Architekturtheorie im Jugendbuch der 1960er Jahre

  • Architekturtheorie im Jugendbuch der 1960er Jahre


    Ich mache mal den Beginn mit einer bekannten Jugendbuchreihe:

    "Was ist Was" Band 23: Von der Höhle bis zum Wolkenkratzer

    Die Ausgabe, die ich zur Hand habe, stammt von 1964. Besonders interessante (und amüsante) Stellen möchte ich hier mal aufführen. Man bedenke, dass diese Literatur auch das Wissen und Denken der damaligen jugendlichen Generation prägte und prägt. Trotzdem viel Spaß beim Lesen.



    Quelle:

    Was ist Was. Band 23: Von der Höhle bis zum Wolkenkratzer. Nürnberg: Tesloff Verlag 1964


    Interessanterweise wird der Band auf der HP nicht mehr aufgeführt (siehe hier).
    Wahrscheinlich war denen der Band einfach zu peinlich.

  • Das ist ja echt klasse! Besonders amüsant ist die Stelle, ziemlich am Anfang:

    Zitat

    Und all das wirkte sich auch auf den Menschen aus: Zielbewußter und sachlicher als je zuvorbegegnete er dem Leben.

    ... als würden sich menschliche Gefühle innerhalb von Jahrzehnten ändern lassen... das ist wahrscheinlich der Grundfehler der Modernen Architektur: Sie hängt immer noch dem Denken an, sie könne den Menschen emotional steuern. Wenn dem Bewohner einer Stadt nur lange genug die subjektiven Vorteile erläutert werden, findet er spitze Ecken und schnurgerade Linien auf einmal schöner als runde, organische Formen. "Form follows function" soll auf einmal Ersatz für Geborgenheit und kleine, humane Strukturen sein - das kann nicht klappen.

    Für uns in Deutschland ist das aber eine große Einbusse an Lebensqualität und ästhetischen Reizen im Alltag, siehe "Palast der Republik": wer da tagtäglich draufblicken muss tut mir aufrichtig leid.

    Ganauso die Bewohner Pforzheims: Eigentlich eine Unverschämtheit, was denen angetan wurde: Erst die fast vollständige Zerstörung im WWII und dann ein solch grottenschlechter Wiederaufbau, das bestimmt keiner der damaligen Planer noch in der Stadt wohnt (die leben doch alle in den Dörfern drum rum denke ich - lasse mich aber auch gern korrigieren).

  • Hallo Jürgen, ähnlich verhält es sich mit dieser lustigen Stelle:

    Zitat

    Die moderne Architektur hat deshalb an Schönheit nichts eingebüßt. Aber es handelt sich um eine Schönheit, die mit anderen Augen betrachtet sein will, die sich nicht mehr im verschnörkelten Detail, sondern in der strengen, klaren Linie eines harmonischen Ganzen offenbart.


    Wir müssen erstmal lernen wie man sieht, damit man die Schönheit erkennt. Und wenn man das nicht schafft oder will, Pech gehabt.

  • Ja, genau, und Claudia Schiffer und Angelina Jolie sind eigentlich hässlich, wohingegen Angela Merkel von einer ganz elitären, sachverständigen Expertenriege durch viele theoretische Begründungen zum Playmate des Jahres gekürt wird, hihihi... :grinsenlachen: :verrueckteaugengelb:

  • Zitat

    Sie sind Ausdruck eines neuen Schönheitsempfindens, sie sind die Antwort des Menschen auf die Fragen und Anforderungen eines neuen Zeitalters.

    Hier "weiß" jemand aber ganz genau, wa die Menschen des neuen Zeitalters schön finden.

    Ich finde es wirklich toll, wie manche "Experten" immer ganz genau zu wissen scheinen, was die Menschen eigentlich wollen, was sie eigentlich schön finden, etc., ohne dass sie auch nur eine einzige demoskopische Erhebung zu dem Thema in Auftrag gegeben bzw. zu Rate gezogen hätten.

    Das Gleiche wieder in der Debatte in Frankfurt: Der eine "weiß", dass die Menschen nicht in Fachwerkhäusern leben wollen; der andere "weiß", dass eigentlich überhaupt niemand Fachwerkhäuser will, sondern dass der Wunsch nach Fachwerk in Wahrheit für den Wunsch nach was ganz anderem steht, usw.

    Und das alles "weiß" man natürlich von Anfang an, ohne dass auch nur ein Mensch zu dem Thema befragt worden wäre. Ich bin beeindruckt.

  • was mich an dieser stelle erstaunt, ist dass Prof. Dr. B. P. Michailow in der "Großen Sowjet-Enzyklopädie Architektur" (ein für eine große Enzyklopädie erstaunlich kleines und dünnes Büchlein) von 1950 (in der deutschen Übersetzung im Bruno Henschel Verlag Berlin 1951 erschienen) teilweise wortwörtlich die selben Sätze verwendet, wie Dr. Rudolf Wolters in "Neue Deutsche Baukunst" (Hrsg. Albert Speer) von 1941. Es wurde nur "nationalsozialistisch" durch "sowjetisch" ersetzt.

    Bei Gelegenheit poste ich mal einige Zitate aus den beiden Büchern, die von ihrer ideologischen Färbung abgesehen tatsächlich recht interessante Quellen darstellen.

    "... es allen Recht zu machen, ist eine Kunst, die niemand kann..." (Goethe)

  • Die folgenden Auszüge stammen zwar nicht aus den 1960er Jahren, dafür aber aus einem nur wenig früher erschienen Schulbuch, das m. E. ebenfalls die zeitgeistigen Vorstellungen von Architektur vermittelt, genauergesagt dem Wiederaufbau unserer Städte nach dem Zweiten Weltkrieg.

    Das Schulbuch "Landschaft und Wirtschaft. Staat und Gesellschaft" für die 6. Klasse ist 1956 im Seydlitz-Verlag erschienen. Dort gibt es ein Kapitel "Die deutsche Stadt", auch mit Bildern, über die Geschichte des Städtebaus in Deutschland seit dem Mittelalter.

    Abfotografiert habe ich hiervon die Seiten, die Kriegszerstörung und Wiederaufbau zum Thema haben:






  • Au Mann, die Gegenüberstellung in Münster schmerzt ja zu sehen. Dass die Vereinfachungen so heftig waren, hatte ich bisher gar nicht realisiert. Ansonsten aber ein hochinteressanter Thread. Dabei muss ich zu meiner Schande gestehen, dass ich so mit 10 fast alle Was ist Was-Bände besessen habe. :peinlich:

  • Zitat von "RMA"

    Au Mann, die Gegenüberstellung in Münster schmerzt ja zu sehen. Dass die Vereinfachungen so heftig waren, hatte ich bisher gar nicht realisiert.

    Sehr interessant fand ich auch die Argumentation für diese Art "vereinfachten" Wiederaufbau (auch wenn es "nur" ein Schulbuch ist). Keineswegs war davon die Rede, dass sich ein verarmtes Nachkriegsdeutschland eine originalgetreue Rekonstruktion z. B. in Münster nicht habe leisten können. Nein, man wollte die Formen dem "modernen, strengen Stillwillen" anpassen. Also eine rein ideologische - nicht materielle - Argumentation.

    Die Behauptung, dass sich Deutschland (West wie Ost) beim Wiederaufbau keine Rekonstruktionen "leisten" konnte, sind doch nichts als faule Ausrede. Ex-NS-Architekten wie Bauhäusler waren doch innerlich voll klammheimlicher Freude über den Untergang der alten Stadtkerne, und warteten nur darauf, ihre schon vor 1945 längst in den Schubladen liegenden städtebaulichen "Visionen" in die Tat umsetzen zu können.

  • Zitat von "RMA"

    Au Mann, die Gegenüberstellung in Münster schmerzt ja zu sehen. Dass die Vereinfachungen so heftig waren, hatte ich bisher gar nicht realisiert.

    Ja, so ist es. Vor dem Hintergrund verstehe ist die ganze Zeit nicht, warum Münster immer so gelobt wird. Der alte Prinzipalmarkt sah völlig anders aus.
    Zusätzlich bedenke man, dass es nur eine Straße der Gesamtstadt ist. Der Rest der Altstadt wurde genau so gnadenlos modernisiert, die Straßen verbreitert usw. wie in Dortmund oder Frankfurt.

  • Hat man in Münster die Parzellengrößen eigentlich verändert, oder wären prinzipiell einzelne Fassadenrekonstruktionen möglich?

  • Besonders erschreckend finde ich das Nachkriegsarchitekten wie Gerhard Siegmann und Hans Wolff-Grohmann in Berlin in einem regelrechten Zerstörungswahn waren und nicht nur kriegsbedingte Ruinenfelder mit modernen Betonkisten verschandelten, sondern auch intakte und unzerstörte Viertel abreissen ließen um diese dann bis zur Unkenntlichkeit zu verändern. Diese Gedankenwelt der Nachkriegsarchitekten werde ich niemals nachvollziehen können...

    ...

  • Zitat von "RMA"

    Hat man in Münster die Parzellengrößen eigentlich verändert, oder wären prinzipiell einzelne Fassadenrekonstruktionen möglich?

    Ja und nein, soweit ich weiß wurden die Parzellengrößen eingehalten, das ganze Ensemble steht allerdings unter Denkmalschutz und sehr viele Münsteraner wissen nichteinmal, dass der jetzige Prinzipalmarkt ein Kind der 50er ist.

    Wo die Sonne der Kultur niedrig steht, werfen selbst Zwerge lange Schatten
    Karl Kraus (1874-1936)

  • Zitat

    a, so ist es. Vor dem Hintergrund verstehe ist die ganze Zeit nicht, warum Münster immer so gelobt wird. Der alte Prinzipalmarkt sah völlig anders aus.
    Zusätzlich bedenke man, dass es nur eine Straße der Gesamtstadt ist. Der Rest der Altstadt wurde genau so gnadenlos modernisiert, die Straßen verbreitert usw. wie in Dortmund oder Frankfurt.

    Uiuiui. Wohl einen schlechten Tag gehabt? Die drei Städte in einen Topf werfen heißt wohl mindestens zwei davon nicht zu kennen. Über die Qualität des Wiederaufbaus von Münster kann man sicher viel streiten. Objektiv ist jedoch, dass sich Münster gegen die damals herrschenden Dogmen des Städtebaus entschieden hat. Insbesondere durch:
    a) Weitgehende Beibehaltung der historischen Blockstruktur b) keine „Autostadt“ (die Tangenten wurden im Rechteck um die Altstadt geplant, wovon dann nur im Norden zu Lasten der Altstadt abgewichen werden musste – zum Glück für das ansonsten betroffene wertvolle, weitgehend erhaltene Wohngebiet!) c ) die Stadt erlaubte sich Gestaltungsvorgaben (als „speerlicher Städtebau“ verunglimpft).
    Das sah und sieht in Dortmund und Frankfurt anders aus….

    Die gesamte Altstadt ist durch den Versuch eines altstadtgerechten Wiederaufbau geprägt. Sicher: Keine Rekos, keine Ensembles. Aber anscheinend ist vielen auch schwer vorstellbar, was ein Zerstörungsgrad von über 90% heißt.


    Zitat

    Hat man in Münster die Parzellengrößen eigentlich verändert, oder wären prinzipiell einzelne Fassadenrekonstruktionen möglich?


    Die Parzellen sind weitgehend erhalten. Nicht zuletzt, weil ja die „Prinzipale“ den Wiederaufbau ihrer Häuser organisierten. Das Interesse an einem schönen Stadtbild ist hier recht hoch. Rekowünsche ergeben sich daraus aber nicht…

    Zitat

    Ja und nein, soweit ich weiß wurden die Parzellengrößen eingehalten, das ganze Ensemble steht allerdings unter Denkmalschutz und sehr viele Münsteraner wissen nichteinmal, dass der jetzige Prinzipalmarkt ein Kind der 50er ist.

    Das halte ich aber für ein Gerücht. Denn die meisten kennen die Geschichten von einer angeblichen Planung der Reko abseits der Altstadt damals und die im Vergleich zum Vorkriegszustand versetzten Säulen der Arkaden. DAS sind die Gerüchte, an die hier geglaubt wird ;)

    Zitat
  • Es ist eigentlich immer recht spannend zu ergründen, wie die Denkhaltungen waren zu bestimmten Zeiten und wie sich das auf den Umgang mit Gebäuden bzw. dem Bauen ausgewirkt hat. Zu den 60ern hat der BR mal wieder ein interessantes Schlaglicht produziert - natürlich mit bayrischer Färbung, aber unbedingt sehenswert für alle:

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