Ich möchte Seinsheim unterstützen.
Ich denke, dass er Zwischenformen von Bauwerken, die aufeinander Bezug nehmen, klar unterschieden hat - man sollte genau lesen. Es gibt unterschiedlichste Absichten und Ausgangspunkte, dass Bauwerke ähnlich sind: Neuerungen werden übernommen, Anregungen werden verarbeitet bis hin zu Baustilen, Vorbilder werden kreativ weiterentwickelt usw. - aber es gibt nur eine klare Definition der Rekonstruktion! Diese und Folgerungen will ich hier, so gut ich es kann, entwickeln. Seinsheim hat eigentlich schon eine klare Definition gegeben. Ich möchte der Verständlichkeit halber ganz von unten kommen.
Ganz im Sinne von Seinsheim schreibt Stella: „Im Gegensatz zum Maler, der malt, was er sich vorstellt, oder zum Schriftsteller, der schreibt, was er denkt, entwirft der Architekt, baut aber nicht das Werk, das er mit seinem Entwurf antizipiert hat.“
Das machen Handwerker, und sie erfüllen den Plan selbstverständlich so genau wie möglich.
Der Bau des Architekten, den Handwerker ausführen, ist bei seiner Fertigstellung, genau betrachtet, also bereits eine Rekonstruktion - nämlich eine handwerkliche „Rekonstruktion des Plans“. Derselbe Bau könnte an anderer Stelle sogar von anderen Handwerkern ausgeführt werden, ob gleichzeitig oder mit zeitlichem Versatz - er würde doppelt entstehen. Freilich müssen wir hier einwenden: Ein Architekt entwirft nicht nur einen Bau, sondern er entwirft den Bau wohl immer für einen bestimmten Ort. Der zeitliche Versatz also wird für den zweiten Bau erst dann möglich, wenn er am Ort des ersten errichtet wird, nachdem dieser abgegangen ist. Hier und nur hier sprechen wir von einer Rekonstruktion! Und auch hier ist das genaue Umsetzen des Plans des Architekten eine Selbstverständlichkeit!
Bestätigung finden wir zum Thema und zur Definition bei Aristoteles. Ich gebe seine Gedanken sehr verkürzt wieder. Während Platon die Idee als das Seiende annimmt, sieht Aristoteles in der Idee nur die Grundlage, den Ausgangspunkt, die Möglichkeit des tatsächlichen Seins. Die Idee muss, um tatsächliches, „akzidentelles Sein“ zu bekommen, in Materie, Material, verwirklicht werden. Ich habe dies in ApH schon einmal dargelegt.
Die Idee, den Einfall, die Schöpfung, die Kreation hat der Architekt zunächst unzugänglich und unsichtbar in seinem Kopf. Sichtbar wird sie in seiner Zeichnung, dem Bauplan - einer ersten Begegnung mit Materie. Nach dem Plan nun errichten Handwerker aus vielen Materialien den real existierenden, sicht-, begeh- und bewohnbaren Bau. Selbstverständlich kann und können bei Verlust des ersten Baues ein zweiter oder bei weiteren Verlusten weitere Bauten, Rekonstruktionen, errichtet werden. Und selbstverständlich erhalten wir nur Rekonstruktionen am selben Ort, mit den vom Architekten vorgesehenen Materialien und bei möglichst genauer Einhaltung des Plans. Wird man aus irgendwelchen Gründen zu Abweichungen gezwungen, sind diese nicht mehr Teil der Rekonstruktion, sondern Ergänzungen, die - wie hier am Schloss - von einem neuen Architekten entworfen werden.
Es gibt keine zwei exakt gleichen Schneeflocken! Höchstens außerordentlich ähnliche. Dies gilt, obwohl ja alle Schneeflocken nach demselben Plan entstehen! Beim Entstehen einer Schneeflocke sind im wahrsten Sinne des Wortes unzählige äußere Umstände beteiligt, so dass unmöglich zweimal exakt dasselbe neue Gebilde entstehen kann.
Die gilt, aber in weitaus abgeschwächter Weise auch bei der Umsetzung von Bauplänen - eine exakte Gleichheit der Rekonstruktion mit dem Original ist also so unmöglich wie bei den Schneeflocken, man denke nur an die Beschaffenheit von Steinen als Material oder die Umstände beim Gießen. Dennoch gilt weiterhin größte Genauigkeit der Strukturen, Formen und vor allem ihrer Maße. Seinsheim differenziert und spezifiziert hier sehr genau. Größere Abweichungen sollten also vermieden werden, kleinere oder kaum wahrnehmbare wird es immer geben.
Aufgabe des Wissenschaftlers ist die Kritik, die am besten vor der Fertigstellung, also am Bozzetto, erfolgt. Der Kritiker ist aber dazu verpflichtet, seine Kritik auch nach der Fertigstellung zu äußern, nämlich damit spätere Fehler vermieden werden.