Gentrifizierung und neue Urbanität

  • Für mich der wichtigste Satz im Artikel: "Die nicht von den Planern, sondern von privaten Investoren aufgehübschten Innenstädte entfalten eine ungeahnte Attraktivität."
    Unter privaten Investoren verstehe ich Einzelpersonen und Familienunternehmen mit einem überschaubaren Bestand an Wohngebäuden. Bei denen man - nur um etwas zu beweisen - die Besitzer um 3:30h nachts aus dem Schlaf holen könnte, um sie nach der Farbe der Eingangstür in der ABC-Straße 123 fragen und die Antwort kommt prompt. Und ist richtig. Da ist das Haus noch mehr als nur ein Eintrag in einer Exceltabelle...

    Ab einer gewissen Größe versagen Strukturen - ob nun kapitalistisch oder sozialistisch - darin, lebenswerten Wohnraum zu schaffen.

    Vielleicht ist die Abkehr vom Haus im Grünen ja auch darin begründet, dass seit etwa Mitte der 1990er Jahre es kaum noch Häuser zu kaufen gibt, die mit Herzblut entworfen sind?
    Heute ist doch der Standard so: Eine Gemeinde gibt einen Acker als Bauland frei, verantwortet eine riesige ehemalige Ackerfläche an eine einzige Firma und dort entstehen dann ca. 50 Einfamilienhäuser auf einen Schlag und alles ist so optimiert, dass für den Bauträger der maximal mögliche Gewinn herausspringt.

    Nicht so, dass der Käufer seine Wünsche bestmöglichst verwirklichen kann. Er hat die Auswahl aus einer handvoll Haustypen und darf nur über ein paar Details entscheiden. Wer will sich für so etwas jahrzehntelang verschulden?

  • Leider werden bei uns die meisten Häuser nach den Wünschen der Bauherren von Nicht-Architekten entworfen, sodass dann lauter Jodelhäuser mit Erker, Krüppelwalmdach und Rundbogenfenstern entstehen, und das in einer Gegend, die von schlichten Satteldachhäusern geprägt ist. Ganz zu schweigen von den Toskanahäusern, die aber im Vergleich zu den Jodlern noch punkten.... Die Gentryfizierung ist schon ein Problem, das aber durch Auflagen wie z.B 20% Sozialwohnungen pro Projekt sehr gut lösbar wäre :smile:

    Architektur ist immer subjektiv, da sie wie jede andere Kunstform vom Auge des Betrachters abhängt.

  • Irgendwie denke ich mir immer, wenn ich sehe wie unsere Städte (auch durch Rekonstruktionen, man siehe Potsdam und Dresden) das Wohnen in Ihren Zentren für normale Menschen unmöglich machen, es das beste wäre, rekonstruierte Wohnhäuser n so sehr zu subventionieren, dass diese Wohnungen auch bezahlbar sind. Ich weiß das ist ein Eingriff in die freie Markwirtschaft (von der ich sowieso nicht der größte Freund bin^^) und dem Staat und den Städten fehlt es an allen Ecken und Enden, aber ich sähe darin eine möglichkeit, Rekonstruktionen ganzer Straßenzüge und Plätze sinnvoll zu ermöglichen.

    Andererseits muss man aber auch berücksichtigen: Die meisten prächtigen Barocken Gebäude die in Dresden oder in Städten allgemein standen, wurden ja von Adeligen oder gut betuchten Händlerfamilien errichtet, es waren ja schon Luxuswohnungen, nur eben im Stile und dem Stand Ihrer Zeit. Adelige oder klassiche Händlerdynastien spielen aber in der heutigen Gesellschaft keine wirkliche Rolle mehr.

    Es ist in der Tat eine vertrackte Situation, aber ich glaube unterm Strich täte es den Städten und dem Volke besser, schöne, zentrale Wohnungen, wie gelungen Rekonstruktionen, der einfachen Bevölkerung zum Wohnen zur Verfügung zu stellen, zu mindest, wenn die Architektur wieder eine anständige ästhetische Formensprache entwickelt hat, die auch den armen Reichen wieder schöne Wohnungen ermöglicht, die sowohl ihren Anforderungen, als auch den ästhetischen Anforderungen gerecht wird.

  • Da bin ich auch hin und her gerissen. Einerseits will ich nicht ausschließlich Luxussanierungen und Luxusrekos, auf der anderen Seite muss sich die Investition rechnen. Gerade in der ehemaligenn DDR scheinen immer noch viele davon auszugehen, dass bezahlbarer Wohnraum im Zentrum ein Menschenrecht ist. In unserer Demokratie und freien Marktwirtschaft liegen die Dinge leider anders. Für bevorzugten wohnraum muss man eben in die Tasche greifen, ganz einfach. Der elbblick kostet halt gleich extra. Angebot und Nachfrage. Dafür verfallen die Städte nicht wie im Sozialismus. Der Trend zu Wohnraum in den Zentren ist doch eher positiv zu bewerten und wenn da Gutbetuchte leben, die da Geld ausgeben und es nicht woanders hin tragen, ist das auch gut für die Innenstadt.
    Den Vorschlag Rekos vom Staat finanzieren zu lassen, halte ich für problematisch. Vermittel das mal einer Familie auf Wohnungssuche, die keine passende Wohnung findet, weil der Staat kein Geld für den "normalen" Wohnungsbau mehr aufwenden kann, denn Fakt ist, dass sich mehr Wohnungen schaffen lassen, wenn nicht aufwändige Fassaden vorgeblendet werden. Ein Dilemma.

    Der deutsche Pfad der Tugend ist immer noch der Dienstweg.

  • Naja in den 1920ern hat man es auch geschafft, anspruchsvolle Architektur mit sozialem Wohnungsbau zu verbinden. Mir geht immer noch nicht in den Kopf warum das heute nicht mehr gehen soll.

  • [Eben, aber das sind zwei paar Schuhe. In den Zwanzigern entstanden ja auch so grandiose Gebäde wie das Chilehaus oder
    der Sprinkenhof in Hamburg.

    Gerade der Sprinkenhof ist auf den ersten Blick ziemlich klotzig, aber die Details!
    http://www.raike.info/uploads/media/…cht_bei_Tag.jpg
    http://upload.wikimedia.org/wikipedia/comm…nkenhof-hof.jpg
    http://www.raike.info/uploads/media/…ailaufnahme.jpg
    http://de.academic.ru/pictures/dewik…f_Hamburg_2.jpg
    Jeder "Knopf" zwischen den Fenstern ist anders gestaltet
    http://upload.wikimedia.org/wikipedia/comm…fassade.ajb.jpg
    http://img.fotocommunity.com/images/archite…e-a29599349.jpg

    Kann mir irgendjemand ein zeitgenössisches Bürohaus nennen, das noch ansatzweise derart innovativ ist und trotzdem so modern?
    So das war jetzt off, zurück nach Dresden
    Die Dresdner hatte ja ihren Erlwein.

    Der deutsche Pfad der Tugend ist immer noch der Dienstweg.

    Einmal editiert, zuletzt von Pfälzer Bub (19. April 2013 um 14:15)

  • Der kommunale Wohnungsbau in den 20er Jahren profitierte noch von den Wertschöpfungen der Gründerzeit bis zum Ersten Weltkrieg, da er durch eine neue "Hauszinssteuer" finanziert wurde. Es gab in dieser Zeit viele "Rentiers", die durch Mieteinnahmen aus den sehr soliden Mietshäusern, die in der Gründerzeit ( unter welchen Arbeitsbedingungen der Handwerker dies geschah, sei jetzt mal dahingestellt) gebaut wurden, recht wohlhabend waren. Auf diese Vermögen wurde durch die "Hauszinssteuer" zugegriffen. Für die vorhandenen Häuser waren zu der Zeit noch keine grösseren Bauunterhaltungsmassnahmen notwendig.
    Durch die Kriegszerstörung (deren finanzielle Lasten grösstenteils auf den Hausbesitzern liegen blieben, wenn sie denn überhaupt überlebt haben) und der weniger nachhaltigen Ausführung der Wohnbauten in der Nachkriegszeit ist kein vergleichbares Kapital mehr vorhanden.
    Also - auch ohne Ideologisierung - kann man das als Folge des Krieges und der Vernichtung/ Vertreibung einer Elite (viele Hausbesitzer waren jüdisch) sehen.

    Wer zwischen Steinen baut, sollte nicht (mit) Glashäuser(n) (ent)werfen...

    Einmal editiert, zuletzt von Ein_Hannoveraner (19. April 2013 um 14:28)

  • Vllt. sollte man diese Diskussion auslagern in ein Thema á la "Gentrifizierung und sozialer Wandel in unseren Zentren".

    Zunächst mal: Wir sollten froh sein, wenn nicht alle Leistungsträger aus unserer Gesellschaft abhauen, auch angesichts der rotrotgrünen Steuer- und Vergesellschaftungsdrohungen und der EU-Autokratiebestrebungen. Wer's drauf hat, lebt in vielen Teilen der Welt deutlich besser als in Deutschland (zumindest was Abgaben, Bürokratie und auch Lebensstandard angeht).

    Gerade für die obersten 0,1% der Gesellschaft müsste Deutschland attraktiver werden, das befördert auch das Mäzenentum. Siehe Hasso Plattner, Günther Jauch, Blobel u.a., die viele tolle Dinge im Osten Deutschlands ermöglicht haben. Oder die jährliche Altstadtmillion in Görlitz. Es ist ein Trugschluss, anzunehmen, dass die Reichen sich nur selbst die Taschen immer voller machten. Im Gegenteil sind sie das freigiebigste Glied der Gesellschaft, ein Kitt, ohne den abgehängte Teile bröckeln würden.

    Was kann man nun in den Zentren aber machen? Eine Möglichkeit ist es, gerade bei größeren Vergaben (z.B. ganze Quartiere am Neumarkt) an einen einzigen Investor Vorgaben zu machen. Vorstellbar z.B. ein Anteil von sozialem Wohnungsbau bei den Neubauten. Dafür könnte man von Seite der Stadt aus etwas vom Grundstückspreis ablassen o.ä.


    PS: Ich bin das, was man wohl landläufig als "Musterkapitalisten" bezeichnen würde. Dennoch bin ich der festen Überzeugung, dass wir mit Hilfe einiger sinnvoller Regeln das Maximum an allem herausholen können: Qualitätvoller Städtebau, lebenswerte Innenstädte, gesunde Durchmischung und sozial angenehme Verhältnisse.

    So, liebe Freunde, ich habe die Diskussion aus dem Strang zur Rampischen Straße an diese Stelle verschoben. Viel Spaß weiterhin. Bilderbuch.

  • Snork 18. April 2022 um 08:01

    Hat den Titel des Themas von „Gentrifizierung: Die Wut der Soziologen über die neue Urbanität“ zu „Gentrifizierung und neue Urbanität“ geändert.