Das Kaiserreich im Rückblick

  • Das alles ist im Nachhinein schwierig zu beurteilen, weil wir 2021 im besten Deutschland aller Zeiten leben.

  • KWII hat wohlfahrtsstaatliche Politik ja nicht abgelehnt sondern eingeführt.

    Also die Sozialgesetzgebung (Krankenversicherung, Unfallversicherung) wurde nicht von Wilhelm II, sondern zuvor schon von Bismarck eingeführt.

    Dies natürlich nicht nur aus Sorge um das "Wohl der Untertanen", sondern um der ständig stärker werdenden Arbeiterbewegung den Wind aus den Segeln zu nehmen.

    Kaiser Wilhelm II. verkündete in einer Proklamation an sein Volk die Devise „Je veux être un roi des gueux“ (dt. „Ich will ein König der Bettler sein“).

    Nun hat Wilhelm II sicher keinen bescheidenen Lebensstil gepflegt. Selbst für einen Monarchen hatte er ein gesteigertes, kostspieliges Repräsentationsbedürfnnis. Angefangen von seiner Kleidung (er wechselte mehrmals am Tag die Uniformen) bis zu dem (Wiederauf-) Bau von Schlössern und sonstigen Gebäuden.

    Interessant für die Thematik des Forums hier wäre inwieweit Wilhelm II - der sich ja durchaus für Städtebau und Architektur interessierte und einzelne Gebäude ja auch persönlich kritisierte oder finanziell unterstützte - sich für die Wohnverhältnisse der breiten Masse seines Volkes interessierte.

    Ich habe hierzu nicht viel gefunden, aber vielleicht kann jemand etwas beisteuern.

    Einige hier träumen sich ja gerne in die Zeit des Kaiserreichs zurück und haben dabei wohl die Architektur und Wohnverhältnisse des Adels oder (Groß-)Bürgertums vor Augen.

    Dies war natürlich weit entfernt davon wie der überwiegende Teil der Menschen im Kaiserreich wohnte.

    Der Großteil der Bevölkerung lebte in ärmlichen Verhältnissen auf dem Land oder als Arbeiter in den Hinterhöfen der Großstädte. Eine mehrköpfige Familie lebte dann dort in einen einzigen Raum, ein einziges Zimmer zum Wohnen, Kochen, Essen, Schlafen...für zahlreiche Personen. Und das war die Realität für den Großteil der arbeitenden Bevölkerung, nicht zu Reden von Bettlern.

    Inwieweit interessierte sich der Kaiser (außer allgemeiner Stadtplanung) dafür, war "der König der Bettler" jemals in einer solchen Wohnung?

  • Also die Sozialgesetzgebung (Krankenversicherung, Unfallversicherung) wurde nicht von Wilhelm II, sondern zuvor schon von Bismarck eingeführt.

    Das hat doch auch unify überhaupt nicht in Abrede gestellt?

    Nur gab es wesentlich mehr soziale Dinge welche Wilhelm II einführte.

    Da zu schrieb ich aber bereits einiges und hinterließ diesbezüglich auch Dokumentationen hier in diesem Thema - aber anschauen muß man sich die schon selbst.

  • Das alles ist im Nachhinein schwierig zu beurteilen, weil wir 2021 im besten Deutschland aller Zeiten leben.

    Oh, wie Recht Du da doch hast.

    Die armen Leute zu des Kaisers Zeiten hatten ja nicht einmal ein Smartphone, ja auch einen PC mit Internetanschluß hatten sie nicht (möglicherweise noch nicht einmal einen Fernseher)

    Stattdessen mußte für einen mageren Lohn über 72 Stunden die Woche Qualitätsarbeit geleistet werden, ja - ein Haus mußte ordentlich gebaut sein und auch noch gut aussehen (mit anderen Produkten sah es auch nicht viel anders aus).

    Dann stellten sich Leute zur verbliebenen Freizeitgestaltung auch noch ein sperriges Möbel namens Klavier ins Haus und das Töchterlein wurde dann zur schlechtbezahlten Klavierlehrerin geschickt, welche ihr Mozart und Clementisonaten einprügelte.

    Und so mal schnell per Telko mit seinen Freunden verständigen - nein, man mußte sich erst mühselig zum Stammtisch schleppen wenn man sie sehen wollte.

    Und von wegen "mal schnell ne WhatsApp" - stell Dir vor wie schlecht die dran waren: die mußten mittels einer Feder und einem Faß voll Tinte es mit der Hand aufschreiben, dann mußte das ganze auch noch in einem Briefumschlag, welcher dann umständlich mit Siegel und Siegellack zugemacht werden mußte und dann mußte der erst einmal auf das nächste Postamt gebracht werden.

    Auf ne Antwort konnt man dann ewig warten!

  • Das hat doch auch unify überhaupt nicht in Abrede gestellt?

    Natürlich hat er.

    Also nichts gegen Unify persönlich, aber die Ausführung, dass "Wilhelm II die wohlfahrtsstaatliche Politik eingeführt hat", ist eben falsch.

    Wie getippt wurde die Krankenversicherung und Unfallversicherung von Bismarck ins Leben gerufen - und natürlich ist das "wohlfahrtsstaatliche Politik".

  • Wilhelm II war sicher einer ambivalente Persönlichkeit.

    Ich kann auch nachvollziehen, wie manch einer hier versucht, den zahlreichen negativen Darstellungen des Kaisers in den vergangenen Jahrzehnten etwas entgegenzusetzen. Natürlich gab und gibt es einseitige Darstellungen, in denen entweder auch die Schuld anderer auf ihn abgeladen wurde oder der historische Kontext nicht ausreichend berücksichtigt wurde.

    Es sei auch jedem hier unbenommen, die postiven Eigenschaften und Handlungen von Wilhelm II darzustellen.

    Und natürlich kann das jeder auf eine wissenschaftliche oder nicht-wissenschaftliche Art tun (ob dies alles in einem Architekturforum geschehen muss sei dahingestellt).

    Man schafft nun jedoch kein objektives Bild, wenn man quasi als Gegengewicht zu den o.g. Darstellungen eine Glorifizierung des Kaisers betreibt und denkt, durch Übertreibungen eine Art gerechten Ausgleich herbeizuführen.

  • Wir sollten hier aber auch mal zwei taktische Unterschiede zwischen Bismarck und Wilhelm II sehen:

    Bismarcks Ziel war es die Kommunisten/Sozialisten mittels mehr sozialer Politik und dem Erlaß eines "gewissen Gesetzes" unbrauchbar zu machen.

    Wilhelm II Ziel hingegen war, mit diesen "Kräften" zu kooperieren um auch den ärmeren Schichten ein (Landes)Vater zu sein.

    Welche Strategie nun die bessere war, darüber kann man geteilter Meinung sein.

    Ich für meinen Teil denke, Otto von Bismarck hatte mit seiner Strategie mehr Erfolg, Wilhelm der II hingegen hatte dafür wesentlich mehr Anhänger im Volk.

  • Sehr geehrter newly,

    mit der Formulierung vom ‚Gegengewicht’ haben Sie nicht so ganz unrecht.

    Durch das Einsetzen eines Gegengewichtes erlangt man nämlich einen austarierten Zustand.

    Objektivität ist hingegen ein hehres Ziel, welches jeder gerne im Munde führt, dessen letztendliche Erreichbarkeit allerdings höchst zweifelhaft sein dürfte.

    Für meine Begriffe ist das Bemühen um Fairness ein wesentlich realisierbareres Unterfangen.

    Was man anstreben sollte, ist eine Gesellschaft, in der beide Sichtweisen sich gegenseitig tolerieren können, bis hin zum Akzeptieren öffentlicher Gedenkkultur:

    So wie der konservative Teil des Volkes alte und neue Marx-Denkmäler (Berlin bzw. Trier) hinzunehmen bereit ist, so sollte auch das linke Spektrum neben dem Wilhelm von der Kölner Hohenzollern-Brücke neue Plastiken und Statuen des Kaisers dulden können.

    Und zwar Denkmäler, die ihn eher als ‚scheuen Intellektuellen’ (so eine Charakterisierung durch seinen Enkel Louis Ferdinand) als als bramarbarsierenden Soldaten zeigen.

    Sollte das ein Selbstzweck sein ?

    Nein !

    Und hier komme ich zu Ihrer Frage nach dem Sinn dieses ganzen Themas auf einem Architekturforum:

    Neben der Fairness für einen Menschen und seine Lebensleistung geht es m.E. darum, das folgende ungute Junktim endlich aufzulösen:

    Bauen unter Bezug auf die europäische Bautradition = Historismus = Kaiser Wilhelm = Schlecht = Tabu

    => Nur ein Bauen im Sinne des ‚Bauhauses’ ist legitim…


    P.S.:

    Ein großer Prozentsatz der Fehlentwicklungen in diesem Lande, die Viele von uns beklagen, liegt m. E. daran, daß diese Gesellschaft im tiefsten Unterbewußtsein seit nun gut hundert Jahren einen uneingestandenen Vatermord mit sich schleppt; den 'politischen' Mord an der Person, die durch ihre in vielerlei Hinsicht (sozial und landsmannschaftlich) versöhnenden Aktivitäten aus dem von Bismarck mit Gewalt zusammengefügten Staatenbund das einheitliche Deutschland überhaupt erst geschaffen, sozusagen 'galvanisiert' hat - und das ohne den essentiellen Föderalismus zu gefährden.

    Es geht hier also nicht um Glorifizierung, sondern um Heilung tiefsitzender Wunden, die - solange sie nicht versorgt werden - sich letztlich eben auch in einer stetig zunehmenden Verhäßlichung unserer Stadtbilder auswirken...

  • Bismarcks Ziel war es die Kommunisten/Sozialisten mittels mehr sozialer Politik und dem Erlaß eines "gewissen Gesetzes" unbrauchbar zu machen.

    Wilhelm II Ziel hingegen war, mit diesen "Kräften" zu kooperieren um auch den ärmeren Schichten ein (Landes)Vater zu sein.

    Also Wilhelm II wollte mitnichten mit Kommunisten oder Sozialisten kooperieren, noch nicht einmal mit der SPD.

    Er war überzeugt vom Gottesgnadentum des Monarchen und lehnte jeden Schritt in Richtung einer weiteren Demokratisierung wie eine gewählte Regierung oder auch nur eine weitere Einflussnahme der Sozialdemokraten strikt ab.

    Und dies obwohl im Laufe seiner Regierungszeit der Stimmenanteil der Sozialdemokraten bei jeder Reichstagswahl erheblich anwuchs. Bei der letzten Wahl 1912 waren es 34,8 %.

    Die unterschiedliche Motivation (im Vergleich zu Bismarck) für eine Sozialgesetzgebung mag zu Beginn der Regierungszeit von Wilhelm II gegeben sein. Er wollte wohl als Landesvater gesehen werden, und um beim Vaterbild zu bleiben: wie ein Vater von unmündigen Kindern, für die er (aus seiner Sicht) gut sorgte, die sich dann aber auch dankbar fügen sollten.

  • Sehr geehrter newly,

    für meine Begriffe zeugt es von menschlicher uns systemischer Reife, daß Wilhelm II. im Besonderen und das Kaiserreich im Allgemeinen bereit waren, die öffentliche Infragestellung der verfassungsmäßigen Ordnung von 1871 durch die Sozialdemokratie zu tolerieren.

    Hingegen scheinen die SPD und alle ihre Tochterparteien (USPD, KPD, SED, Grüne, PDS, Die Linke) es bis heute gar nicht gut ‚verknusen’ zu können, daß der Kaiser und auch verantwortungsvolle Unternehmerpersönlichkeiten und Industriepatriarchen vom Schlage eines Alfred Krupp oder eines Siemens, mit ihren auf das Wohl der arbeitenden Bevölkerung abzielenden Maßnahmen, den Alleinvertretungsanspruch der SPD für die Belange der Arbeiterschaft zu sprechen, in Zweifel gezogen haben.

    Vor diesem Hintergrund wäre es sicherlich einmal ganz interessant, die Protokolle der Verhandlungen, die der Einführung des Grundgesetztes vorausgingen, unter der Fragestellung zu betrachten, wer letztendlich für die Aufnahme der Bestimmung zur republikanischen Staatsform unter die Normen mit ‚Ewigkeitsstatus’ verantwortlich zeichnete: Die West-Alliierten oder doch eher die Parteien der Linken ?

    Eine Folge dieser Norm ist jedenfalls, dass keine Partei, die die Einführung einer parlamentarischen Monarchie propagierte, vom Bundeswahlleiter zugelassen würde.

    In der Bilanz hat die Bundesrepublik damit ein deutliches Toleranz- und Meinungsfreiheitsdefizit gegenüber dem Kaiserreich.


    Stichwort ‚Parlamentarische Monarchie’:

    Immer wenn – wie in Ihrem obigen Beitrag – vom ‚Gottesgnadentum’ gesprochen wird, dann geschieht das mit einem Unterton, der - zumindest bei der weiteren Bevölkerung – Vorstellungen von finsterster autokratischer Despotie evoziert (und dies wohl auch soll).


    Dabei sind Gottesgnadentum und Demokratie kein Widerspruch, wie das Englische System beweist:

    Bis heute versteht Elisabeth II. unter ihrer Eigenschaft eine ‚regina dei gratia’ zu sein, kein Privileg zum unumschränkten Ausleben ihres persönlichen Willens, sondern ganz im Gegenteil eine sie extrem fordernde, besonders anspruchsvolle Verantwortung gegenüber Gott. Nie wäre es ihr in den Sinn gekommen, das Gottesgnadentum gegen die Demokratie und die parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung in Stellung zu bringen.

    Und - auch wenn ich dies natürlich letztlich nicht beweisen kann - Wilhelm II. hätte dies im Falle einer evolutionären Weiterentwicklung des Kaiserreichs auch nicht getan. Er hätte die Reformen des Jahres 1918 (eingeführte Verantwortlichkeit der Reichsregierung dem Reichstag gegenüber) sich entfalten lassen...

  • Queen Mary von Teck an ihre älteste Enkeltochter:

    Anbei eine - natürlich in keiner Weise als historische Quelle verwertbare aber dennoch sehr anschauliche - schauspielerisch fiktive 'Aufarbeitung' des Begriffs 'Gottesgnadentum':

    (Aus der Netflix-Serie 'The Crown'))

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  • Dabei sind Gottesgnadentum und Demokratie kein Widerspruch, wie das Englische System beweist

    Doch ist es, zumindest so wie es Wilhelm II und seine Vorgänger verstanden.

    Es ist ein grundlegender Unterschied, ob die Legitimation vom Volk bzw. von der gewählten Volksvertretung kommt oder der Monarch in seinem Selbstverständnis davon ausgeht, er sei allein von Gott dazu bestimmt und eingesetzt worden.

    Genau dieses Selbstverständnis hatte jedoch Wilhelm II, entsprechend seine Geringschätzung des gewählten Reichstages als "Reichsaffenhaus".

    Entsprechende Ablehnung hatte i.Ü. Friedrich Wilhelm IV, der die Kaiserkrone der gewählten Nationalversammlung u.a. auch aufgrund seiner Vorstellung vom Gottesgnadentum ablehnte.

    Es mag sein, dass in England, und zumal die Queen es heute anders interpretieren (das Gegenteil wäre in der Öffentlichkeit wohl auch kaum vermittelbar), dies ändert jedoch nichts an der Vorstellungswelt des Kaisers.

    für meine Begriffe zeugt es von menschlicher uns systemischer Reife, daß Wilhelm II. im Besonderen und das Kaiserreich im Allgemeinen bereit waren, die öffentliche Infragestellung der verfassungsmäßigen Ordnung von 1871 durch die Sozialdemokratie zu tolerieren.

    Ich kann wenig Reife erkennen. Die Politik und Denkweise des Kaisers war oft sprunghaft und kurzsichtig. Die Gesellschaft veränderte sich rasant in Deutschland, allein das politische System blieb starr. In Preußen gab es sogar noch das Dreiklassenwahlrecht, im Reich bestimmte der Kaiser die Regierung, nicht die gewählte Volksvertretung.

    Und Wilhelm II beharrte darauf, dass alles beim Alten bliebe.

    Allein aus den Wahlergebnissen für die SPD lässt sich schon ablesen, dass einem im größer werdenden Teil der Bevölkerung diese Situation, wie auch die sozialen Wohltaten des Kaisers und einzelner Unternehmer, bei weitem nicht genügten.

    Das konnte damals schon Wilhelm II nicht nachvollziehen (und ich fürchte einige heute auch nicht...)

    Was für den einen eben unglaubliche soziale Leistungen waren, für die man dankbar sein sollte, waren für viele nur Krümmel, die vorne und hinten nicht reichten.


    Der entsprechende Passus in der Verfassung, der das Kaiserreich faktisch zu einer parlamentarischen Demokratie machte kam - natürlich viel zu spät um das System zu retten - erst im Oktober 1918 .

    Entsprechend wurde sogar diese symbolische Inschrift über dem Reichstagsportal ("dem Deutschen Volke") erst im Weltkrieg angebracht - selbst diese Selbstverständlichkeit musste dem Kaiser abgerungen werden.

    Hingegen scheinen die SPD und alle ihre Tochterparteien (USPD, KPD, SED, Grüne, PDS, Die Linke) es bis heute gar nicht gut ‚verknusen’ zu können, daß der Kaiser...

    Ich glaube für alle heutigen Parteien (von SPD bis CDU und FDP) ist der Kaiser vollkommen irrelavant.


    Vor diesem Hintergrund wäre es sicherlich einmal ganz interessant, die Protokolle der Verhandlungen, die der Einführung des Grundgesetztes vorausgingen, unter der Fragestellung zu betrachten, wer letztendlich für die Aufnahme der Bestimmung zur republikanischen Staatsform unter die Normen mit ‚Ewigkeitsstatus’ verantwortlich zeichnete: Die West-Alliierten oder doch eher die Parteien der Linken ?

    Sie glauben nicht ernsthaft, dass irgendwer 1949 beabsichtigte in Deutschland wieder die Monarchie einzuführen oder dass irgendwer glaubt(e), dass dies überhaupt irgendwann wieder einmal geschehen würde.


    Eine Folge dieser Norm ist jedenfalls, dass keine Partei, die die Einführung einer parlamentarischen Monarchie propagierte, vom Bundeswahlleiter zugelassen würde.

    In der Bilanz hat die Bundesrepublik damit ein deutliches Toleranz- und Meinungsfreiheitsdefizit gegenüber dem Kaiserreich.

    Es fällt noch mehr unter die "Ewigkeitsklausel". Etwa der Bundesstaat (d.h. kein Zentralstaat wie in Frankreich), die Demokratie (d.h, auch deshalb keine Verfassung à la 1871).

    Daraus abzuleiten dass ein "deutliches Toleranz- und Meinungsfreiheitsdefizit gegenüber dem Kaiserreich" bestünde, ist sehr skurril.

  • Ich weiß es nicht, ob es so überaus sinnvoll ist, dass man, soferne man die Kaiserzeit wertschätzt, wozu schon mal der eine oder andere Grund bestehen könnte, dies sosehr an den Personen der jeweiligen Monarchen dingfest machen will. Ich fürchte, dass euer Willi eine ähnliche Intelligenzbestie war wie unser Franzl. Damit ist natürlich noch nichts über deren Charakter gesagt, allerdings dürfte das bescheidene Intelligenzniveau de facto dazu beigetragen haben, dass die Charakterzüge nicht besonders zum Tragen gekommen sind. Sprich: unsere Monarchen waren eher Repräsentanten als wirkliche Entscheidungsträger. Dazu wären sie schlicht zu blöd gewesen, und das wusste man, und das wussten auch sie, dass man das wusste. Hinsichtlich FJ kann man sich jedenfalls dessen sicher sein. Ich weiß es nicht, ob es ein Bauwerk gibt, dass einen wahren Einblick in Willi Zwos wirkliche Wesensart gewährt. Was FJ betrifft, so gibt es ein derartiges, die Kaiservilla in Ischl, und der Befund ist höchst trostlos, glaubt mir. Die Kaiserzeit ist etwas anderes als die nominell an der Spitze stehenden Personen.

    Augustinus (354-430) - Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat
    14. Buch 9. Kapitel
    Der Staat oder die Genossenschaft der nicht gottgemäß, sondern nach dem Menschen wandelnden Gottlosen dagegen, die eben infolge der Verehrung einer falschen und der Verachtung der wahren Gottheit Menschenlehren anhangen oder Lehren der Dämonen, er wird von den bezeichneten verkehrten Gemütserregungen geschüttelt wie von Fieberschauern und Stürmen.

  • Mir gefällt die Kaiservilla in Ischl äußerlich schon. Sie orientiert sich etwas am antiken Landhaus, jedenfalls ist es ein schlichter, südländisch angehauchter Klassizismus. Aber über Geschmack wollen wir nicht streiten.

    Zum Gottesgnadentum: Selbstverständlich entspricht das dem klassischen monarchischen Selbstverständnis. Der Monarch stammt von den Göttern ab oder ist ein von Gott indirekt Eingesetzter bzw. dessen irdischer Arm. Würde der Monarch vom Volk gewählt, wäre er ein Präsident oder Tribun. Oder ein um Zustimmung des Volkes buhlender "Bürgerkönig" als Produkt des monarchischen Verfalls. Einem Monarch sein göttliches Selbstverständnis vorzuwerfen, ist also so, als würde man einem Ministerpräsidenten vorwerfen, das Volk als Souverän zu betrachten.

    Davon unterscheiden muss man den monarchischen Absolutismus. Denn ein Monarch muss ja keinesfalls die alleinige Regierungsgewalt haben, sondern meist in der Geschichte teilt er sie mit aristokratischen und demokratischen Institutionen. Wenn er nicht überhaupt nur eine symbolische Gewalt inne hat.

    Das 2. dt. Kaiserreich war kein Absolutismus, sondern hatte ein Geflecht aus monarchischen, aristokratischen und demokratischen Machtbefugnissen. Es war auf jeden Fall demokratischer strukturiert als das Heilige-Römische Reich dt. Nation. Und jenem wird das meist nicht vorgeworfen.

    Davon unberührt ist natürlich, wie man die Regierung des jeweiligen Monarchen betrachtet.

    Letztlich ist es doch so: Wäre Wilhelm II. 1913 verstorben, gäbe es heute nur noch ein paar unverbesserliche Sozialisten, die vielleicht immer noch wegen der Sozialistengesetze nachtreten wollen. Ansonsten würde Wilhelms dann 25-jährige Regierungszeit aber vom größten Teil des Volkes als eine glückliche Zeit der Prosperität und der Stabilität wertgeschätzt.

    Was ihm heute vorgeworfen wird, ist erstens, dass er das Land in den 1. Weltkrieg führte, zweitens, dass er den Krieg verlor. Denn Sieger werden immer umjubelt, selbst wenn es die größten Halunken gewesen sind. Alles andere, z.B. ob Wilhelm als Greis Hitler mal eine Glückwunschkarte geschickt hat, ist dagegen völlig unwichtiges Pillepalle.

    Somit kommt man dann zwangsläufig immer an die Frage, welchen Anteil der Kaiser am Kriegsausbruch und an der deutschen Beteiligung hatte. Und ob er die Folgen wirklich überblicken konnte. Und ob er auch Anteil an der Niederlage hatte. Und dann, ob dieser Krieg alles Positive, das in den 25 Jahren davor geschah, einfach fortwischte. Und, ob die Kriegsniederlage alles Positive im Kaiserreich in toto zunichte gemacht hat.

    Da ich eine Kriegsschulddiskussion nicht führen möchte und auch dieses Forum eine solche nicht zufriedenstellend lösen kann, bliebe einfach die Frage, was gefällt dem einen an der Zeit des Kaiserreichs, was bewundert er? Und, was missfällt dem anderen an der Zeit des Kaiserreichs, was lehnt er ab? Und (gesetzt Fall 2), was hätte besser gemacht werden sollen, unter der Maßgabe, ob es in der Zeit durch Bewusstsein und äußere Umstände bedingt wirklich möglich gewesen wäre, dies oder das anders zu machen?

  • Eine der meiner Meinung nach unseligsten Entwicklungen in der öffentlichen Betrachtung von Geschichte ist die Tendenz, Geschichte immer nach heutigen moralischen Maßstäben zu beurteilen. Jeder aber ist Kind seiner Zeit und von den Werten seiner Epoche geprägt. Es ist also ziemlich illusorisch, von einem Monarchen des 19. Jhs aus hochadeligem Hause mit jahrhundertelanger Regierungstradition und dementsprechendem Selbstverständnis sowohl gesellschaftlicher als auch persönlicher Art zu erwarten, dass er die Idee des Gottesgnadentums einfach so über Bord werfen sollte - selbst wenn die Zeichen der Zeit damals schon zu erkennen gaben, dass diese Herrschaftsform in unwiderruflichem Niedergang begriffen war. Es ist nur allzu menschlich, dass man, solange es geht, an seinem Weltbild und Selbstverständnis festhält, alleine schon aus Gründen der Fortführung der Familientradition.

    Heute wird - zumindest in der Öffentlichkeit und in den Medien - aber nur als positiv gewertet, was den Weg zu Gleichheit und Demokratie geebnet und unterstützt hat, alles andere ist augenscheinlich Müllhalde der Geschichte, die zurecht überwunden worden ist. Eine sehr arrogante und ideologische Sicht der Dinge wie ich finde.

    "In der Vergangenheit sind wir den andern Völkern weit voraus."

    Karl Kraus

  • Bezüglich der vermeintlichen mangelnden Weitsichtigkeit Wilhelms II. möchte ich nur darauf hinweisen, daß sich z.B. die Warnung vor der 'gelben Gefahr' vor dem Hintergrund der aktuellen immer dominierenderen Rolle Rot-Chinas in der Welt als durchaus prophetisch erwiesen hat. Ich denke viele afrikanische Staaten, die heute von den Pekinger Kommunisten mit härtesten Knebelverträgen gebunden und ausgebeutet werden, können sich in dieser Warnung des Kaisers wiederfinden.

    Wilhelm war hinsichtlich seiner Intellektualität in der Tat ein anderes Kaliber als der gute und biedere Franz Joseph. Schriften über archäologische Forschungen oder z.B. zur Geschichte des Baldachins sind vom vorletzten Habsburger Kaiser zumindest nicht überliefert.

    Hinsichtlich des sich in der Krönung manifestierenden Gottesgnadentums ist noch festzustellen, daß der ja so für seine vermeintliche Prunktsucht verschriene Monarch auf eine Krönung zum König von Preußen in Königsberg verzichtete und eine Krönung zum deutschen Kaiser überhaupt nicht anstrebte.

    Die für viele, lediglich prosaisch gesonnene Gemüter nicht mehr nachvollziehbare archaische Würde und poetische Magie einer Krönung, kommt in den anliegenden, zwei weitere Netflix Video zum Ausdruck:

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    (das folgende mit Kommentierung durch den Herzog von Windsor)

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  • Nach dem "Sturm" auf den Reichstag: Weil sie, wie früher Legionsadler und Truppenfahne, einen gewaltigen Mitzieheffekt bewirken, soll ein Erlass die öffentliche Verwendung der Farben schwarz-weiss-rot generell verbieten. Davon ist nicht etwa nur die Reichskriegsflagge betroffen. Unter diese ist insbesondere auch die normale Reichsflagge genannt. Und wenn sich die neuen Rechten dann ein neues Symbol ausdenken, folgt das nächste Verbot. Was tut man nicht alles, wenn man unfähig zu wirksameren Lösungen ist!

  • Zum Gottesgnadentum: Selbstverständlich entspricht das dem klassischen monarchischen Selbstverständnis. Der Monarch stammt von den Göttern ab oder ist ein von Gott indirekt Eingesetzter bzw. dessen irdischer Arm. Würde der Monarch vom Volk gewählt, wäre er ein Präsident oder Tribun. Oder ein um Zustimmung des Volkes buhlender "Bürgerkönig" als Produkt des monarchischen Verfalls. Einem Monarch sein göttliches Selbstverständnis vorzuwerfen, ist also so, als würde man einem Ministerpräsidenten vorwerfen, das Volk als Souverän zu betrachten.

    Du machst es dir aber sehr einfach mit deiner Darstellung, die für das Altertum und Mittelalter ja noch oft - aber selbst in diesen Epochen nicht immer - zutreffen mag.

    Spätestens für die im 19. und 20. Jahrhundert entstandenen Monarchien tritt diese Vorstellung, dass der Monarch von Göttern abstammt oder der irdische Arm Gottes wäre, jedoch zurück bzw. wird obsolet.

    Eine Reihe von europäischen Königshäusern wurde sogar von Parlamenten, also von Volksvertretungen eingesetzt (zuletzt etwa das norwegische Königshaus Anfang des 20. Jahrhunderts).

    Die "Zustimmung des Volkes" stand also zu Beginn, ist tragend und gerade das Gegenteil eines "Produkts des monarchischen Verfalls".

    So im Grunde auch das Deutsche Reich von 1871. Es ist gerade nicht das Heilige Römische Reich mit seinem mystisch wirkenden religiösen Verständnis.

    Die Verfassung fusste auf der des Norddeutschen Bundes, in den Textstellen wurde das "Bundespräsidium" einfach ausgetauscht und durch "Kaiser" ersetzt. Ein staatspolitisch nüchterner, bürokratischer Vorgang.

    Davon unterscheiden muss man den monarchischen Absolutismus....

    Selbstredend ist Gottesgnadentum nicht identisch mit Absolutismus, aber natürlich besteht eine enge Verbindung.

    Denn warum sollte ein Monarch, der nach seinem Selbstbild von Gott eingesetzt und sein "verlängerter Arm" ist, seine ihm von Gott gegebene Macht von sich aus mit dem Volk teilen? Dies würde ja dem göttlichen Willen zuwiderlaufen.


    Das 2. dt. Kaiserreich war kein Absolutismus, sondern hatte ein Geflecht aus monarchischen, aristokratischen und demokratischen Machtbefugnissen.

    Das hat ja auch niemand bestritten. Es ging um die Person des Kaisers und seinem Selbstverständnis.

    Letztlich ist es doch so: Wäre Wilhelm II. 1913 verstorben, gäbe es heute nur noch ein paar unverbesserliche Sozialisten, die vielleicht immer noch wegen der Sozialistengesetze nachtreten wollen....

    Tja...das Totschlagsargument der Hätte-hätte-Fahrradkette, passt fast immer. Demnächst dann:

    ------Sysop-----

    Einmal editiert, zuletzt von OberstMadig (13. Juni 2021 um 17:37) aus folgendem Grund: Derartige Vergleiche braucht es nicht!

  • öffentliche Verwendung der Farben schwarz-weiss-rot generell verbieten

    Dann haben sie aber etwas zu tun, wenn bei einer Fußball-WM ägyptische Fans mit ihren Fahnen einen Autokorso machen. Einsatzmeldung: "Es fahren rechtsradikale Querdenker mit der Reichsflagge hupend durch die Stadt. Auf den Flaggen sind noch so komische Reichsadler hinzugefügt." (siehe hier) Oder wenn ein syrischer Refugee mit seiner Landesflagge kommt: "Da wurden noch zwei seltsame Sterne hinzugefügt. Mit fünf Zacken. Könnte es ein neuer Neonazi-Code sein?" (siehe hier) Oder es kommt ganz frech ein Fan des Yemen angelaufen und hat die Fahne nur versehentlich falsch herum hochgezogen. (siehe hier)

    Es dürfte also ganz viel Aufklärungsarbeit zu leisten sein...

  • Ja, das habe ich heute auch in Der Welt gelesen. Irgendwie schon ziemlich lächerlich, wenn man bedenkt, dass zB die Rote Fahne mit Hammer und Sichel als Symbol für eine verbrecherische Idologie, die für die weltweit meisten Morde überhaupt steht - wieder - nicht verboten werden soll. Oder auch nicht die faschistische Antifa Fahne. Aber Hauptsache die kaiserliche Reichsflagge verbieten, weil ein paar Spinner damit einen Spaziergang zum Reichstag unternahmen...

    ...wenn die Reichsfahnenschwenker nicht ganz deppert sind, dann steigen sie nun auf Regenbogenfarbenfahnen um :biggrin:. Nach demselben Prinzip müsste diese dann nämlich logischerweise auch gleich mit auf die Meinungsfreiheits- und Fahnenverbotsliste. Man kann über dieses ausgemerkelte Deutschland nur noch mitleidig den Kopf schütteln. Der Artikel in Der Welt und vor allem die Kommentare dort kann ich jedem hier nur wärmstens ans Herz legen! Wenigstens ist nicht das ganze Land so verblödet und das tut gut zu wissen, dass noch Hoffnung besteht.