Historismus in Deutschland

  • Während der Gründerzeit kam es vermehrt zu Abrissen und zu Strassendurchbrüchen und verbreiterungen, so etwa in Frankfurt oder aber auch Berlin.
    Weiter gebe ich selbstverständlich Atticus recht, dass sich Neubauten einzufügen haben, um nicht zu einer Bausünde zu werden.
    Kathedralen sollten aufgrund Ihres Zweckes überhöht werden, und das mit den Renaisscancehäusern sollte nochmal überdacht werden.

  • Bei dem Bau in Potsdam würde ich einfach vermuten, dass es die Anlieger/Besitzer der Hollandhäuschen selbst billig hochgezogen haben. Da waren wahrscheinlich keine Vorgaben der Stadt gemacht worden und man hat eben mit bescheidenen Mitteln für die wachsende Familie oder für Mieter Wohnraum geschaffen, um schnell zusätzliches Einkommen zu sichern. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass die Bevölkerung während der Industrialisierung unheimlich schnell gewachsen ist. Mitunter musste es da sehr schnell gehen und nicht überall war Zeit und Muße für Rücksicht und genaue Planung vorhanden. Angesichts dessen finde ich die Resultate der Gründerzeit im Großen und Ganzen sehr erstaunlich bis schlicht unvorstellbar gut. In einer solchen Masse und Klasse hat man vorher und nachher nicht gebaut. Davon zehren wir noch heute sehr und werden es auch künftig.

  • Seid ihr heute mit dem Klammerbeutel gepudert, oder was? :rolleyes:
    Da steht doch Folgendes ganz unmissverständlich: "Angesichts dessen finde ich die Resultate der Gründerzeit im Großen und Ganzen sehr erstaunlich bis schlicht unvorstellbar gut. In einer solchen Masse und Klasse hat man vorher und nachher nicht gebaut."

    Ich will doch gar nicht verhehlen, dass der Historismus auch viel "Massenware" hinterließ. Doch das hat letztlich auch schon u.a. der Barock. Solange es gute Massenware ist, warum denn auch nicht. Die modernistische Dutzendware á la Plattenbauten/Großwohnsiedlungen und Büro-Renditekisten etc. fällt ja wohl unendlich dagegen ab. Hinzu kommt, dass es auch noch deutlich mehr herausragende große Einzelbauten im Historismus gab und gibt als in anderen Epochen (Kirchen vllt. mal ausgenommen).

  • Das ist ja alles nicht von der Hand zu weisen, ABER lieber Erbse die Gründerzeit hat im Hinblick auf die üerkommenen Stadtbilder viel zerstört, es wurden Gebäude in Vielzahl abgerissen, Strassen verbreitert, oder gar in Altsstädte hineingebrochen, S. Bahnen durch gewachsene Plätze geführt, siehe Hallesches Tor Berlin, usw.
    Die Gründerzeit hat also hinsichtlich Bausünden viel Dreck am Stecken.

    Glaub man nicht, dass wir uns die Hose mit der Kneifzange anziehen.

  • Habe ich das bestritten? Was soll uns diese Diskussion nun bringen?

    So gesehen haben auch Renaissance und Barock schon viel Gotik "zerstört". Und die Gotik hat Romanik und Karolingerbauten und Stroh- und Holzhütten "zerstört". Andererseits kann und muss man eben einfach von organischem Stadtwachstum sprechen, die verschiedenen Zeitschichten machen ja auch den Reiz einer Stadt aus. Manche Städte sind wiederum im 19. Jahrhundert so rasant gewachsen, dass eben ganze Innenstädte überformt worden, wie in Berlin, Hamburg und Köln oder den in aller Welt umschwärmten Metropolen Paris und Wien. Ist ja auch nicht so, als wäre das von oben alles irgendwie gesteuert gewesen; oft waren es die Besitzer selbst, die sich erweitert und vergrößert haben. Der Denkmalschutz steckte noch in den Kinderschuhen. Wem soll man da nun einen Vorwurf machen? Ohne diese rasante Entwicklung damals wären unser Land und die ganze Welt längst nicht so weit entwickelt wie heute, wir könnten hier wahrscheinlich gar nicht kommunizieren. Sind ja aber auch alles Binsenweisheiten. Die Gründerzeit bzw. der Historismus war nicht der große Bruch mit der klassischen Stadt, wie es mitunter heraufbeschworen wird - der große Bruch war erst die Corbusier-Version der Moderne mit der Charta von Athen und den in dieser Linie stehenden Denkschulen.

    Was ich letztlich will, ist eine differenziertere Betrachtung von Architektur aller Epochen, insbesondere auch des Historismus. Damit wir hier Unsinnsbeiträge wie einige der erwähnten nicht mehr lesen müssen, die dieser Ära jeden Wert abzusprechen versuchen.

  • Naja, in Wien bin ich nicht ganz unglücklich darüber, dass es die Gründerzeit gab - im Gegenteil! Dass wir in Wien die Ringstrasse mit ihrer wunderbaren Gründerzeitarchitektur haben ist ein Geschenk Gottes (bzw. des Kaisers)! Dass dabei enorm viel vorgründerzeitliche Bausubstanz abgerissen wurde ist kein Geheimnis - aber ich bin im Endeffekt dafür dankbar, denn erst dadurch wurde Wien zu einer ansehlichen Weltstadt. Was Dresden angeht sehe ich das genau so! Für mich persönlich ist die Gründerzeit mit ihren Palästen und hochherrschaftlichen Bauten (nicht die Zinskasernen! in den Vorstädten) der Höhepunkt unserer Baukultur schlechthin.

    Übrigens, wir feiern heuer 150 Jahre Wiener Ringstrasse! Ein Grund nach Wien zu kommen und diese Epoche einmal richtig auf sich einwirken zu lassen! Wenn ich Kraft tanken möchte, dann reicht in der Regel ein Spaziergang über den Ring...

  • Die Gründerzeit bzw. der Historismus war nicht der große Bruch mit der klassischen Stadt (...)

    Sicher war er das nicht. Er hat überwiegend (mal mehr recht, mal mehr schlecht) versucht, die klassische Stadt weiterzuentwickeln. Es gab aber eben auch so einige Aussetzer – sicherlich prozentual weniger als heute. Etwas unverständlich finde ich jedoch, warum Du nun auf Teufel komm raus einen solchen offensichtlichen Aussetzer verteidigen willst – und das noch in derselben Sprache, mit der uns heute irgendwelche Styroporkästen als doch gar nicht so schlimm verkauft werden sollen.

  • Das ist ja alles nicht von der Hand zu weisen, ABER lieber Erbse die Gründerzeit hat im Hinblick auf die üerkommenen Stadtbilder viel zerstört, es wurden Gebäude in Vielzahl abgerissen, Strassen verbreitert, oder gar in Altsstädte hineingebrochen, S. Bahnen durch gewachsene Plätze geführt, siehe Hallesches Tor Berlin, usw.
    Die Gründerzeit hat also hinsichtlich Bausünden viel Dreck am Stecken.

    Glaub man nicht, dass wir uns die Hose mit der Kneifzange anziehen.

    Auch das stimmt natürlich. Gründerzeitvierteln finde ich auch sehr interessant, nur müssen sie sich nicht innerhalb eine einst einmalige Altstadtkern befinden!

  • Dass dabei enorm viel vorgründerzeitliche Bausubstanz abgerissen wurde ist kein Geheimnis

    Meines Wissens wurde das Wiener Ringstraßenensemble auf dem bis dahin von Bebauung freigehaltenen Glacis zwischen Innenstadt und Stadterweiterungsvierteln errichtet; es wurde also nichts oder praktisch nichts dafür abgerissen. Aber um die hier stattfindende Gründerzeit- bzw..Historismus-Diskussion zu vertiefen: gerade der Hinweis auf die Wiener Ringstraße macht deutlich, dass diese Epoche Bauwerke von weit auseinanderklaffendem Qualitätsanspruch hervorgebracht hat. Die Epoche des Historismus war, menschheitsgeschichtlich gesehen, die erste, die ein Scheitern im großen Maßstab ermöglichte, und das noch in der Generation unserer Großväter als selbstverständlich geltende Verdikt des Historismus als "Wilhelminismus" rührte auch daher, dass gerade im rasant heranwachsenden Berlin viel Minderwertiges heranwuchs, was diese Epoche insgesamt in Verruf brachte. Jene Verächter des Historismus erkannten wohl zurecht, dass bis zur Barockzeit (zwar meinetwegen auch Massenware aber) keine aus den Fugen geratene Gestaltung möglich war. Sie übersahen allerdings, dass erst das 20. Jahrhundert das Scheitern der Architektur an ihrem gesellschaftlichen Auftrag als globales Phänomen heraufführte.

    Umso wichtiger ist es, herausragende Historismus-Architektur zu benennen und, wie Atticus es getan hat (685), rekonstruktionswürdige Berliner Bauten dieser Epoche schon jetzt zu benennen, damit sich das allgemeine Bewusstsein allmählich auf derartige Rekonstruktionsvorhaben einrichten kann. Was das an historischer Bausubstanz unendlich verarmte Berlin dringend benötigt, ist die neue Wertschätzung der signifikanten Bauten vor allem von Hitzig, Messel, Hoffmann und Ihne. Noch sind solche Rekonstruktionen schwer vorstellbar, aber Je nachdrücklicher wir die Werke dieser Großmeister des (Berliner) Historismus ins allgemeine Bewusstsein heben, deste näher rückt der Paradigmenwechsel, und es erscheint auf einmal durchsetzbar, dass Berlin das Beste aus seiner Baugeschichte wiedererstehen sieht.

  • Für Berlin gebe ich dir im wesentlichen Recht. Keine Epoche hat die Stadt mehr geprägt als die Gründerzeit. Von daher ist es unerlässlich, markante Gebäude an Plätzen, aber auch Strassenverläufe zu rekonstruieren und wiederherzustellen, um der Stadt die an vielen Orten verloren gegangene Urbanität wiederzugeben. So etwa das Haus Vaterland am Potsdamer Platz.

  • Etwas wie das Haus Vaterland ist doch derzeit und auch in absehbarer Zukunft ziemlich unrealistisch, da die Flächen in den 90ern/frühen 2000ern bebaut wurden.

    Beschäftigen wir uns doch mit dem, was möglich wäre. Am Schinkelplatz müssen wir dafür sorgen, dass Schinkels Bauakademie ohne faule Kompromisse kommt und würdig genutzt wird. Fast nebenan müsste für die Wiederherstellung der einstigen Pracht am Neuen Marstall gesorgt werden.

    Und einen konkreten Rekovorschlag für einen Gründerzeitler mache ich hier: Molkenmarkt und Klosterviertel

  • Hallo Erbse,

    so wie ich die Lage überblicke, geht es mit der Bauakademie voran. Wenn ich mich entsinne, gab es eine entsprechende Anfrage.
    Vor den Marshall gehört der Neptunbrunnen und eine entsprechende Grünanlage. Das sehe ich auch so.

    Warten wir mal die Zeit nach der Fertigstellung des Schlosses ab. Es wird nicht so einfach werden. So wie ich das sehe, versucht die Lüscherfraktion das Schloss modernistisch zu interpretieren.

    Einmal editiert, zuletzt von Der Herzog (23. März 2015 um 13:42)

  • Etwas wie das Haus Vaterland ist doch derzeit und auch in absehbarer Zukunft ziemlich unrealistisch

    Keine Frage. Mir ging es in dem Post darum, unabhängig von der Machbarkeit Gründerzeitbauten zu benennen, die m.E. rekonstruktionswürdig wären – bezogen auf ihre Qualität und/oder ihre stadtbildprägende und sinnstiftenden Funktion.

  • Meines Wissens wurde das Wiener Ringstraßenensemble auf dem bis dahin von Bebauung freigehaltenen Glacis zwischen Innenstadt und Stadterweiterungsvierteln errichtet; es wurde also nichts oder praktisch nichts dafür abgerissen.

    Ich will jetzt wirklich nicht oberlehrerhaft klingen und danke Dir im Prinzip für Deinen Einwurf, zumal sich dieser mit dem deckt, was einem "Reiseführer" in Wien gerne aufbinden wollen (ohne dass es diese selbst besser wissen - aber vielleicht liest ja einer der Reiseführer im Aph mit ;-)).

    Weil ich auf meinem Rechner einige Fotos aus den Jahren um 1858 besitze, möchte ich Euch diese Bilder hier gerne auch zeigen - zumal nicht sooo geläufig. Tatsache ist - ohne Wertung - dass beim Abriss der alten Stadtmauer und Bau der Ringstrasse unzählige Straßenzüge gleich auch mitabgerissen wurden, um Platz für die Weltstadt Wien zu schaffen. Im Prinzip sind fast alle der hier gezeigten Altbauten nach 1860 für die Neubebauung der Ringstrasse und seiner Umgebung ebenfalls abgerissen worden:


    Fischertor um 1858 - mitsamt Umgebung demoliert


    Schottentor um 1860 - mitsamt Umgebung demoliert


    Rotenturmtor um 1860 - mitsamt Umgebung demoliert


    detto


    Kärntnertor um 1860 - mitsamt Umgebung demoliert

    Die Devise hieß "klotzen, nicht kleckern". Kein Fehler, wie ich meine. Wer A sagt, muss auch B sagen. :daumenoben:

    (Ich werde diesen Beitrag nach ein paar Tagen in den Strang "Wiener Ringstrasse" verschieben).

    Einmal editiert, zuletzt von Exilwiener (23. März 2015 um 20:34)

  • Hallo das beweist nur, dass die Gründerzeit auch sehr zerstörerisch war. In der Gründerzeit musste man mit der industriellen Revolution klarkommen. Die Gründerzeit versuchte jedoch auch trotz der aufkommenden Modernität das Überkommene im Prinzip zu bewahren.
    Das hat sie dem Modernismus voraus.

  • Tatsache ist - ohne Wertung - dass beim Abriss der alten Stadtmauer und Bau der Ringstrasse unzählige Straßenzüge gleich auch mitabgerissen wurden, um Platz für die Weltstadt Wien zu schaffen. Im Prinzip sind fast alle der hier gezeigten Altbauten nach 1860 für die Neubebauung der Ringstrasse und seiner Umgebung ebenfalls abgerissen worden:

    Danke, Exilwiener, für diese Klarstellung! Aber recht hast du auch mit deiner Beurteilung: wer A sagt, muss auch B sagen. Skrupulöses Vorgehen hätte das städtebauliche Meisterwerk Ringstraße nicht zustande gebracht.

  • Philoikódomos

    Ganz recht hat der Exilwiener auch nicht, wobei die Wahrheit sehr in der Mitte gelegen sein dürfte.
    Der von ihm dankeswerter Weise erwähnte Abriss der Randzone der Wiener Altstadt, ohne zweifel ein für uns alle als sehr negativ zu bezeichnendes Phänomen, erfolgte weniger der Ringstraße wegen, sondern aufgrund strategischer Überlegungen. In erster Linie ging es um die Beseitung der Stadtmauern = Festungswerke. Diese waren für die Machthaber nicht nur obsolet, sondern auch schädlich geworden, wie die 48er Aufstände zeigten, bei denen sie als wirkungsvolle Barrrikaden dienten.
    Die Ringstraße selbst kam erst später, und sie steht an keiner Stelle auf Altstadtboden. Überdies hätte man sie auch in größerem, altstadtfernerem Radius anlegen können, Platz genug wäre gewesen.
    Sicherlich war die mauern für eine moderne Großstadt, für die Metropole des Reiches unhaltbar. Sicher wäre es aus heutiger, denkmalbewusster Sicht, am Klügsten gewesen, die alte Stadt in Ruhe zu lassen und möglichst weit weg eine neue zu bauen. Aber so großzügig dachte damals niemand.
    nach den Abrissen war die Anlage der Ringstraße einfach die logischste Option.

    Augustinus (354-430) - Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat
    14. Buch 9. Kapitel
    Der Staat oder die Genossenschaft der nicht gottgemäß, sondern nach dem Menschen wandelnden Gottlosen dagegen, die eben infolge der Verehrung einer falschen und der Verachtung der wahren Gottheit Menschenlehren anhangen oder Lehren der Dämonen, er wird von den bezeichneten verkehrten Gemütserregungen geschüttelt wie von Fieberschauern und Stürmen.