Lieber Pagentorn,
die Zeit ist reif, meinen Wettbewerbsentwurf für den Matthäikirchhof Leipzig auch im APH-Forum ein- und vorzustellen. Zumal im dortigen Themenstrang Bachstadt Leipzig – der Matthäikrchhof , Seite 3, der Forist Tandem schreibt: „Einen wirklich sensiblen Umgang mit dem geschichtsträchtigen Ort kann ich in keinem der Entwürfe erkennen. Eine richtige Stadtreparatur in kleinteiliger Bauweise ist auch nicht zu sehen“.
Ihn entschuldigend gehe ich davon aus, dass er nur die neun ausgewählten Entwürfe gesehen hat, nicht aber die übrigen 57, eine immense Zahl von Entwürfen und Plänen, die umsonst gefertigt wurden, so auch meiner.
Gestern erhielt ich als teilnehmender Architekt ein Schreiben und Einladung der Stadt Leipzig zur Ausstellungseröffnung am 29. Februar 2024 in Leipzig, in der alle eingereichten Wettbewerbsarbeiten aus- gestellt werden, darunter auch mein Wettbewerbs- entwurf, der in der 1. Phase ausgeschieden wurde.
66 Wettbewerbsentwürfe sind eingegangen, davon gelangten nur neun in die 2. Phase und damit weitere Bearbeitung. Über das Schicksal eines historisch bedeutenden Ortes von Alt-Leipzig wurde in wenigen Stunden von zwei Handvoll Leuten entschieden.
Außer dass die siegreichen Architekten wie ich Stuttgarter sind, habe ich mit deren Auffassung von Stadtreparatur und Wiederaufbau rein gar nichts gemein. Der Entwurf ist für mich kläglicher als ich es mir in meiner schlimmsten Vision vom Resultat des Wettbewerbs vorgestellt habe.
Die Zeit, als ich mit einem Wiederaufbauentwurf wie dem am Matthäikirchhof Leipzig einen Wettbewerbs- preis gewonnen habe, ist seit über 40 Jahren schon vorbei. Das war im Dom-Römer-Wettbewerb 1980 in Frankfurt am Main. Der Klassikarchitekturfreund und WELT-Kolumnist Dr. Dankwart Guratzsch schrieb über meinen damaligen Wiederaufbauentwurf: „Sie sind die treibende Kraft für den Wiederaufbau von Altstädten“. Ja, war ich mal, und 2010 wurde die Altstadt Frankfurt so wieder aufgebaut wie im Wettbewerb von mir geplant: Abbruch des Technischen Rathauses und Bau von Altstadthäusern. Dass man mit einem Verstoß gegen Wettbewerbsauflagen einen Preis gewinnen konnte (der Abbruch des TR war verboten) ist lange schon Geschichte. Heute zählt in Wettbewerben nur noch das massive Mauern der Modernisten in den Jurygremien gegen Rekonstruktionen. Als einstmals „treibende Kraft“ bin ich im Strom der Zeit und Zeitgenossen längst abgetrieben.
Also flog ich in Leipzig hochkant in der 1. Phase raus, was ich von vorneherein wusste, in Kauf nahm und mir niemals anders ausgemalt habe. Ich hätte locker und leicht wie die Stuttgarter Kollegen planen können, weil man damit auf der erfolgsversprechenden und sichereren Seite steht. War mir sonnenklar, dass ich das mit einem weitgehend originalgetreuen Wiederaufbau des Matthäikirchhofs mit Matthäikirche nie und nimmer schaffen würde.
Sogar das Alte Theater am Richard-Wagner-Platz habe ich rekonstruiert, um es zu errichten, die nördliche Straßenführungen geändert und untertunnelt. Die eingereichten Wettbewerbszeichnungen sind aufgrund sorgfältiger Recherchen nach, soweit noch vorhanden, historischen Vorlagen gefertigt. Alle wiederher- gestellten Fassaden sind vor Neubauten gebaute Rekonstruktionen, mit Ausnahme der Matthäikirche.
Hören Sie die Hühner in Leipzig über so einen Einfaltspinsel wie mich lachen? „Ha, ha, ha, glaubt der, die Leipziger wollen in die Vergangenheit vor 1945 zurück?“ Nee, die wollen ihren ollen Stasibau wiederhaben, am besten mit Walter Ulbricht als sprechende Wachsfigur: Wenn isch hier rausgomme, will isch gaine Girsche mehr sehen“, soll er beim Austreten aus dem neuen Leipziger Gewandhaus gesagt haben, und meinte die Paulinerkirche, die 1968 gesprengt wurde.
Die heutigen Leipziger wollen auch gaine Girsche mehr sehen, nämlich gaine Matthäigirsche - eine der Wirkungsstätten Johann Sebastian Bachs - allen voran der OB, die Stadträt*innen und Verwaltung. Und die Ostalgiker, die ihren Narren am Stasibau gefressen haben und ganz sicher über den Stuttgarter Schauerentwurf jubeln.
Ich aber habe mein Herzblut an Leipzig vergossen - vielleicht gibt es dort noch Menschen mit ebensolchem Herzblut für ihre Altstadt. Nun können alle Leipziger*innen neben 65 Entwürfen auch meinen mit Leidenschaft, Hingabe und Liebe (was zählt das heute noch, und wen von den Modernisten interessiert es?) gezeichneten Wettbewerbsentwurf in der kommenden Ausstellung betrachten und sich ein Bild machen, darüber, was und wie Architekten heute über Stadtreparatur- und Entwicklung denken, zeichnen und zu bauen beabsichtigen.
Axel Spellenberg
Freier Architekt Diplom-Ingenieur
Worpswede