Ich darf zu dem von Pagentorn verlinkten Artikel über den Umgang mit dem historistisch veränderten Hechinger Rathaus während der NS-Zeit einen im gleichen 'Nachrichtenblatt der Denkmalpflege in Baden-Württemberg‘ erschienenen Artikel über den 1958 fertiggestellten Neubau hinzufügen:
https://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/nbdp…File/15135/9017
Ohne auf die wahre Motivation zum Umbau in den 30er-Jahren einzugehen, heißt es darin: „Zum Glück“ (!) „waren die Architekturteile aus Sandstein schon nach wenigen Jahrzehnten so schadhaft, daß man an eine durchgreifende Instandsetzung denken mußte.“
Die Urteile, die der Autor – selbst Denkmalpfleger – für den historistischen Umbau findet, offenbaren jedoch eine Kontinuität im Denken, die man – unbeschadet von den jeweils herrschenden politischen Systemen – seit Anbeginn des 20. Jh. bei eigentlich allen als progressiv sich dünkenden Meinungseliten über den Historismus wiederfindet:
„überreich gestaltet“, „protzige Architekturteile“, „blutleerer Historismus“; verräterischer dann die „landfremden Schieferplatten“ der Dachdeckung (wohlgemerkt in einem Artikel aus dem Jahr 1958).
Der Umbau von 1934 hingegen wird beschrieben mit den Worten:
„eindrucksvoller liebenswürdiger Bau“, „schlichte, anheimelnde Erscheinung“ – Worte, die wir nicht unbedingt mit Architektur der NS-Zeit assoziieren, und das reduzierte Erscheinungsbild wird unter Auslassung etwaiger ideologischer Motive schlicht mit den „knappen Mitteln“ begründet.
Dies vermutlich, um den in der Nachkriegszeit wiederbeauftragten Architekten Schmitthenner aus einer nicht mehr opportunen Traditionslinie herauslösen zu können.
Daß die Ablehnung des Historismus über Jahrzehnte in allen politischen Lagern beheimatet war, haben hier schon Philon und Heinzer herausgearbeitet und andere ergänzt. Allerdings hatte die Ablehnung des Historismus durch die Nazis noch einen ganz bestimmten perfiden Unterton, nämlich einen antisemitischen, der heutzutage, wo wir im Zusammenhang mit Nazis und Kunstablehnung vorrangig an „Entartete Kunst“, also die Ablehnung der Klassischen Moderne, denken, etwas vergessen ist. Letztere wurde nicht nur aus Unverständnis abgelehnt, sondern, wie wir alle wissen, vornehmlich aus rassistischen Gründen, weil zahlreiche Schöpfer, Auftraggeber und Sammler dieser Kunst Juden waren.
Ähnlich galt den Nazis der Historismus als wenigstens jüdisch geprägt, weil zahlreiche seiner Prachtbauten – insbesondere die Großkaufhäuser - vom wirtschaftlichen Erfolg des emanzipierten jüdischen Bürgertums in der Kaiserzeit kündeten und es zahlreiche jüdische Architekten gab (in Berlin allein ca. 500).
So erschien in den 30er Jahren in Freiburg eine Postkarte, die zwei „Juden“ (gezeichnete Karikaturen in Stürmer-Manier) vor der späthistoristischen Fassade des Kaufhaus Knopf in der heutigen Kaiser-Joseph-Str. zeigte. Zweifelsohne wollte man hiermit nicht nur das - angebliche - Geschäftsgebaren von Juden diskreditieren, sondern auch eine bestimmte Art der Architektur.
Diesen Umstand der antisemitisch beeinflußten Ablehnung des Historismus durch die Nazis las ich einst in einem Beitrag des oben bereits erwähnten vierteljährlich erscheinenden 'Nachrichtenblattes der Denkmalpflege in Baden-Württemberg', finde ihn aber auf die Schnelle nicht (ich habe alle Ausgaben seit 1974…).
Die in den Folgebeiträgen von Pagentorn und Kaorou aufgeführten Beispiele von „Entschandelungen“ oder gar Abrissen derartiger Kaufhausbauten nach ihrer „Arisierung“ dürfte dies bestätigen.
Zu der Ansicht von Pagentorn, daß „die Geringschätzung des Historismus (…) ein kontinental-europäisches Phänomen“ sei und „seiner angelsächsischen Spielart, dem Viktorianismus (…) nie dermaßen mit zerstörerischen Verachtung begegnet worden“ sei, möchte ich sagen, daß diese leider nicht dem Abgleich mit der Realität standhält. Man mag die Briten für konservativer als den Rest Westeuropas halten und mit einer positiveren Einstellung zu ihrem Kaiserreich, aber auch dort manifestierte sich mit Beginn des 20. Jh. die Kritik am Historismus und ähnlich wie bei uns begann in den 20er Jahren eine erste Abrisswelle, die dann in den 50er bis 70er Jahren ein durchaus vergleichbares Ausmaß wie bei uns annahm.
Hierzu bieten die Bücher von Gavin Stamp „Lost Victorian Britain: How the Twentieth Century destroyed the Ninetienth Century’s Architectural Masterpieces“ und das - was den Ursprung der aufgeführten Bauten und Stadtbilder betrifft - zeitlich breitgefächertere “Britain’s Lost Cities: A Chronicle of Architectural Destruction” reichlich und sattsam erschreckendes Anschauungsmaterial.
Fruchtbar machen für eine Revision dieser Ansicht kann man sich auch die Internetseite lostheritage, die – auf Schlösser und Landsitze beschränkt – zahlreiche Beispiele von in den 50er bis 70er Jahren abgerissenen Historismusbauten bringt, auch wenn insgesamt der erfaßte Zeitrahmen größer ist (von 1800 bis heute), der architektonische Rahmen nahezu alle Stile seit dem Mittelalter umfaßt und die Gründe für den Verlust vielschichtiger sind: also nicht nur stilistische Ablehnung, sondern auch Verlust etwa durch Brand, Beschädigungen durch Requirierung während des Krieges, und natürlich sozio-ökonomische (hohe Erbschaftssteuern und Wegbrechen des Dienstbotenberufs, der für den Unterhalt eines großen Hauses unumgänglich notwendig ist).