Danke, Hildesheimer.
Ohne Zweifel sahen das Leben und seine Randerscheinungen vor 100 Jahren anders aus als heute. Aber letztere zu leugnen oder kleinzureden zeugt m.E. entweder von Unwissenheit oder unbedingtem Willen zur Verklärung. Um es nochmal ganz klar zu sagen: Ich rede hier von Architektur nur insofern (auch qua Strang-Titel) sie den räumlichen Rahmen bildet; nicht von Baustilen. Ohne in irgendeiner Form der Charta von Athen o.ä. das Wort reden zu wollen, muß es doch wohl möglich sein, sich auch mit den Schattenseiten historischer Architektur auseinanderzusetzen. Multiple, enge, feuchte Hinterhöfe sind einfach schlechte Planung und bildeten (empirisch belegbar) einst einen ähnlichen Nährboden für Kriminalität wie heute viele der Großsiedlungen. Von mir aus kann man sich jetzt ausgiebig über Prozentsätze streiten (dann aber bitte mit Quellen und nicht mit gefühltem Wissen). An der Tatsache ändert das nichts. Hier gehört die Doktrin einfach mal kurz beiseite gelassen.
Neben politisch motivierter Gewalt (brauner und roter!), die vielleicht das berüchtigtste Cachet der 20er Jahre war, gab es auch die ganz "normale" Kriminalität: Jugend- und Bandenkriminalität gab es einst wie heute; in Form der Ringvereine war letztere damals sicher sogar etablierter. Die Ringvereine distanzierten sich zwar deutlich von Mord und Sexualstraftaten, aber mit dieser expliziten Aussage ist nur bewiesen, daß solche Verbrechen absolut nicht unüblich waren. Die Gesellschaft zeigte weniger religiös/bürgerlich bedingten Zusammenhalt, als viel mehr deutliche Auflösungserscheinungen. Armut grassierte in den 1920er Jahren, Obdachlose hausten in Kellern und in Hüttendörfern mitten in der Stadt. Grauenvoll verkrüppelte Kriegsveteranen bettelten hungernd auf den Straßen. Drogen gab es auch damals – wiewohl sich die Unterschicht vorrangig mit Alkohol begnügen mußte. Aber gerade dieser fördert ja den Hang zum Faustrecht. Und bemerkenswerterweise war es auch die klassische Epoche der irren Serienmörder.
Einen feuilletonistischen Einblick in die Abgründe dieser Zeit erhält man z.B. über die Bilder George Grosz', die Fotos Heinrich Zilles, die Texte von Friedrich Hollaender, Erich Kästner, Willi Mann und Alfred Döblin.
Oder man geht etwas tiefer in die Materie:
von Liszt, Elsa: Die Kriminalität der Jugendlichen in Berlin, IN: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft. Band 47/1, Berlin 2009
Brückweh, Kerstin: Mordlust. Serienmorde, Gewalt und Emotionen im 20. Jh, Frankfurt 2006
Feraru, Peter: Die Ringvereine und das organisiete Verbrechen in Berlin, Berlin 1995
Claßen, Isabella: Darstellung von Kriminalität in der deutschen Literatur, Presse und Wissenschaft 1900 bis 1930, Hamburg 1988
Liang, Hsi-Huey: Die Berliner Polizei in der Weimarer Republik, Berlin 1977