Baunatal - altes Dorf für Retortenstadt plattgemacht?

  • Nun bis vor knapp einer Stunde wußte ich nichts von einem Ort namens Baunatal. Dann bin ich zufällig über diesen Namen gestolpert und hab etwas recherchiert. Die Vermutung bestätigte sich, daß es sich um eine Kunstgemeinde handelt (so wie bei vielen anderen Gemeinden mit "-tal").

    Die Kunstgemeinde liegt in der Nähe von Kassel, Auslöser für die Gemeindegründung war wohl die Ansiedlung eines Zweigwerkes von VW.

    Schon auf dieser Seite - http://www.baunatal.de/info/021.aspx - der Webseite der Stadt Baunatal - wird auf einige städtebauliche Grausamkeiten im Ort Altenbauna hingewiesen. Offenbar hat man große Teile des historischen Ortskerns abgerissern um ein neues Stadtzentrum für die künstlich geschaffene Kommune zu errichten.

    Bei weiteren Recherchen bin ich dann u.a. auf diese Seite gestoßen: http://www.baunsberg.de/ambaunsberg/di…1f449b9e0b63006

    Besonders die Abrißbilder sind schon starker Tobak, insbesondere bei den schönen Fachwerkhäusern...historisch gewachsene Strukturen werden zerstört, um für einen belanglosen Retorten-Vorort Platz zu machen.

    Bewohnern der "Metropolregion" Nürnberg werden da sofort an Büchenbach bei Erlangen denken, aber dort hat man zumindest den Ortskern unverändert stehen lassen, wenn auch dort der Bau der Stadtautobahnen, Hochhäuser und Mietskasernen schon einen ziemlich brutalen Eingriff in die Ortssilhoutte darstellt...

  • Schlimme Bilder. Aber teilweise geht mir der Text zu weit. Ich habe auf der verllinkten Seite von Bauern gelesen, die ausgesiedelt wurden, um Arbeiterwohnungen für ein VW-Werk zu errichten.

    Ich denke mal, das war damals alles freiwillig und die "ausgesiedelten" Bauern haben gutes Geld für ihren Boden bekommen.

  • Üble Geschichte. Tatsächlich klingt der Text so, als seien Leute vertrieben worden wie die Schlesier. Kann aber ja eigentlich nicht der Fall gewesen sein. Oder hat VW ein paar Häuser gekauft und die restlichen Bewohner unter Druck gesetzt nach dem Motto "Verkauft und verschwindet, sonst werdet Ihr hier nicht mehr froh"?

    Das merkwürdigste ist das hier:

    Zitat

    Kaum war der Hof-Berninger und der Hof-Schmidt abgerissen, entstand fast an gleicher Stelle - am Ortseingang von Altenbauna - dieses neue Hotel.

    Ein Fachwerkensemble wird abgerissen und ein stinklangweiliges, häßlich graues 08/15-Hotel wird an dieselbe Stelle gesetzt.

    Zitat

    Schon am 1. Januar 1964 wurde hier ein großes Fest gefeiert. Die Altenbaunaer feierten in diesem neuen Hotel den Zusammenschluß von Altenritte, Kirchbauna und Altenbauna zur neuen Großgemeinde. Erst viel später wurde aus dem Hotel Werner, das Hotel Scirocco.

    Na, dann ist den Leuten nicht zu helfen - dann gefiel ihnen offenbar, was da passierte...
    http://www.baunsberg.de/ambaunsberg/di…1f449b9e0b63006

  • Zitat von "Schloßgespenst"

    Na, dann ist den Leuten nicht zu helfen - dann gefiel ihnen offenbar, was da passierte...

    Wie so oft in den 60er Jahren. Blinder Glaube an den Fortschritt. Überall im ländlichen Raum wurden alte Bauernhäuser bis zur Unkenntlichkeit modernisiert oder abgerissen. Bloss weg mit den miefigen alten Stuben. :(

    Labor omnia vincit
    (Vergil)

  • Zitat von "Stadtmensch"

    Ich denke mal, das war damals alles freiwillig und die "ausgesiedelten" Bauern haben gutes Geld für ihren Boden bekommen.

    Davon gehe ich ja auch aus.

    So gesehen ist ein Vergleich mit Schlesiern und anderen vetriebenen Volksgruppen auch völlig unzulässig.

    Und trotzdem bleibt ein fader Nachgeschmack, weil im Fortschrittsglauben und für gutes Geld über Jahrhunderte gewachsene Strukturen geopfert wurden.

  • Die Bilder zeigen einige Bauten, die durchaus noch wenigstens aus dem 17. Jahrhundert gestammt haben dürften. Einfach nur krank, was damals so abgegangen ist. Ich frage mich in letzter Zeit immer öfter, was mit unseren Großstädten in dieser Zeit passiert wäre, wären jetzt z.B. Kassel, Braunschweig oder Nürnberg vom Bombardement verschont geblieben. Schon die gut dokumentierten Altstadtsanierungen von Frankfurt und Kassel, wo massig bereits in den 1930ern die Abrissbirne geschwungen wurde, haben ja nix gutes vermuten lassen, hätte dies eine Kontinuität nach dem Krieg gefunden.

  • Naja, weder in Ffm noch in KS wäre ein Altstadtkern total ausradiert worden. Aber wohl perforiert - wie etwa in Heidelberg, wo SPD-Oberbürgermeister Reinhold Zundel 24 Jahre Zeit hatte, das Stadtbild zu verschandeln. Walter Kolb in Frankfurt ist das Pendant dazu - 10 Jahre im Amt (dann verstarb er) reichten, um der noch zuckenden Altstadt den finalen Todesstoß zu versetzen.

  • Ich habe mal nach weiteren Bildern des Orts Altenbauna Ausschau gehalten.

    Fündig geworden bin ich u.a. auf Panoramio - http://www.panoramio.com/map/#lt=51.258370&ln=9.416953&z=4&k=2&a=1&tab=1\r
    http://www.panoramio.com/map/#lt=51.258 ... &a=1&tab=1

    Wenn man rechts unten auf "vor" klickt, werden weitere Bilder angezeigt. Anhand der Karte kann man sie auch örtlich recht gut zuordnen, auch wenn das nicht immer so ganz genau eingestellt ist. Es sind auch Bilder anderer Gemeindeteile / Nachbarorte zu sehen, v.a. wenn Altbauten zu sehen sind, stammt das Bild i.d.R. nicht aus Altenbauna.

    Die anderen Gemeindeteile scheint es ja zumindest im Bereich des Ortskerns weitaus weniger extrem getroffen zu haben, allerdings wurden auch diese Orte zumindest Opfer einer extremen Zersiedelung und sind baulich zum Teil miteinander verwachsen (vermutlich gibts da auch keine Ortsschilder mehr, wo der eine Ort aufhört und der nächste anfängt, und wenn dann dürfte da nur noch der Kunstname "Baunatal" draufstehen).

    Von den "modernen" Bauten im "ausradierten" Ortskern von Altenbauna sind aber relativ wenig Bilder zu sehen. Ob man das bewußt nicht großartig herumzeigt?

  • Ich glaube im Fall von Nürnberg wäre da wohl besonders kräftig die Abrißbirne geschwungen worden. Die Stadtväter waren in den 60er Jahren ja der festen Überzeugung, ihre Stadt würde – wie zuvor München – zur Millionenstadt heranwachsen.

    Und da die Stadt Nürnberg ja bis heute unter ihrem Image „leidet“, hätte man sicher alles getan, um diesem Image (Mittelalter, Christkindlmarkt, Lebkuchen, Bratwürste…) entgegenzuwirken, notfalls auch mit Hilfe von Baggern und Planierraupen. Ich schätze eine unzerstört gebliebene Altstadt hätte die 60er / 70er Jahre schon überstanden, allerdings im Bereich der Hauptverkehrsstraßen nur mit schweren Bausünden in Form von Neubauten oder der völligen Überformung (bis zur Unkenntlichkeit) von Altbauten.

    Daß diese Denkweise in Nürnberg heute noch herumspukt zeigen ja auch die Augustinerhof-Planungen. Anstatt die große Chance zu nutzen, einen ganzen Häuserblock zu rekonstruieren, wird modernistische Grusel“architektur“ an die Stelle gesetzt. Daß die Stadt letztendlich von ihrem Image in Sachen Tourismus profitiert, interessiert da nur am Rande.

    An den Millionenstadt-Träumen war in den 60er Jahren ja ein großer Teil der Stadtplanung ausgerichtet. Es sollte im Knoblauchsland bei Wetzendorf eine riesige Trabantenstadt wie Langwasser entstehen – was verheerende Folgen für das eingemeindete Umland im Norden der Stadt gehabt hätte. Dörfer wie Buch oder Höfles hätten dann vermutlich das gleiche Schicksal erlitten wie Altenbauna – also weitgehender Abriß der alten Substanz, um für West-Platte Platz zu machen, oder ein Schicksal á la Perlach (bei München): ein eingekapselter Dorfkern inmitten eines Plattenbau-Ghettos.

    Die damaligen Millionenstadt-Träumereien zeigen sich heute auch noch am Nürnberger Verkehrsnetz – so auch die Tatsache, daß es in Nürnberg heute eine U-Bahn gibt. Die ursprünglichen Pläne für eine U-Straßenbahn hat man verworfen (wie man sie heute in den meisten Städten vergleichbarer Größe in Westdeutschland findet), nachdem in München (dem großen Vorbild für Nürnberg) eine „echte“ U-Bahn in Planung war. Auch das komfortabel ausgebaute Ringstraßennetz oder die vierspurige Bundesstraße 4 nach Erlangen sind Kinder dieser Ära (obwohl wenige Kilometer westlich parallel zur B4 bereits der Frankenschnellweg, die A73, in Planung war und somit ein normaler zweispuriger Ausbau der alten Straße mit Ortsumgehungen für Buch, Boxdorf und Tennenlohe eigentlich gereicht hätte – ja eigentlich, aber wenn man halt Millionenmetropole werden will ist das Beste gerade gut genug…).

    Übrigens gab es auch im Nordosten Nürnbergs den Versuch, eine künstliche Stadt ähnlich wie Baunatal zu schaffen. Also eine Stadt, wo vorher keine war, in dem man einfach mehrere Gemeinden zusammenlegte und begann, auf der grünen Wiese zwischen den Gemeindeteilen Eschenau und Eckenhaid ein neues Stadtzentrum zu errichten.

    Die Rede ist von „Eckental“. Doch das Konzept ging offensichtlich nicht auf: die Bevölkerung konnte sich nicht mit dem Phantasienamen „Eckental“ anfreunden, und auch das neue Zentrum erfüllte die in es gesetzten Erwartungen nicht. Das Geschäftsleben spielt sich bis heute an der alten Eschenauer Hauptstraße ab, während in der (neuen) Straße „im Zentrum“ schon etwas mehr Beschaulichkeit herrscht. Es gibt dort bis heute zahlreiche Brachflächen und ich glaube kaum, daß es hier zu weiteren größeren Aktivitäten kommen dürfte. Auf Straßenschildern findet man heute nur noch „Eckental“, die richtigen Ortsnamen, wenn überhaupt, nur mit einem Bindestrich an den Phantasienamen angehängt. Interessanterweise ist zumindest die Bahn bis jetzt nicht auf den „Eckental“-Zug aufgesprungen. Die Stationen im Gemeindegebiet nennen sich bis heute „Forth“ und „Eschenau (Mittelfranken)“ anstatt „Eckental-Eschenau“ – und das ist auch gut so!

    Allerdings sollte man eines dazusagen: für die Schaffung der "Retortenstadt" Eckental wurden keine gewachsenen Ortskerne plattgemacht.

  • Wenn man etwas nach Nordwesten scrollt findet man in Hanglage oberhalb der "Altenritter Straße" noch eine Hand voll alte Gebäude. Straßenname müßte "Lärchenweg" sein. Auch ein paar Gebäude der südlichen Randbebauung der Altenritter Straße könnten noch vom alten Dorf stammen.

    Und dann ist da ja noch die Kirche am Bingeweg.

    Bei der Grünfläche mit dem roten "Wappen" dürfte es sich um eine der Flächen handeln, die auf den Bildern der "Baunsberg"-Seite "leergeräumt" wurden...

  • Um den Kern einer Metropole wie FFM oder Nürnberg in der Wirtschaftsordnung der letzten 60 Jahre intakt zu lassen, wäre es unbedingt notwendig gewesen, per Sonderverordnungen und Auflagen diesen streng abgegrenzten Bereich vor großmaßstäblicher Neubebauung zu schützen. Dies verhindert Bausünden, aber auch die "zeitgemäße" Anpassung dieses Areals (die härtesten Schutzschilde hätte man sicher von 1960-80 auffahren müssen, d.h. drastischen Vollschutz = Baustop).

    Derartiges funktioniert nur, indem man den Rest der Stadt freigibt (auf Wiedersehen, ihr Gründerzeitler) bzw. noch stärker ins Umland wuchern läßt als ohnehin - zum Preis der oben beschriebenen bitteren Geschichte.

    Nun, folgt man dem schönen Gedankenspiel eines verminderten bzw. kriegsökonomischeren Bombenkrieges nach Art des US-Bomber-Command und gleichbleibender volkswirtschaftlicher Entwicklung, so muß man sich wohl entscheiden zwischen den alten Stadtkernen (Weltkulturerbe -->Wirtschaftsfaktor ab den späten Achtzigern ! :) ) und den Ortskernen der Umgebung. Mir fällt sie leicht.

    Den Holländern ging es dabei wohl genauso, sieht man sich ihre Stadt-Landschaften an.

    Nein, die werden gedünstet

  • Zitat von "Altbaufreund"

    Die anderen Gemeindeteile scheint es ja zumindest im Bereich des Ortskerns weitaus weniger extrem getroffen zu haben, allerdings wurden auch diese Orte zumindest Opfer einer extremen Zersiedelung und sind baulich zum Teil miteinander verwachsen (vermutlich gibts da auch keine Ortsschilder mehr, wo der eine Ort aufhört und der nächste anfängt, und wenn dann dürfte da nur noch der Kunstname "Baunatal" draufstehen).


    Festzuhalten bleibt jedoch, dass die Zersiedelung der Landschaft der weitaus weniger schwere Anklagepunkt ist. Die zielgerichtete Vernichtung unseres baulichen Kulturerbes zur Befriedigung eines allgemeinen Modernitätswahns wiegt unendlich schwerer. Ein gewisses Maß an architektonischer Wucherung war in einem bald wieder wirtschaftlich boomenden Land mit einem stellenweise zudem massiven Bevölkerungsanstieg aufgrund Millionen Vertriebener wohl nicht vermeidbar.

    Zitat von "Zeno"

    und vor allem hat es den Pluspunkt, eine einigermaßen erhaltene Altstadt zu haben, was in München infolge der modernen Überformung leider fehlt.


    Ich habe eher den Eindruck in München sei, obwohl es einen geringeren Zerstörungsgrad als Nürnberg aufwies, selbst in der Altstadt nach dem Krieg mehr rekonstruiert worden. München dürfte seinem Vorkriegszustand näherkommen als Nürnberg.

    "Meistens belehrt uns der Verlust über den Wert der Dinge."
    Arthur Schopenhauer

  • Zeno hat geschrieben:

    Zitat

    Dass man in Nürnberg offiziellerseits nicht auf seine große Vergangenheit und seine Altstadt stolz ist, ist absolut nicht nachvollziehbar. Das Pfund, mit dem man wuchern könnte, geheimzuhalten und möglichst kaputtzumachen, ist absurd, in Nürnberg aber wohl Programm. Wenn es um die Vergangenheit geht, dann hat man wohl vergessen, dass Nürnberg eine der bedeutendsten Städte dieser Welt war. Man tut so, als bestünde Nürnbergs Vergangenheit aus den Jahren 1933 - 1945. Und dafür schämt man sich offenbar so unendlich, dass dieses Thema immer und immer und immer wieder thematisiert wird.

    Ja, das ist dort sicherlich das größte Problem. Bei einer Führung im Dokuzentrum RPG sagte man mir einmal, die NS-Zeit würde für Nürnberg nur noch so museal eine Rolle Spielen. Das Gegenteil ist natürlich der Fall und es ist genau so, wie Zeno schreibt. Daß Nürnberg ohne weiteres die wichtigste Stadt in Europa war, die uns aus der Übergangszeit zwischen Spätmittelalter und früher Neuzeit überkommen war, scheint in Deutschland wie außerhalb vergessen. Die Stadt könnte einiges seiner früheren Schönheit und Qualität zurückgewinnen, tut dies aber absichtlich nicht.

    VBI DOLOR IBI VIGILES