänemark und Spanien.

    Sicher nicht. Deutschland ist geradezu abhängig von diesen Märkten, unsere Wirtschaft beruht nämlich allein auf dem Export. Dank seit Jahren stagnierender Reallöhne haben wir keinen funktionierenden Binnenmarkt auf den wir uns stützen könnten. Der ist in 7 Jahren kaum gewachsen. Wir können uns nur auf die Binnenmärkte anderer Länder verlassen.
    Ich, als Ossi im Nicht- Leuchtturm, sehe nicht das sich die Situation verbessern wird. Nicht mal stabilisieren. Demokratien sind aber flexible Systeme, für jede Bewegung gibt es eine Gegenbewegung. Das die Linkspartei jetzt stärkste Partei im Osten ist ist ja kein Zufall. Man kann froh sein das es kein österreichischer Schreihals ist.

  • @ Karasek

    das die Reallöhne stagniert sind war - leider - eine notwendige Anpassung. Vor allem in Osten, wo die Produktivität viel zu niedrig war. Was Dänemark betrifft darfst du nicht vergessen, dass die Situation bei uns vor 15 Jahren ganz anders war (13 % Arbeitslosen). Danach gab es natürlich einige Reformen, aber die Erfolge der letzten Jahren beruhen fast ausschliesslich auf dem Binnenmarkt. Hier wird der Konsum von Krediten finanziert (Typisch: mein Haus ist um 50 % gestiegen - ich bin reich - ich nehme kreditte auf - die Preise fallen - ich bin nicht so reich wie geglaubt - meine Kreditte sind leider sehr real). Deutschland steht da viel besser weil die Leute nich so verschuldet sind. Eure Firmen sind auch deutlich konkurrenzfähiger als in Spanien und Dänemark - dank der Rationalisierungen der letzten 10 Jahren (niedrige Reallöhne).

    Die soziale Durchlässigkeit ist in Dänemark übrigens leider auch sehr gering.

    In Deutschland sollte man unbedingt das Schulwesen reformieren. Das würde schon vieles bringen. Das Mutterbild wird sich ganz sicher sehr verändern - allein deshalb die Frauen bald auf dem Arbeitsmarkt gebraucht werden. Es dauert aber alles.

    Ostdeutschland hat ganz sicher eine Menge Probleme. Wenn die Überkapazitäten im Baugewerbe weg sind, wird sich die Entwicklung meiner Meinung nach erheblich verbessern. Man darf ja nicht vergessen, dass gerade die Probleme im Baugewerbe die Erfolge überschatten. Dass einige Regionen weiterhin absterben lassen andererseits auch richtig. Für Vorpommern sieht's nicht doll aus. Damit muss man aber leben müssen.

    Und zu guter Letzt: man ist ja immer dazu geneigt, die Schattenseiten seines Heimatlandes zu sehen. Das ist in Deutschland sehr ausgeprägt (in Frankreich übrigens noch mehr). Es wäre manchmal schön etwas positives zu hören. Auch in den Randregionen Ostdeutschlands haben die Menschen die Möglichkeit sich anderswo niederzulassen, das war in der DDR nicht möglich. Ich glaube nicht, dass es in Polen, Bulgarien oder Lettland viel besser aussieht.

    Unsere große Aufmerksamkeit für die Belange des Denkmalschutzes ist bekannt, aber weder ökonomisch noch kulturhistorisch lässt es sich vertreten, aus jedem alten Gebäude ein Museum zu machen. E. Honecker