Auch mir ist dieses Klammern an die Originalsubstanz durch unsere Denkmalpfleger schon öfters unangenehm aufgefallen (im Grunde eine materialistische Sicht der Welt). Gemäß dieser Logik müßten wir sagen: Alle Musiker und Sänger, die an der Uraufführung von Mozarts "Zauberflöte" beteiligt waren, sind längst mausetot; und auch die meisten Instrumente existieren nicht mehr. Da auch niemand die Uraufführung technisch aufgezeichnet hat (die Technik gabs damals natürlich noch nicht), hat Mozarts "Zauberflöte" aufgehört zu existieren und jeder, der sie anhand der Partitur wiederaufführt, betreibe "Verfälschung", "Betrug", "Disneyland" etc. Und überhaupt, ist es nicht völlig unzeitgemäß, barocke Musik aufzuführen? Schließlich fahren wir ja nicht mehr Kutsche oder dienen einem Feudalherren!
Das Original ist doch die "Partitur", sprich der Baumeister- oder Architektenentwurf. Ansonsten läge doch das Recht des geistigen Eigentums beim Maurermeister und nicht beim Architekten!
Der Bau wird ersonnen (kreative Leistung), und dann anhand der Pläne umgesetzt. Und das kann je nach ausführender Maurerkolonne völlig unterschiedlich sein, z.B. bei Natursteinmauerwerk. Die Ausführung ist also relativ beliebig, und damit replizierbar.
Und so wie man noch heute historische Musik aufführen kann, kann man natürlich auch längst untergegangene Gebäude neu aufführen, sofern die "Partitur" (Pläne, Fotos etc.) noch vorhanden ist.
Was mich an den Denkmalpflegern auch verwundert, ist, daß sie sich in die gegenwärtige Architekturdiskussion sosehr einmischen. Denkmalpflege möchte doch dokumentieren, was gebaut wurde. Würde ein Direktor eines Automobilmuseums heutigen Automobildesignern vorschreiben, wie ihr Design auszusehen hat oder wie es um nichts in der Welt aussehen darf, da "Vortäuschung", "Lüge", "Verwechslungsgefahr mit historischen Fahrzeugen" etc.? Interessant übrigens, daß es auch im Autodesign einen Retrotrend gibt.
Ach ja, die Rekonstruktion des Knochenhaueramtshauses in Hildesheim ist jetzt über 30 Jahre alt, wie wäre es mit einer Diskussion unter Denkmalpflegern, dieses Gebäude unter Denkmalschutz zu stellen (natürlich nicht als mittelalterliches Gebäude, sondern als eines der wichtigsten Rekonstruktionen der 80er Jahre - Stichworte: Denkmalschutzjahr, Wiederentdeckung der Altstadt, Wiederherstellung des historischen Stadtgrundrisses, identitätsstiftendes Bauwerk)?