Das Kaiserreich im Rückblick

  • Objektivität ist stets das Ziel von Wissenschaft, auch in den historischen Wissenschaften.

    Das hat einer unserer größten Kulturhistoriker, Egon Friedell, massiv bestritten. Geschichtsschreibung sei die Kunst der Auslassung, bzw der Auswahl. Objektivität könne es daher nicht geben.

    Augustinus (354-430) - Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat
    14. Buch 9. Kapitel
    Der Staat oder die Genossenschaft der nicht gottgemäß, sondern nach dem Menschen wandelnden Gottlosen dagegen, die eben infolge der Verehrung einer falschen und der Verachtung der wahren Gottheit Menschenlehren anhangen oder Lehren der Dämonen, er wird von den bezeichneten verkehrten Gemütserregungen geschüttelt wie von Fieberschauern und Stürmen.

  • Allein die Idee, dass real existierende Geschichtswissenschaft neutral sein könnte (bei politisch relevanten Themen) ist schon amüsant. Haben sich die Historiker das selber so zugeschrieben?

    KWII war in der damaligen Rezeption durchaus positiv gewürdigt, etwa als Friedenstifter in der NYT. June 8, 1913:

    KAISER WILHELM II., PEACEMAKER, BY ANDREW CARNEGIE; " The Civilized World This Day Bows Reverently Before You," Writes the American Peace Advocate, in Congratulating the Emperor on the Occasion of His Jubilee Celebration.

    KAISER WILHELM II., FRIEDENSMACHER, VON ANDREW CARNEGIE; „Die zivilisierte Welt verneigt sich heute ehrfürchtig vor Ihnen“, schreibt der amerikanische Friedensanwalt, um dem Kaiser anlässlich seiner Jubiläumsfeier zu gratulieren.

    https://www.nytimes.com/1913/06/08/arc…ized-world.html

    Während und nach dem Ersten Weltkrieg änderte sich die veröffentliche Sichtweise natürlich. Zur Kriegspropaganda zählte u.a. die Kaiserliche Kadaververwertungsanstalt, in der (gefangene alliierte) Soldaten zu Schmierstoffen und Seife umgewandelt werden. Wohl die "bekannteste Gräueltat des Krieges".

    Punch_1925_Kaiser_cartoon.jpg

    Publizierter Konsens kann von einem Tag auf den anderen umgeschaltet werden. Auch in unserer Zeit haben wir dies schon reichlich erlebt.

  • Waren Earl Kitchener und der Kaiser Zwillinge ?

    Da hier jüngst einige ‚uniformkundliche’ Beiträge eingestellt wurden und im direkten Vorgängerbeitrag an die Propaganda im 1. WK erinnert wird, passt das obige Diptychon – welches man sich zusammen mit der Physiognomie des Kaisers in der Karikatur von der ‚Kadaververwertungsanstalt’ zu Gemüte führen sollte - ganz gut in die Reihe, wie ich finde. Es offenbart in welch großem Umfang die Propagandastäbe bereit waren, den Gegner zu entmenschlichen. Hier manifestiert sich eine große Tragik, denn der Kaiser – das ‚spezielle Verhältnis zu seinem Onkel einmal außer Acht gelassen – war sein Leben lang von tiefer Bewunderung und Liebe zum Lande seiner Großmutter und dessen Kultur erfüllt.

  • Das hat einer unserer größten Kulturhistoriker, Egon Friedell, massiv bestritten. Geschichtsschreibung sei die Kunst der Auslassung, bzw der Auswahl. Objektivität könne es daher nicht geben.

    Egon Friedell war Journalist, Schriftsteller, Dramatiker, Theaterkritiker und Kulturphilosoph. Über die historischen Wissenschaften konnte er nur als Außenstehender schreiben. Zudem konnte er sich allenfalls über ihren Stand und Zustand vor 100 Jahren und mehr äußern. Seitdem hat sich die historische Wissenschaft erheblich weiter entwickelt, wie ich aus meiner eigenen Tätigkeit berichten kann.

    Kunsthistoriker, Historiker, Webdesigner und Fachreferent für Kulturtourismus und Kulturmarketing

    Mein Bezug zu Stadtbild Deutschland: Habe die Website des Vereins erstellt und war zeitweise als Webmaster für Forum und Website verantwortlich. Meine Artikel zu den Themen des Vereins: Rekonstruktion / Denkmalschutz / Architektur / Kulturreisen

  • Seitdem hat sich die historische Wissenschaft erheblich weiter entwickelt, wie ich aus meiner eigenen Tätigkeit berichten kann.

    Und worin soll dieser angebliche Fortschritt in der "Geschichtswissenschaft" bestehen, wenn man fragen darf? Wurden neue Verfahren entwickelt, mit denen sich historische Ereignisse und Zusammenhänge besser einordnen und analysieren lassen? Gar Gesetzmäßigkeiten entdeckt, díe sie in den Rang einer objektiven Wissenschaft erheben?

    Wenn man sich nur vor Augen führt, wie unterschiedlich eine Figur wie Wilhelm Zwo seit 100 Jahren in Deutschland gesehen wird - von namhaften Historikern, wohlgemerkt, keinen "Hobbyforschern" -, kommen einem starke Zweifel.

  • ^ Das war übrigens ähnlich mit den roten Hosen der französischen Uniformen. Diese waren Mitte des 19. Jahrhunderts eingeführt worden, boten aber Anfang des 1. Weltkriegs ein sehr leichtes Ziel, so dass sie bald von einer mehr tarnenden Farbe abgelöst wurden.

    Lieber Heimdall, da warst Du mit Deinen roten Hosen 20 Minuten zu spät. :D:D

    Wer einer Halbwahrheit eine weitere Halbwahrheit hinzufügt, schafft keine ganze Wahrheit, sondern eine ganze Lüge.

  • Mit der Kadaververwertungsanstalt wurde weitere üble Hetzpropaganda betrieben. Die Verwertung betraf ausschließlich Tierkadaver. Bezeichnend ist jedoch die englische Übersetzung German Corpse Factory oder German Corpse-Rendering Works, die suggeriert, es habe sich um menschliche Leichen (= corpse) vor allem alliierter Gefallener gehandelt. Richtig wäre die Übersetzung "Carcass-Utilization Factory".

    Wer einer Halbwahrheit eine weitere Halbwahrheit hinzufügt, schafft keine ganze Wahrheit, sondern eine ganze Lüge.

  • Seitdem hat sich die historische Wissenschaft erheblich weiter entwickelt, wie ich aus meiner eigenen Tätigkeit berichten kann.

    Nun, wenn dem so sei, und warum auch nicht, vieles hat sich ja schließlich weiterentwickelt, so würde dies doch nur bedeuten, dass mehr historisches Material ans Tageslicht gezerrt wird. Damit aber stellt sich genau die von Friedell beschriebene Problematik der Auswahl in verschärfter Form. Gerade angesichts der aktuellen Geschichtswissenschaft, die ja bekanntlich vehement in Richtung moralisierender Bewertung anhand höchst zeitbedingter wie unhinterfragter Maßstäbe tendiert, käme dieser Auswahl noch mehr Bedeutung zu.

    Fazit: Die Geschichtswissenschaft mag sich in der Tat weiterentwickeln, aber "Objektivität" wird dabei ein immer weniger erreichbares Ziel, sofern ein solches überhaupt angestrebt wird.

    Augustinus (354-430) - Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat
    14. Buch 9. Kapitel
    Der Staat oder die Genossenschaft der nicht gottgemäß, sondern nach dem Menschen wandelnden Gottlosen dagegen, die eben infolge der Verehrung einer falschen und der Verachtung der wahren Gottheit Menschenlehren anhangen oder Lehren der Dämonen, er wird von den bezeichneten verkehrten Gemütserregungen geschüttelt wie von Fieberschauern und Stürmen.

  • Geschichtswissenschaft ist so objektiv wie der Schalke-Fan im Bayern-Stadion. Im Laufe meines Studiums besuchte ich mal ein Seminar über "politische Instrumentalisierung von Geschichte". Dabei wurde natürlich die Gegenwart ausgeblendet, da es zwar zur Linie passt, einen Treitschke posthum zu "entlarven", nicht aber sich selbst. Am objektivsten ist noch der unabhängige Hobbyforscher, während es umso unobjektiver wird, je mehr Abhängigkeit von Staat, Institutionen, Medien, der Meinung der Kollegen besteht. Ist doch auch klar, ein Historiker, dessen Ergebnisse nicht mit den aktuellen politischen Interessen kompatibel sind, wird nie Karriere im Universitätsapparat machen, er wird kein Museumsleiter, er wird nicht in den maßgeblichen Fachpublikationen veröffentlichen können. Ihm bleiben Hobby-Veröffentlichungen. Sitzt er schon drin im System und eckt dann an, wird versucht, ihn kaltzustellen. Die Causa Ernst Nolte ist ein Lehrbeispiel.

    Lieber Heimdall, da warst Du mit Deinen roten Hosen 20 Minuten zu spät.

    Oh, Entschuldigung. Das liegt daran, dass ich oft mehrere Seiten öffne und diese dann nacheinander lese. Und dann antworte ich etwas darauf. Das führt dazu, dass ich manchmal leicht veraltete Versionen geöffnet habe, da jemand in der Zeit zwischen meinem Aufrufen der Seite und dem Abschicken des eigenen Posts wieder etwas neues geschrieben hat, was ich aber noch nicht sehe.

  • Mit der Kadaververwertungsanstalt wurde weitere üble Hetzpropaganda betrieben. Die Verwertung betraf ausschließlich Tierkadaver. Bezeichnend ist jedoch die englische Übersetzung German Corpse Factory oder German Corpse-Rendering Works, die suggeriert, es habe sich um menschliche Leichen (= corpse) vor allem alliierter Gefallener gehandelt. Richtig wäre die Übersetzung "Carcass-Utilization Factory".

    Der britische General Charteris hatte Fotos eines Eisenbahnzuges mit toten Pferden erhalten, die verarbeitet werden sollten. Er ließ die angebrachte Aufschrift "Kadaver" an ein Foto des deutschen Totenwagen heften und schickte die Manipulation an eine Zeitung in Schanghai. Daraufhin erschien in einem englischen Magazin der Brief eines entrüsteten Chinesen über die gedruckte Geschichte vom grauenvollen Auskochen deutscher Soldatenleichen. Ein englischer Arzt meinte dazu, es sei im Deutschen nicht unüblich, auch menschliche Leichen als Kadaver zu bezeichnen und hielt die Geschichte für wahr. So kam die sogenannte Kadaverlüge ins Rollen. Sie wurde von Carteris erst 1925 gelegentlich eines Banketts und eines Vortrages über die Propaganda des Weltkrieges enthüllt.(H.Schneider)

  • Heimdall

    Gar kein Problem, war nicht als Vorwurf gemeint. ich fand es nur lustig, dass wir wegen der roten Hosen zur selben Zeit denselben Gedanken hatten.

    Wer einer Halbwahrheit eine weitere Halbwahrheit hinzufügt, schafft keine ganze Wahrheit, sondern eine ganze Lüge.

  • So kam die sogenannte Kadaverlüge ins Rollen.

    Eine weitere Lüge, war jene der abgehackten belgischen Kinderhände durch deutsche Soldaten, welche die anti-deutsche Kriegspropaganda verbreitete.

    Diese Lüge war doppelt perfide, weil es tatsächlich zu Ende des 19. Jahrhunderts grausame Praxis in Belgisch-Kongo war

    "Wenn wir die ehemalige Schönheit der Stadt mit der heutigen Gemeinheit verrechnen, kommen wir, so die Bilanz, aufs direkteste in den Schwachsinn." (E.H.)

  • Eine weitere Lüge, war jene der abgehackten belgischen Kinderhände durch deutsche Soldaten, welche die anti-deutsche Kriegspropaganda verbreitete.

    Diese Lüge war doppelt perfide, weil es tatsächlich zu Ende des 19. Jahrhunderts grausame Praxis in Belgisch-Kongo war

    Ich glaube, wir hören an dieser Stelle lieber auf. Das Thema wird politisch und könnte bis in die Gegenwart gezogen werden. Stichwort Hereros.

  • Geschichtswissenschaft ist so objektiv wie der Schalke-Fan im Bayern-Stadion.

    Noch so ein Beispiel: der Zerfall des römischen Imperiums.

    Hundert Jahre war sich die Forschung einig, dass es der Ansturm der Barbaren und die Dekadenz der Römer waren, die ihn herbeiführten und Europa damit zivilisatorisch und technologisch um 500 Jahre zurückwarfen.

    Passt natürlich nicht so recht zum Konzept einer multiethnischen und maximal toleranten Gesellschaft. Flugs wurde deshalb von einigen Historikern die steile These aufgestellt, die Römer hätten sich durch Umweltgifte quasi ihr eigenes Grab geschaufelt.

    Nachdem ziemlich schnell klar war, dass das Nonsens ist, sind es neuerdings der Klimawandel und Pandemien, die das alte Rom auf die Verliererstraße brachten.

    Bin schon gespannt, was als Nächstes kommt.

  • Am objektivsten ist noch der unabhängige Hobbyforscher, während es umso unobjektiver wird, je mehr Abhängigkeit von Staat, Institutionen, Medien, der Meinung der Kollegen besteht

    Deswegen ist es auch so wichtig, dass solche Stränge wie dieser bestehen, in denen mal durch selektive Berichte ganz objektiv dargelegt werden kann, dass nicht Deutschland sondern die anderen die Bösen sind.

    Was zeigt und das:

    1. Auch der Hobbyforsche sollte sich an minimal wissenschaftliche Standards halten.

    2. Die Befassung mit Geschichte scheint selten um deren Erkenntnis selber zu geschehen, sondern um ein Agieren in der Gegenwart zu rechtfertigen.

    3. Es ist gut, dass die Zeit der Nationalstaaten in Europa vorbei ist

    4. Nationalismus ist schlecht. egal wo.

    Danke für die insoweit für mich sehr erhellenden Beiträge der Mitforisten.

  • "Andreas", ich verstehe von Deinem Beitrag kein Wort. Zumindest die Bezugnahme auf meinen Beitrag erkenne ich nicht, denn von Deutschland oder "die anderen die Bösen" steht dort nichts direkt. Wenn Du auf Ernst Nolte Bezug nehmen wolltest. Da kommst Du halt ein paar Jahrzehnte zu spät. Die Arbeit haben andere, vorzugsweise Nicht-Historiker wie Habermas, bereits geleistet.

  • In der Bundesrepublik, die bekanntlich "nur Freunde" hat, und wo es geradezu verpönt ist, auf Eigeninteressen zu bestehen.

    Augustinus (354-430) - Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat
    14. Buch 9. Kapitel
    Der Staat oder die Genossenschaft der nicht gottgemäß, sondern nach dem Menschen wandelnden Gottlosen dagegen, die eben infolge der Verehrung einer falschen und der Verachtung der wahren Gottheit Menschenlehren anhangen oder Lehren der Dämonen, er wird von den bezeichneten verkehrten Gemütserregungen geschüttelt wie von Fieberschauern und Stürmen.