Vorweg eine Entschuldigung für meine lange Abwesenheit aus dieser Diskussion. Ich hoffe, noch auf neuestem Stand der Dinge zu sein.
Ich möchte mich Palantirs Meinung in vollstem Umfang anschließen. Architektur, die es nicht schafft, die Widersprüche ihrer Zeit zu überwinden, indem sie sie zu allgemein gefälligen Formen verschmilzt, ist keine Architektur mehr. Sie ist bestenfalls Skulptur, die man in Galerien und Museen betrachten und diskutieren kann. Schlimmstenfalls ist sie einfach Abfall und nicht würdig, unser kurzes Leben zu überdauern.
Die von der_vogtlaender angesprochene Divergenz zwischen Form und Funktion ist dabei meines Erachtens keineswegs kennzeichnend für jedwelche architektonische Epoche. Man nehme die Antike als erklärtes Ziel der Ästhetik als Äquivalent zur statisch-funktionalen Höchstleistung. Man nehme die Gotik, deren Ästhetik überhaupt erst aus der Symbiose von Statik und Bildporgramm resultiert. Oder man nehme das Barock, wo sich die funktionale Bedeutung in der Bauplastik wiederspiegelt. Und selbst im Historismus hatte sich das Dekor, trotz Omnipräsenz, nie über die Funktion hinweggesetzt. Der Witz "Den Rohbau steht, welches Spiel soll nu dran, Meesta?", der später Berliner Bauarbeitern zugeschrieben wurde, ist bezeichnend: stilistische Wertdiskussion (man kennt meinen Standpunkt inkl. argumentativer Rechtfertigung ja bereits) hin oder her, der Rohbau stand immer zuerst. Die desolate Situation in den Arbeitervierteln ist hierbei übrigens nicht als Argument anzuführen. Hier ist die Schuld beim Wirtschaftsgedanken an sich zu suchen. Es ist absurd zu glauben, die Vermieter hätten das durch das Weglassen von Ornament gesparte Geld in die Verbesserung der Lebensbedinungen investiert.
Zur Frage des Erhaltungswerts einer solchen Konstruktion: Das angeführte Beispiel der Rolle des Plauener Rathauses bei den Montagsdemonstrationen ist aus denkmalhistorischer Sicht zweifelhaft. Bei allem Respekt, den ich als nach '89 Geborener für die Protestteilnehmer empfinde, halte ich doch den Gedanken, dass sich dieses Ereignis irgendwie in der Rathausarchitektur manifestieren soll, für merkwürdig. Eine Gedenkplakette wäre da sinnvoller - oder wer weiß, vielleicht sogar eine Fassadeninschrift? Aber das war den Architekten wohl zu kreativ.
Der Bemerkungsansatz, die historische Fassade lasse sich ohnehin bei vielen Rathäusern finden, gewinnt überdies angesichts der unzählige Male reproduzierten Massenware der 70er-Jahre-Fassade eine leicht ironische Dimension.
Beim ästhetischen Argument, glaube ich, braucht die Punktverteilung kaum mehr erörtert zu werden. Und bei jenem der vermeintlichen bauhistorischen Bedeutsamkeit habe ich, angesichts zahlloser Skizzen, die uns von Vertretern der Frühmoderne erhalten sind, auch meine Zweifel.
Ansonsten ist bedauerlich, dass jedwelcher Versuch im Wettbewerb, sich der historischen Fassade im moderneren Kontext anzunähern, bei zwanghafter Anbiederung endete. Was hätte denn dagegen gesprochen, hätte man die alte Fassadengestaltung im verkürzten und vereinfachten Maßstab weitergeschrieben? An und für sich finde ich den jetztigen Entwurf durchaus gelungen, er könnte in praktisch jeder Deutschen Stadt ansehnliche Wohn- und Geschäftsflächen stellen. Aber er passt nicht zum Rathaus! Er hat die falsche Gliederung, die falsche Farbe und den falschen Grundsatz - denn im Kontext gesehen ist er doch nur das Aquarium im klassischen Gewand. DAS ist sein Problem!
Und nun zu guter Letzt, noch eines:
Event-Eigenschaften spielen bei den jungen Leuten eine viel größere Rolle als Stadtbildgestaltung. Der Wunsch nach Wiederaufbau der historischen Fassade wurde vor allem von den älteren Generationen getragen.
Im Namen meiner selbst, nicht weniger Forumskollegen und nicht zuletzt praktisch meines gesamten Freundes- und Bekanntenkreises freue ich mich, klar und in aller Deutlichkeit zu erwidern:
NEIN!!!!
Und ich HASSE dieses Totschlägerargument wie die PEST! Bitte: KEIN! EINZIGES! MAL! MEHR! ERWÄHNEN! Und vor allem: KEIN! EINZIGES! MAL! MEHR! PAUSCHALISIEREN! Das ist, zeitgemäß ausgedrückt, der letzte Bullshit!
Die Stadtbildgestaltung ist einfach völlig aus dem Fokus geraten. Events sind wichtig, da sie im kollektiven Bewusstsein der (epochalen) Postmoderne fest verankert sind. Doch jedes mal, sobald ich darauf hinwies, veränderte sich die Wahrnehmung. Ich hielt kürzlich in Erdkunde eine kleine Stadtführung ab. Und die Allermeisten waren hinterher ebenso beeindruckt von der erhaltenen Substanz und ihrer Geschichte wie erschüttert von den Kriegszerstörungen und den Abrissen der Nachkriegszeit. Es gibt genügend Freifläche für Events, individuelle Ballungsräume gibt es dagegen nur jeweils einmal. Dieses Bewusstsein, dieser faktisch nur belegbare Umstand, geht unter. Aber mit ein wenig Geleit, mit ein paar wenigen Argumenten, entsteht es von neuem - vorausgesetzt, es war nicht schon immer da. Denn genau das, werter Herr Kett, war bei den meisten meiner gleichaltrigen Bekannten schon der Fall, bevor ich sie darauf ansprach.
ANMERKUNG: die hellgrauen Passagen sind aus Gründen inhaltlicher Fehlinterpretationen meinerseits als revidiert zu betrachten.