• Natürlich machen sich die Lemberger Sorgen. Tät ich auch, wenn ich Lemberger wäre. Da ich aber Wiener bin, mach ich mir in erster Linie Sorgen um Wien bzw um Mitteleuropa bzw ganz Europa bzw um die ganze Welt, die ich mir nicht verstrahlt wünsche. Es ist auch klar, dass sich in einer solchen Situation Horrorvisionen verbreiten, die aber dennoch objektiv sehr unwahrscheinlich, wenn nicht unsinnig sind. Panik und Hass (auch gegen die "Moskoviter") sind nie gute Ratgeber.

    Augustinus (354-430) - Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat
    14. Buch 9. Kapitel
    Der Staat oder die Genossenschaft der nicht gottgemäß, sondern nach dem Menschen wandelnden Gottlosen dagegen, die eben infolge der Verehrung einer falschen und der Verachtung der wahren Gottheit Menschenlehren anhangen oder Lehren der Dämonen, er wird von den bezeichneten verkehrten Gemütserregungen geschüttelt wie von Fieberschauern und Stürmen.

  • Da Deine Horrorvisionen, wie Du selbst sagst, "objektiv sehr unwahrscheinlich, wenn nicht unsinnig" sind, solltest Du Dir eher Sorgen um Lemberg machen, denn die sind objektiv durchaus berechtigt. Da ist es dann völlig wurscht, wo Du wohnst oder herkommst. Ich bin Potsdamer, mache mir aber um Potsdam keine Sorgen (jedenfalls nicht wegen Putinrusslands) - dafür sehr viele Sorgen um ukrainische Städte. Dies sicherlich weil ich Freunde dort habe - man nennt es Empathie.

  • Nun, die Pulverisierung oder Verstrahlung beispielsweise Wiens ist keineswegs eine unsinnige Horrorvision, und ist bei pessimistischer Sichtweise ganz sicher nicht a priori auszuschließen. Sie war während des kalten Krieges für den Ernstfall eingeplant gewesen und zwar, wie wir heute wissen, von beiden Seiten. Das hier aber ist kein kalter Krieg mehr, und man sollte schleunigst zur Vernunft kommen. Und angesichts des neu aufkommenden Gefährdungspotentials will ich mir den Luxus, mir wegen einer möglichen Beeinträchtigung der von mir übrigens sehr geschätzten Lemberger Altstadt objektiv noch dazu keineswegs gerechtfertigte Sorgen zu machen, nicht gönnen. Wenn die Dinge wirklich so richtig aus dem Ruder laufen sollten (ich sag nicht, dass es so kommen muss), dass steht ungleich mehr auf dem Spiel. Dass du glaubst, dir um Potsdam keine Sorgen machen zu brauchen, liegt ganz sicherlich daran, dass es von Berlin ja weit genug entfernt ist. Für meinen Teil erscheint es, die momentane atomare Bedrohung als "unsinnig" zu bezeichnen, als eigene Sorte von Privatlogik. Ich für meinen Teil würde momentan das Leben mehr genießen können, wenn diese "Option" vom Tisch wäre.

    Richtiggehend unsinnig ist es hingegen, Hass- und Panikgerüchten hinsichtlich einer Bombenosternacht oder ähnlichen Blödsinn zu glauben. Noch einmal: Es ist nicht so, dass ich keine Empathie für die Lemberger aufbringen würde. Wie gesagt, ich möchte momentan in keiner ukrainischen Stadt wohnen. Und sicher ist es menschlich verständlich, dass es Leute gibt, die so etwas verbreiten, was aber nichts am Realitätsgehalt ändert. Morgen wird in einigen/den meisten (?) Lemberger Kirchen Ostern gefeiert (haben die in Lemberg stark vertretenen Unierten nicht überhaupt unseren Kalender?*) und hoffentlich wird nichts passieren.

    *wobei es heuer überhaupt nicht passt - zwischen den Frühlingsbeginnen nach beiden Kalender lag doch gar kein Vollmond. Daher hätte Ostern eigentlich zusammenfallen müssen, oder? Oder zählen die Orthodoxen den Karsamstagsvollmond sozusagen nach jüdischem Vorbild zum Sonntag, sodass sich der Sonntag NACH erstem Vollmond nach Frühlingsbeginn um eine Woche verschiebt? Ich weiß es nicht.

    A propos:

    Im übrigen war Galizien während der österreichischen Zeit der Hort des Ukrainertums

    Nun, alles ist relativ.

    1910 hatte Lemberg 206.100 Einwohner: 88,9 Prozent gaben Polnisch, 8,7 Prozent Ruthenisch (Ukrainisch) und 2,3 Prozent Deutsch als Umgangssprache an.

    Weiß jetzt nicht, ob man die 8,7% auch noch splitten muss, Ruthenen und Ukrainer sind ja nicht dasselbe, und die österreichischen Behörden haben da nicht differenziert. Gewissermaßen wird man die Stadt auch als "Hort des ostgallizischen Deutschtums" durchgehen lassen können, oder? Heute ist übrigens der russische Bevölkerungsanteil höher als seinerzeit der "ukrainische". Dass die Stadt heute zur Ukraine gehört - kein segensreicher Umstand übrigens - verdanken die Ukrainer ausschließlich der Sowjetmacht, von deren Nachfolgerin sie sich ja unbedingt lösen mussten.

    Schon Napoleon antwortete auf die Frage, wo denn Polen sei, mit Lemberg. Es ist auch kein Zufall, dass die ukrainisch-katholische St. Georgskathedrale, errichtet übrigens von einem deutschen Architekten, weit außerhalb der Altstadt steht.

    Auch wenn ich damit deine heiligen Gefühle verletzen sollte - historisch gesehen spielte das kleinrussische Element in Lwów/Lwow/Lemberg eine eher marginale Rolle. Warum also gerade ausgerechnet diese Stadt für Baedeker-bombing à la russe besonders prädestiniert sein sollte, vermag sich mir nicht ganz zu erschließen.

    Augustinus (354-430) - Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat
    14. Buch 9. Kapitel
    Der Staat oder die Genossenschaft der nicht gottgemäß, sondern nach dem Menschen wandelnden Gottlosen dagegen, die eben infolge der Verehrung einer falschen und der Verachtung der wahren Gottheit Menschenlehren anhangen oder Lehren der Dämonen, er wird von den bezeichneten verkehrten Gemütserregungen geschüttelt wie von Fieberschauern und Stürmen.

  • Du kennst Dich anscheinend richtig gut aus in der Ukraine

    Deine Ironie hat ursus carpaticus leider nicht verstanden.

    Momentan geht das Gerücht um, die Moskoviter wollten in der Osternacht (die in der Ukraine erst auf den kommenden Sonntag fällt) gezielt Kirchen beschießen.

    Das habe ich auch gehört. Es bezieht sich allerdings nicht speziell auf den Lemberger Raum.In den ukrainischen Medien wurde das auch nicht in größerem Maße aufgegriffen. Es ist wichtig, einen kühlen Kopf zu bewahren.

    Morgen wird in einigen/den meisten (?) Lemberger Kirchen Ostern gefeiert

    den meisten

    haben die in Lemberg stark vertretenen Unierten nicht überhaupt unseren Kalender?*

    Nein. Und "Unierte" nennen sie sich schon seit 1774 nicht mehr. Ist dir wohl entgangen. Die Bezeichnung bezieht sich auf die Brester Union von 1596 und wurde nur in Polen-Litauen verwendet. Galizien kam 1772 infolge der Ersten Teilung Polens zu Österreich. Maria Theresia führte dann die Bezeichnung "griechisch-katholisch" ein. Im Russischen Reich und in der Sowjetunion war die griechisch-katholische Kirche verboten.

    wobei es heuer überhaupt nicht passt - zwischen den Frühlingsbeginnen nach beiden Kalender lag doch gar kein Vollmond. Daher hätte Ostern eigentlich zusammenfallen müssen, oder? Oder zählen die Orthodoxen den Karsamstagsvollmond sozusagen nach jüdischem Vorbild zum Sonntag, sodass sich der Sonntag NACH erstem Vollmond nach Frühlingsbeginn um eine Woche verschiebt?

    Die Berechnung des Osterdatums ist ziemlich kompliziert (siehe Wikipedia). In diesem Jahr findet das orthodoxe Osterfest genau eine Woche nach dem römisch-katholischen statt.

    Heute ist übrigens der russische Bevölkerungsanteil höher als seinerzeit der "ukrainische".

    Das stimmt nicht.

    1910 hatte Lemberg 206.100 Einwohner: 88,9 Prozent gaben Polnisch, 8,7 Prozent Ruthenisch (Ukrainisch) und 2,3 Prozent Deutsch als Umgangssprache an.

    Du beziehst dich hier auf die Umgangssprache. Der Anteil der Einwohner ukrainischer Nationalität war höher. Man muss zwischen Nationalität und Sprachverwendung unterscheiden. Wenn eine Sprache im Bildungswesen nicht berücksichtigt wird, dann wird ihr Gebrauch marginalisiert. Die Angehörigen eines Volkes haben aber trotzdem oft noch ein eigenes Bewusstsein. Die Bedeutung Lembergs für die ukrainische Nationalbewegung leitete sich nicht aus dem Anteil an der Stadtbevölkerung ab, sondern aus der Bedeutung der Stadt als zentraler Ort im ukrainischen Siedlungsgebiet. So war Lemberg das Zentrum der griechisch-katholischen Kirche in Galizien, die letztlich eine ukrainische Kirche war.

    Ruthenen und Ukrainer sind ja nicht dasselbe

    Doch, sind sie. Innerhalb der ukrainischen Nationalbewegung wurde ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Ethnonym "Ukrainer" bevorzugt. Am 19. Oktober 1918 konstituierte sich in Lemberg der "Ukrainische Nationalrat". Ziel war die Schaffung eines "Ukrainischen Staates", der das ukrainische Siedlungsgebiet Österreich-Ungarns umfassen sollte. Ab dem 13. November 1918 hatte dieser Staat den offiziellen Namen "West-Ukrainische Volksrepublik".

    historisch gesehen spielte das kleinrussische Element in Lwów/Lwow/Lemberg eine eher marginale Rolle.

    "Kleinrussisch" ist eine herabsetzende Bezeichnung, die nur im Zarenreich gebraucht wurde, nicht in Österreich-Ungarn. Am 20. November 1917 konstituierte sich die "Ukrainische Volksrepublik" im ukrainischen Siedlungsgebiet des früheren Zarenreiches. Am 22. Januar 1919 vereinigten sich die "Ukrainische Volksrepublik" und die "West-Ukrainische Volksrepublik". Die Bestrebungen zur Schaffung eines ukrainischen Nationalstaates gingen von der ukrainischen Nationalbewegung aus, nicht von Stalin. Und die Nationalbewegung verwendete das Ethnonym "Ukrainer". Aufgrund der Machtverhältnisse scheiterte der Versuch einer nichtkommunistischen ukrainischen Nationalstaatsgründung jedoch nach kurzer Zeit.

    Dass die Stadt heute zur Ukraine gehört - kein segensreicher Umstand übrigens - verdanken die Ukrainer ausschließlich der Sowjetmacht, von deren Nachfolgerin sie sich ja unbedingt lösen mussten.

    Deiner Weltsicht zufolge hätten die DDR-Bürger dann auch nicht die SED-Herrschaft stürzen dürfen. Die Deutschen hätten mit Rücksicht auf die "Sowjetmacht" auf die Wiedervereinigung verzichten müssen. Und überhaupt hätten aus deiner Sicht also die Freiheitsrevolutionen, die zur Auflösung des Ostblocks führten, niemals stattfinden dürfen. Oder was soll der vorwurfsvolle Ton deiner Äußerung besagen? Die Ukrainer müssen der "Sowjetmacht" dankbar sein? Für die Millionen Toten der Hungersnot 1932/33?

    Die Russische Föderation (RF) ist nicht die Nachfolgerin der Sowjetmacht. Die RF übernahm nur bestimmte Rechte und Pflichten der Sowjetunion.Der Sturz der kommunistischen Diktatur (Sowjetmacht) war ein Prozess, an dem alle Unionsrepubliken ihren Anteil hatten. Nach dem Augustputsch (19. August 1991) wurde in der RSFSR die KPdSU verboten (am 23. August 1991). Die Ukraine erklärte am 24. August 1991, namentlich als Reaktion auf den Augustputsch, ihre Unabhängigkeit. Das ist nicht zu beanstanden. Sie verfolgte seitdem einen eigenständigen politischen Kurs. Die Ukraine hat sich nicht von der RF gelöst, denn sie hat nie der RF gehört. Sie ist nach 1991 kein engeres Bündnis mit der RF eingegangen.

    Auf die Idee, die Ukraine bis Lemberg verteidigen zu wollen, wird hoffentlich niemand kommen.

    Auf die Idee, die Ukraine bis Lemberg erobern zu wollen, wird Russland hoffentlich nicht kommen. Den russischen Oppositionellen war jedenfalls schon vor dem 24. Februar klar, dass Russland einen großangelegten Krieg gegen die Ukraine nicht gewinnen kann.

  • Auf die Idee, die Ukraine bis Lemberg erobern zu wollen, wird Russland hoffentlich nicht kommen.

    Und doch wird genau das im russischen Fernsehen schon gefordert als Rache für den Untergang der "Moskva".

    Deine Ironie hat ursus carpaticus leider nicht verstanden.

    Gesundes Selbstbewusstsein gepaart mit weitgehender Ignoranz. Gefährliche Kombination...

  • Es ist auch kein Zufall, dass die ukrainisch-katholische St. Georgskathedrale, errichtet übrigens von einem deutschen Architekten, weit außerhalb der Altstadt steht.

    Wie es der Zufall will, kenne ich mich bei diesem Thema sehr gut aus. Was du schreibst, ist leider Unsinn. Der Architekt war Bernard Meretyn (so die polnisch/ruthenische Version seines Namens), der auch als Bernhard Merderer und Bernardo Merettini in den Quellen auftaucht. Wo genau er herkommt, ist unbekannt, aber es steht zu vermuten, dass er aus dem Deutsch-Italienisch-sprachigen Grenzgebiet stammte. Ausweislich seines Baustils und der Art und Weise, wie er seine Baustellen in Galizien organisierte, wird angenommen, dass er sein Handwerk in Böhmen erlernte. "Deutscher" war er mit Sicherheit nicht.

    Die Georgskathedrale steht außerhalb der Altstadt, aber das ist bei Kathedralen nicht ungewöhnlich - auch die Dome von Lübeck, Brandenburg/Havel, Breslau und Posen stehen nicht im bürgerlichen Stadtzentrum, sondern am Rande der Altstadt bzw sind erst im Lauf der Zeit mit der Altstadt zusammengewachsen. 100 Meter vom zentralen Marktplatz von Lemberg steht die Maria-Entschlafens-Kirche, früher Sitz der Stavropihiya-Bruderschaft, die in der frühen Neuzeit für die orthodoxe Kirche bei weitem bedeutender war als der Bischof. Und am ursprünglichen Kern der Altstadt, am "Staryj Rynok"/Alten Markt (der Marktplatz mit dem Rathaus ist ja eigentlich Teil der Neustadt, die erst unter polnischer Herrschaft angelegt wurde) befindet sich die älteste Pfarrkirche Lembergs, die orthodoxe Nikolaikirche.

    Aber bitte, erzähl mir noch ein bisschen mehr über Lemberg, Galizien und die Ukraine. Du scheinst ja ein rechter Experte zu sein, und ich lerne immer wieder gern dazu.

    Ich weiß es nicht.

    Amen!

  • Wo genau er herkommt, ist unbekannt, aber es steht zu vermuten, dass er aus dem Deutsch-Italienisch-sprachigen Grenzgebiet stammte. Ausweislich seines Baustils und der Art und Weise, wie er seine Baustellen in Galizien organisierte, wird angenommen, dass er sein Handwerk in Böhmen erlernte. "Deutscher" war er mit Sicherheit nicht.

    Aha, unter solchen Umständen ist man offenbar keinesfalls Deutscher. Offenbar ein Urukrainer.

    Gesundes Selbstbewusstsein gepaart mit weitgehender Ignoranz. Gefährliche Kombination...

    Tschuldige, Urpotsdamer, ich bin ein friedfertiger Mensch, aber wer im Glaushaus sitzt, sollte... Nämlich was Selbstbewusstsein betrifft. Es wäre ein Leichtes zu erwidern, wo dieses bei dir anzusiedeln wäre. Denn solche Ausfälle wie die Deinigen sind einfach nicht nötig. Es ist nicht notwendig, wegen unterschiedlichen Beurteilungen irgendwelcher ukrainischer Fragen so die Fassung zu verlieren. Ich habe niemals gesagt, dass ich mich mit dem ukrainischen Wesen so besonders auskenne oder dies gar anstrebe. Im Gegenteil, mir ist das ukrainische Selbstverständnis günstigstenfalls wurscht, im Ganzen ob ihres Nationalismus, der sich (nicht erst jetzt) gegen wirklich alle Nachbar- und Binnenvölker richtet, im Ganzen eher unsympathisch. Mein Hauptinteresse wäre lediglich, dass man aus dieser Misere möglichst unbeschadet herauskommt, und zwar alle Seiten. Die bedingungslose Übernahme des Narrativs einer involvierten Kriegspartei ist dafür sicher nicht der geeignete Weg, womit ausdrücklich nichts über so etwas wie eine Schuldfrage gesagt sei.

    Aber bitte, erzähl mir noch ein bisschen mehr über Lemberg, Galizien und die Ukraine. Du scheinst ja ein rechter Experte zu sein, und ich lerne immer wieder gern dazu.

    Schau, wir wissen ja, dass du zu nahezu alle Themen der Allersupergescheiteste bist, und daher mit vollem guten Recht argumentationsresistent bist. Wo käme man denn sonst dahin? Daher erspare ich mir eine Antwort auf den an und für sich diskussionswürdigen Aspekt der städtebaulichen (eher Nicht-)Einbettung der St. Georgskathedrale.

    Rastrelli

    1) handelt sich nicht um die RF, sondern um die GUS. Aus dieser ist die Ukraine 2014 ausgetreten. Der Vergleich mit der DDR hinkt sowieso. Es geht auch nicht darum, der Ukraine das Recht auf diesen Austritt streitig zu machen. Ich habe das nur so festgehalten.

    2) Dass Ruthenen (zu denen jedenfalls die heute sog. Russinen zählen) und Ukrainer dasselbe sind, ist einfach unzutreffend, bzw rein ukrainisches Narrativ. Wer sich schon durch die Sprache unterscheidet, kann nicht "dasselbe" sein. Dieses Narrativ entspricht halt der nationalistischen ukrainischen Minderheitenpolitik.

    vgl bloß Prof. Wikipedia: "Im Gegensatz zu insgesamt 22 Staaten, in denen sie als eigenständige Nationalität (Ethnie) anerkannt werden, gilt die Minderheit in der Ukraine als Teil des Staatsvolks der Ukrainer. Ziel der russinischen Nationalbewegung ist es, das Bewusstsein einer eigenständigen russinischen Nation zu fördern".

    3)

    Du beziehst dich hier auf die Umgangssprache.

    Das ist richtig. Dieselbe Quelle kommt hinsichtlich des Religionsbekenntnisses zu ganz anderen ethnischen Schlussfolgerungen. In erster Linie geht es aber dabei um die Juden, die ein gutes Viertel ausmachten und offenbar polnisch als Muttersprache angaben. Ukrainer werden jedenfalls kaum welche aus den + 88% Polen. Es geht mir auch nicht drum, jeglichen ukrainischen Anspruch auf Lemberg zu delegitimieren, man sollte halt die Kirche im Dorf lassen dh die St. Georgskathedrale in der ruthenischen dörflichen Vorstadt.

    4.

    Und "Unierte" nennen sie sich schon seit 1774 nicht mehr. Ist dir wohl entgangen.

    Was soll dieser selbstgefällige Ton? Mir ist nichts entgangen, schon weil es mir völlig wurscht ist, wie sich die selber nennen, zumindest für meinen Sprachgebrauch. Bei uns ist diese Bezeichnung noch teilweise gebräuchlich und sie ist auch erfreulich kürzer.

    https://www.vaticannews.va/de/welt/news/2…ebernehmen.html

    5.

    Deine Ironie hat ursus carpaticus leider nicht verstanden.

    Merke: mit bundesdeutschem Humor (incl. Ironie) mag man im Ausland seine Schwierigkeiten haben, die jedoch ganz sicher NICHT mangelndes Verständnis betreffen. Urpotsdamers Versuche stellen da wirklich keine Ausnahme dar.

    6.

    Auf die Idee, die Ukraine bis Lemberg erobern zu wollen, wird Russland hoffentlich nicht kommen.

    Das hoffe ich auch nicht.

    Augustinus (354-430) - Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat
    14. Buch 9. Kapitel
    Der Staat oder die Genossenschaft der nicht gottgemäß, sondern nach dem Menschen wandelnden Gottlosen dagegen, die eben infolge der Verehrung einer falschen und der Verachtung der wahren Gottheit Menschenlehren anhangen oder Lehren der Dämonen, er wird von den bezeichneten verkehrten Gemütserregungen geschüttelt wie von Fieberschauern und Stürmen.

  • Wer Lemberg kennen lernen will, dem empfehle ich das hervorragende Buch von

    Lutz C. Kleveman LEMBERG Die vergessene Mitte Europas

    Aufbau 2. Auflage 2017

    „Einst Teil des Habsburger Reichs, galt Lemberg als ,Jerusalem Europas‘, wo Polen, Juden, Ukrainer und Deutsche zusammenlebten.“ Lutz C. Klevemann sucht die Vergangenheit der Stadt freizulegen. „Was er dabei entdeckt und brillant erzählt, ist nicht weniger als die Geschichte Europas bis heute.“

    Alles prüfe der Mensch, sagen die Himmlischen,

    Daß er, kräftig genährt, danken für Alles lern‘,

    Und verstehe die Freiheit,


    Aufzubrechen, wohin er will.


    Hölderlin

  • Ich habe niemals gesagt, dass ich mich mit dem ukrainischen Wesen so besonders auskenne oder dies gar anstrebe. Im Gegenteil, mir ist das ukrainische Selbstverständnis günstigstenfalls wurscht

    Ich zitiere mal, was du niemals gesagt hast:

    Überdies böten sich selbst unter der leicht wackeligen Prämisse, dass "Putinrussland" wirklich "alles Ukrainische vernichten" wollte, "bessere" Ziele an als das polnisch-mitteleuropäisch geprägte Lemberg, das im ukrainischen Bewusstsein nicht diese herausragende Bedeutung wie für unsereins hat

    Die bedingungslose Übernahme des Narrativs einer involvierten Kriegspartei ist dafür sicher nicht der geeignete Weg, womit ausdrücklich nichts über so etwas wie eine Schuldfrage gesagt sei.

    Es handelt sich um einen unprovozierten Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, mit dem Ziel, Teile des ukrainischen Staatsgebietes zu annektieren und die "Rest-Ukraine" zu unterjochen und zu "entukrainisieren". Wie das genau aussehen soll, ist offen. Putin beansprucht für sich die volle Verfügungsgewalt über die Ukraine - bis hin zum "Recht" auf Genozid an nationalbewussten Ukrainern. Denkbar wären Maßnahmen, wie wir sie aus dem Stalinismus kennen (Massaker von Katyn, Gulag-System).

    Meine Einschätzung beruht auf Äußerungen von Putin und seinem Umfeld, die ich im russischen Original rezipiere, sowie zahlreichen anderen Quellen.Vieles hätte ich früher auch nicht geglaubt oder für möglich gehalten. Aber ich kann die russische Propaganda im Original rezipieren. Und die ist wirklich übel. Von daher ist es nur verständlich, dass sich die Ukrainer so heldenhaft verteidigen.

    Eine Verhandlungslösung scheitert bislang daran, dass die russische Seite den Krieg will und nicht an einem Kompromiss interessiert ist.

  • diskussionswürdigen Aspekt der städtebaulichen (eher Nicht-)Einbettung der St. Georgskathedrale.

    Die Kathedralen in Lübeck, Brandenburg, Breslau und Posen wurden ebenfalls weitab des bürgerlichen Stadtzentrums erbaut - außerhalb der Stadt, in einem eigenen Rechtsbezirk. Selbst der Papst residiert außerhalb der historischen Stadtmauern Roms, in der vatikanischen Vorstadt. Ich denke, Du stimmst mir zu, dass dies keine Rückschlüsse auf die historische Bedeutung der Bischöfe von Lübeck, Brandenburg, Breslau, Posen und Rom für die jeweiligen Städte zulässt.

    Bischöfe waren in der frühen Kirche (bis ins Hochmittelalter) gleichzeitig Vorsteher einer klösterlichen Gemeinschaft - prominentes Beispiele ist der hl. Augustinus von Hippo, aber auch bspw. der bereits erwähnten Kathedrale von Brandenburg an der Havel war ein Prämonstratenserstift angegliedert. In der lateinischen Kirche hat sich noch das Domkapitel als Schwundform der ehemaligen Domklöster erhalten (zumindest in Europa - Diözesen in den USA bspw. besitzen keine Kapitel). In der slawischen Orthodoxie haben die Äbte der großen Klöster meist die Bischofsweihe und stehen auch tatsächlich Bistümern vor.

    St. Georg war ein Kloster, es wurde entsprechend den Bedürfnissen eines Klosters errichtet. Bischofssitz wurde es erst 200 Jahre später; der orthodoxe Metropolit von Halytsch wählte, als er nach Lemberg umzog, natürlicherweise ein Kloster als Residenz, weil ein Bischof ohne Mönchsgemeinschaft zu dieser Zeit nicht denkbar war. Die Frage war nicht, ob er in der Innenstadt willkommen gewesen wäre oder nicht - es gab dort schlicht kein orthodoxes Kloster. Das wahre Machtzentrum der ukrainischen orthodoxen Kirche war ohnehin die Stavropihiya-Bruderschaft, deren Sitz sich in der Lemberger Neustadt befand, wenige hundert Meter von der lateinischen Kathedrale, der armenischen Kathedrale und der Synagoge "Goldene Rose" entfernt.

  • Aha, unter solchen Umständen ist man offenbar keinesfalls Deutscher. Offenbar ein Urukrainer.

    Bernardo Merettini war mit großer Wahrscheinlichkeit italienischer, möglicherweise rätoromanischer Muttersprache. Deutscher war er in keinem denkbaren Sinn des Wortes.

    Edit: Urukrainer auch nicht.

  • Es handelt sich um einen unprovozierten Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, mit dem Ziel, Teile des ukrainischen Staatsgebietes zu annektieren und die "Rest-Ukraine" zu unterjochen und zu "entukrainisieren".

    Meine Einschätzung beruht auf Äußerungen von Putin und seinem Umfeld, die ich im russischen Original rezipiere, sowie zahlreichen anderen Quellen.

    Lieber Dr. Dr. h.c. mult. Rastrelli,

    vielen Dank für diese Informationen. Ich hatte ja keine Ahnung. Ich werde umgehend die Verteidigungsministerin und unsere NATO-Partner in Kenntnis setzen, damit wir die entsprechenden Schritte einleiten können. Das Vaterland ist Ihnen zu Dank verpflichtet.

    Ergebenst

    Olaf Scholz

  • Ich möchte nur mal daran erinnern, dass wir diesen Thread unserem Forumskollegen Oststaatler verdanken.

    Ich bin halb Ukrainer halb Deutsch. Ich habe den größten Teil meines Lebens in der Ukraine verbracht, aber zuletzt zehn Jahre in Kanada. Trotzdem besuche ich sehr oft mein Heimatland - Es ist eine Stadt von Lviv (Lemberg) im ukrainischen Westen.

    Am 25. Februar 2022 schrieb Oststaatler:

    Als aktiver Offizier der ukrainischen Streitkräfte kann ich Ihnen sagen: Kiew wird nicht in wenigen Tagen fallen. Derzeit werden massive Reserven mobilisiert. Der russischen Offensive geht die Luft aus und sie gerät ins Stocken. Kiew ist das ukrainische Verdun

    Ob in einer solchen Situation ein dümmliches Witzchen von Regiomontanus angebracht ist? Aber gut. Ein paar Anhänger hat der russische Diktator in Deutschland eben noch.Ich bin ja der Meinung, dass es in vielen Fällen Unkenntnis ist. Wenn die Leute wüssten, was die russische Propaganda so von sich gibt . . .

    Kürzlich las ich einen Propagandatext von Wiktorija Nikiforowa, veröffentlicht am 6. April 2022 auf RIA Nowosti. Darin ist nur noch von der "ehemaligen Ukraine" die Rede. Vor einiger Zeit hatte Frau Nikiforowa das stalinistische Gulag-System gepriesen. Für die Masse der einfachen Menschen habe das eine Verbesserung der Lebensverhältnisse gebracht. Sie hätten im Gulag regelmäßige Mahlzeiten und eine tolle medizinische Versorgung erhalten. Nun schrieb sie, in Russland könne jeder seine Meinung frei äußern. Die Medien seien völlig frei, und Russland kämpfe dafür, dass die Ukrainer endlich auch in den Genuss dieser Freiheit kämen.

    Angesichts solch dreister Lügen ist es nur konsequent, dass im russischen Propaganda-TV auch die folgende Argumentation schon dargeboten wurde: Wir lügen nicht, denn wir sind Russen. Russen sind immer die Guten. Sie können gar nicht lügen.

    Das heutige Russland ist wirklich krank. "Zombifiziert" nennt man das im russischsprachigen Internet. Schaut man sich dagegen die Ukraine an, so ist es ein Unterschied wie Tag und Nacht.

  • Aber nun wieder Architektur:


    Lemberg, die griechisch-katholische Kathedrale St. Georg von Südwesten, Blick vom Turm der Kirche St. Olha und St. Elisabeth, im Hintergrund die Türme des Rathauses und der Uspenska-Kirche (Foto: Юрiй Булка, 12. Juli 2014, CC0)

    Man hört ja immer wieder irritierte Äußerungen: Lemberg sei eigentlich eine mitteleuropäische oder polnische Stadt, keine ukrainische. Aber das ist falsch gedacht. Ukrainer haben diese Stadt im 13. Jahrhundert gegründet. Sie haben immer in dieser Gegend gelebt. Das ukrainische Siedlungsgebiet liegt eben zum Teil in Mitteleuropa. Auf dem Foto sind zwei Kirchen zu sehen, die schon immer hauptsächlich von Ukrainern genutzt wurden.

  • Ob in einer solchen Situation ein dümmliches Witzchen von Regiomontanus angebracht ist? Aber gut. Ein paar Anhänger hat der russische Diktator in Deutschland eben noch.

    Man ironisiert eine Haltung und schon ist man ein "Anhänger" Putins. Ja mei, so ist das eben im Krieg. Da verliert auch wie weiland Willem Zwo der allerdurchlauchtigste Rastrelli I. schnell die Lust am sonst wortreich gepredigten Differenzieren und kennt nur noch "Deutsche" respektive "Ukrainer" und "Russen". Das Erste, was im Krieg vor die Hunde geht, ist eben nicht nur die Wahrheit, sondern zugleich der Verstand.

  • Ukrainer haben diese Stadt im 13. Jahrhundert gegründet. Sie haben immer in dieser Gegend gelebt. Das ukrainische Siedlungsgebiet liegt eben zum Teil in Mitteleuropa. Auf dem Foto sind zwei Kirchen zu sehen, die schon immer hauptsächlich von Ukrainern genutzt wurden.

    Lemberg, 1256 gegründet von Danylo Halyckyj, einem ruthenischen Fürsten, fiel hundert Jahre später im Erbgang an Kasimir III., den Großen, König von Polen. Ein Bonmot behauptet daher, Breslau sei so polnisch wie Lemberg ukrainisch - aber der Vergleich hinkt, denn das Umland von Lemberg blieb immer ruthenisch bzw ukrainisch geprägt, und - noch wichtiger - es hielt sich immer auch ein ukrainisches Element in der Stadt. Ja, zu Beginn des ersten Weltkriegs waren nur 20% der Bevölkerung Ukrainer - aber gleichzeitig gab es in der Stadt neben Polen auch armenische, jüdische und deutsche Minderheiten, was die scheinbare Übermacht der Polen deutlich relativiert. Aufgrund der im russländischen Reich herrschenden Zensur war Lemberg das Zentrum des ukrainischen Buchdrucks, der extrem einflussreiche ukrainische Bildungsverein "Prosvita" wurde bereits 1868 hier gegründet, ab 1871 wurden Vorlesungen an der von Joseph II. gegründeten Universität auch auf ukrainisch gehalten. Kurz: Lemberg war Zentrum und Kristallisationskern der ukrainischen Kultur. Es hat daher für die ukrainische Nationalgeschichte eine immense Bedeutung.

  • Putins erster Zielen: Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine.

    Putins Zielen heute: Vernichtung der Staat Ukraine: Besetzung von allen Gebieten östlich der Dnepr, Donbas und Süden mit einbegriff von Moldovo (nicht von NATO geschützt also frei zum erobern). Später Besetzung das restliche Gebiet westlich der Dnepr.

  • Ich finde da hilft stets ein Gang auf den örtlichen Friedhof, um sich ein Bild von den aktuellen und ehemaligen Bewohnern und deren Kultur zu machen. Für mich bei jedem Städtebesuch der erste Besuch, der ansteht. In Lemberg waren es gefühlt am städtischen Friedhof die ältesten Gräber fast alle mit deutschen Inschriften (18. Jahrhundert), danach überwiegend polnische Inschriften (19. Jahrhundert) und wenige deutsche (österr. Beamte und Militär) und ukrainische Inschriften und dann fast nur noch ukrainische Inschriften seit dem Ende des 2. Weltkrieg. Sehr imposant sind die polnischen Kriegsgräber auf der Zeit der 1.Hälfte des 20. Jahrhunderts gewesen! Übrigens eine Rekonstruktion, weil die Kommunisten diese nach dem 2. Weltkrieg komplett eingeebnet haben und erst seit der Unabhängigkeit der Ukraine aus dem sowjetischen Kerker durften die Polen ihre Kriegsgräber wieder komplett in Lemberg rekonstruieren! Ev stelle ich ein paar Fotos einmal hier ein. Auch ein interessantes Phänomen, konnte man auf den Gräbern beobachten, wie sich je nach Herrschaft auch die Vornamen auf den Gräbern anpassten. So habe ich erinnerlich mehrere Familiengräber deutscher Lemberger entdeckt, die während österreichischer Zeit noch deutsche Vornamen trugen und dann ab dann ab der polnischen Zeit polnisch geschrieben wurden. Ähnlich wie am Friedhof in Triest, da fiel mir das auch schon auf (natürlich dort mit italienischen Vornamen ?).