Mein Gott, wie ich das verabscheue, mit dem Wissen von heute und den überaus fragwürdigen Moralvorstellungen unserer Tage und diesen hundsverreckten vielfachen Maßstäben zu messen und über die Menschen von damals zu urteilen. Sie zu verurteilen.
Meine Vorfahren waren Christen und humanistisch orientiert. Ein Onkel war Pastor und hat Juden versteckt, ihnen so das Leben gerettet. Meine Großeltern lebten auf dem Lande. Sie bekamen einen Ukrainer als Arbeitskraft zugeteilt. Der lebte ganz normal mit der Familie. Wegen der Nachbarn musste man jedoch aufpassen, weil die Gefahr der Denunziation bestand. Deshalb aß Anatoli nicht am Familientisch, sondern in der Küche. Er bekam aber das gleiche Essen wie die anderen. Es gab im Dorf auch einen "Dorfnazi". Der hat seine Ukrainer verprügelt. Wer handelte richtig? Wer handelte falsch? Menschlichkeit ist zeitlos. Wie man sich anständig verhält, das konnte man auch damals schon wissen.
Wir haben uns immer an ethischen Prinzipien orientiert. In der DDR bedeutete das zum Beispiel, eine gewisse Distanz zum System zu wahren.
Wenn mal vom Leid der Ostpreußen, Schlesier, Pommern die Rede ist, dann doch nur unter dem Verweis darauf, daß die Deutschen damals ja keine Opfer sein können. Noch jedes damalige Kind hat Schuld auf sich geladen und trägt die Verantwortung für 1933-45, einfach weil es deutsch war und zu dieser Zeit am Leben war.
Nein. Nationen sind Großkollektive und haben eine historische Verantwortung. Der einzelne Mensch jedoch ist nicht schuldig, nur weil er damals schon gelebt hat. Und selbstverständlich waren Deutsche auch Opfer. Das wurde seit dem Kriegsende auch so kommuniziert. In der DDR wurde es etwas pauschal abgehandelt. Der "Faschismus" habe großes Leid über das deutsche Volk gebracht. In Westdeutschland konnte das Leid der Vertriebenen explizit benannt werden. Viele Politiker fanden dafür angemessene Worte. Nach 1989 konnte auch in den ehemals sozialistischen Staaten das Thema Flucht und Vertreibung aufgearbeitet werden. In den 90er Jahren wurde sehr viel dazu gemacht. Ich hatte selber mit Archivtexten zu tun, die Gewaltexzesse gegen Deutsche in Polen und der Tschechoslowakei schildern. Das ist schwere Kost. Es gibt Historiker, die sich auf Gewaltgeschichte spezialisieren. Ich könnte das nicht ständig machen. In den Quellentexten begegnet einem das historische Geschehen mit unmittelbarer Wucht.
Es gab so viel Leid. Man darf sich von der Last der Vergangenheit nicht erschlagen lassen. Das Leben muss ja weitergehen. Und so ist es normal, dass Menschen auch verdrängen. Die Gedanken können nicht ständig um die düsteren Seiten der Vergangenheit kreisen.
Die amoralische Monstrosität des Nationalsozialismus ist die eigentliche Erschütterung deutschen Seins.