Brandevoort - eine neue Stadt mit traditioneller Architektur

  • Ich dachte wir hätten längst einen Faden über Brandevoort (Wiki-Artikel), das bekannte neue Städtchen in den Niederlanden mit vielen vernakulären Elementen und Ideen des New Urbanism. Nun denn, hier ist einer. :)

    Rob Krier († 20. November 2023 in Berlin) und Christoph Kohl waren an diesem wegweisenden Projekt beteiligt, das viel Debatte in der holländischen Planer- und Architekturszene ausgelöst hat und auch diverse Nachahmer fand. Heute gilt es als eines der erfolgreichsten Städtebauprojekte seit 1945.

    Ein paar Eindrücke:

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    https://commons.wikimedia.org/wiki/File:%27T…etse_(2021).jpg MatteoNL97

    1280px-Traditionele_nieuwbouw_en_stadspoort_aan_De_Plaetse_%282021%29_2.jpg
    https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Trad…se_(2021)_2.jpg MatteoNL97

    Regelrecht großstädtisch am Kanal:

    1280px-Traditionele_nieuwbouw_aan_De_Plaetse_%282021%29_13.jpg
    https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Trad…e_(2021)_13.jpg

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    Skulptur "Absorbed" von Rob Krier am Markt mit seiner klassischen Freiluft-Markthalle:

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    https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Stan…etse_(2021).jpg MatteoNL97


    Mehrere Nebenstraßen haben eine geringere Dichte und eher Kleinstadt-Charakter:

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    https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Brandevoort_26.JPG

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    https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Trad…at_(2021)_3.jpg

    1280px-Brandevoort_14.JPG
    https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Brandevoort_14.JPG


    Einige stilistisch und bezüglich der Proportionen eher fragwürdige Bauten verlinke ich erstmal nur. Sie stören mE den sonst recht positiven Eindruck des Ortes:

    - Das Multifunctioneel Centrum
    - Turmbauten am Neerwal
    - Torbauten der Biezenlaan
    -
    Der Bahnhof
    - Die Schule OBS Brandevoort
    - Block De Plaetse (rechts)
    - De Veste

    Leider muss ich sagen, finde ich die eingesprengselten, pseudo-mittelalterlichen Turmbauten fast durchgängig alle ziemlich misslungen. Man möge da irgendwann nochmal nacharbeiten.

    Individuelle kleinere Häuser sind oft sehr schön, wertig ausgeführt und solide proportioniert. Und insgesamt hat der Ort eine sehr angenehme Ausstrahlung und Lebendigkeit.

  • Ein interessanter Artikel von 2007 über Brandevoort, der differenzierter ist, als der Titel vermuten lässt:

    Brandevoort: Holländische Täuschungen

    Roland Stimpel, DAB

    "Neu gebaute Altstädte in den Niederlanden erzeugen Verwirrung: Die Avantgarde ist plötzlich von gestern, das scheinbar Vorgestrige ein zukunftsfähiges Siedlungsmodell."

    Interessante Punkte für die öffentliche Debatte sind daraus sicherlich die hervorgehobenen Parts:

    "Brandevoorts Struktur ist auf der Höhe der Zeit. Der Flächenverbrauch im 30 Hektar großen Kern ist sparsam. In wenigen Jahren werden hier etwa 5 000 Menschen leben – eine höhere Einwohnerdichte als zum Beispiel in Berlin-Kreuzberg. Die Reihenhäuser sind so vielfältig und damit nachhaltig nutzbar, wie dieser Haustyp nur sein kann. In den Erdgeschossen mit ihren relativ hohen Räumen lässt sich wohnen, heimarbeiten oder ein Geschäft betreiben; die aktuelle Mischung reicht vom Nagelstudio bis zur Zahnarztpraxis. Auch Infrastruktur- und Verkehrsprobleme sind für ein Neubaustädtchen auf der grünen Wiese ordentlich gelöst. Der Bahnhof liegt 200 Meter vom Markt. Eine Schule und ein Kindergarten haben bereits eröffnet, für Läden und Kneipen soll der Raum noch kommen. Durch die Gässchen gleiten Autos so geruhsam wie Fahrräder."

    "In sozialer Hinsicht dagegen bietet Brandevoort eine Täuschung der erfreulichen Art. Sein bürgerlich-behagliches Bild scheint zu sagen: Ärmere müssen draußen bleiben. Doch ein Siebtel der Häuser und Wohnungen ist Wenigverdienern vorbehalten, deren Monatsmiete durch Staatszuschüsse bis auf 400 Euro sinken kann. Keinem Haus sieht man an, ob es hinterm Klinker dem Mittel- oder Unterschichtwohnen dient. Die Sozialmieter sind baulich komplett integriert."

    "Insgesamt schnitt bei einer Analyse der niederländischen Stadterweiterungsgebiete durch das nationale Raumordnungsministerium Brandevoort am besten ab. Es ging um Kategorien wie Nachhaltigkeit, Wohnungsmarkt und Landschaftsverträglichkeit."

    "Auf diesem Feld gab es in den Niederlanden eine radikale Wende. Vor zehn Jahren noch beherrschte die hypermoderne Avantgarde die Szene. Heute dominiert im ganzen Land die historisierende Architektur – von backsteinernen, mit vielgeschossigen Giebeln gekrönten Hochhäusern in Den Haag bis hin zu kompletten neuen Kunstorten. Mal kommen sie als Garten- und Grachtenstädtchen daher wie Brandevoort, mal als Gruppe von Festungsinseln auf grüner Wiese wie Slot Haverleij bei ’s-Hertogenbosch, dessen Wehrtürme aus achtstöckigen Apartmenthäusern bestehen.

    Die Stilwende folgte Hollands Schwenk in der Raumordnungs- und Wohnungspolitik in den 90er-Jahren. Damals verabschiedete die Regierung ein neues „Vinex“-Bauprogramm. Es legte im ganzen Land Standorte und Einwohnerdichte für Siedlungen fest, die zusammen rund 750 000 Neubauwohnungen enthalten. Den Gemeinden vor Ort wurde überlassen, wie sie diesen Rahmen ausfüllen. Und viele sind in der Architektur traditionsorientierter als die Zentralregierung. Nicht zuletzt wollen sie damit Steuerzahler locken, die gebaute „gemoedelijkheid“ suchen."

    Dezentralisiert wurde auch die Wohnungsbauförderung. Zuvor hatten staatliche oder staatsnahe Baugesellschaften Objektförderung für ihre Häuser erhalten, ähnlich wie im deutschen Sozialbau. Großformen und Gleichheitsideale dominierten – und damit die architektonische Moderne. Heute gibt es nur noch geringe Zuschüsse, die zudem von den Regionalverwaltungen vergeben werden. Das hat die Gestaltungsmacht stark verschoben: weg von Zentralstaat und öffentlichen Baugesellschaften, hin zur kaufenden und mietenden Mittelschicht und den für sie tätigen Bauträgern.

    Starthilfe für den Traditionsbau leisteten ab den 90er-Jahren zunächst ausländische Architekten wie Adolfo Natalini aus Italien und der New Urbanist Michael Graves aus den USA. Am gefragtesten war bald das Berliner Büro von Rob Krier und Christoph Kohl mit mehr als zwanzig Projekten. Ihr größtes ist Brandevoort, wo Krier und Kohl für Master-, Bebauungs-, Parzellierungs- und auch viele Einzelhauspläne verantwort-lich sind. Erst allmählich erschlossen sich einheimische Büros das neue Arbeitsfeld, darunter profilierte Moderne wie Scala, Molenaar & Van Winden und Sjoerd Soeters.

    Die Traditionsfreunde selbst empfinden sich eher als innovativ denn konservativ. Für Christoph Kohl „bricht der Entwurf zur Stadtgründung Brandevoort mit der gewohnten Logik der Erweiterung großer Städte“. Die Industriestadt Helmond und das nahegelegene Elektronikzentrum Eindhoven würden nicht einfach erweitert, sondern „Brandevoort wird eine neue, eigenständige, dörfliche Kleinstadt mit eigener regionaler Identität“. Das alte Bild wird mit modernsten Methoden erzeugt. Kohl spricht von „simultaneous engineering“, in dem „die verschiedenen Disziplinen von Anfang an parallel geschaltet werden. Hier arbeiten Städtebauer, Landschaftsplaner, Architekten und Tiefbauer zusammen mit Betriebswirten, Werbe- und Marketingleuten.“ Für Kohl ist „Brandevoort das Ergebnis einer avancierten Dienstleistungskultur, in der sich die Bürger ernst genommen fühlen“. Es sind Angestellte der Philips-Konzernzentrale in Eindhoven oder der vielen Dienstleister der Region. Beruflich und mental sind sie auf der Höhe der Zeit; zum Wohnen suchen sie den gebauten Kontrast zum Hightech-Arbeitsalltag.


    Für sie wurde Brandevoort in dem Simultanverfahren nicht Schritt für Schritt vom Großen zum Einzelnen entworfen, sondern als Gesamtwerk, in dem alles mit allem zusammenhängt – von der Bebauungsdichte ganzer Ortsteile bis zur Gaubendichte auf den Dächern. Christoph Kohl: „Ein traditionelles, abwechslungsreiches Erscheinungsbild vereint am besten die gewünschte Individualität mit der geforderten Dichte.“ Die akzeptieren Bewohner offensichtlich in traditioneller Gestalt leichter als in harter Moderne; Historismus bringt Akzeptanz für Ressourcenschonung."


    "Doch Brandevoort ist kein Handwerk, sondern Produkt der durchrationalisierten niederländischen Bauindustrie. Im Rohbau sieht man den Hausreihen mit ihren immer gleichen Betongiebeln die Massenfertigung an; erst die Maurer und Fassadengestalter bauen dann den Unterschied."

    Niemand darf allerdings Vergangenheitsbilder nach eigenem Gusto malen. Christoph Kohl: „Jedem Architekten eines einzelnen Hauses wurde zu Beginn bewusst gemacht, dass er in einem Ensemble entwirft und arbeitet. Er ist aufgefordert, das vorgegebene Programm möglichst genau zu erfüllen.“ Entwerfer und Käufer unterwerfen sich dem rigorosen „Bildqualitätsplan“, den das Büro Krier Kohl, die Gemeinde und die Investoren gemeinsam entwickelt haben. Er schreibt für jedes Haus Baulinien und Höhen, Fassadenmaterial und -gliederung vor. Eine Gestaltungsbroschüre teilt mit, was alles unerwünscht ist: vorspringende Erker ebenso wie große glatte Fassadenflächen, hermetisch geschlossene Rollläden und überhaupt außen angebrachte Markisenkästen, Drahtzäune, unvollständige Zäune, Satellitenschüsseln und vieles mehr. Ein von der Gemeinde beauftragter „Supervisor“ überwacht all das.

    Freunde und Gegner dieses Stils sind fest überzeugt, dass die jeweils anderen sich täuschen. „Retrokitsch“ ist ein Schlagwort der einen. Als gebauten Antikitsch sieht dagegen Christoph Kohl seine Orte. Für ihn steckt in der Moderne viel mehr Geschmacksgefährdung: „Das Misstrauen gegenüber architektonischem Schmuck an Gebäuden begünstigt eine ästhetische Verarmung der Bewohner und überlässt sie orientierungslos dem kommerziellen Kitsch.“ Ob Brandevoort den Kitsch dieser Welt vermehrt oder vermindert, könnte letztlich nur ein objektiver Geschmacksrichter entscheiden. Aber wer sich dazu ernennen würde, unterläge wohl der größten Täuschung.

    Holländische Täuschungen - DABonline | Deutsches Architektenblatt
    Neu gebaute Altstädte in den Niederlanden erzeugen Verwirrung: Die Avantgarde ist plötzlich von gestern, das scheinbar Vorgestrige ein zukunftsfähiges…
    www.dabonline.de
  • Interessant und wirklich gelungen. Brandevoort erinnert mich konzeptionell stark an Jakriborg in Schweden, das wir vor einigen Monaten hier im Forum intensiv diskutiert haben. Auch in diesem Fall könnte ein strenger Kritiker daher anmerken:

    Zitat von Jakriborg-Thread (tegula)

    Als hätte man in einen Baukasten der historischen Architektur gegriffen und geschaut, was dabei herauskommt. (…) Architektur verkommt hier zur Beliebigkeit und entwertet damit Städte mit Originalsubstanz … aber bitte keine Abziehbilder, die immer wieder reproduziert werden können, bis unser kulturelles Erbe in der schieren Masse untergeht.

    :lachen: :lachen:

  • Nein, es ist sicher besser als Jakriborg.

    Augustinus (354-430) - Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat
    14. Buch 9. Kapitel
    Der Staat oder die Genossenschaft der nicht gottgemäß, sondern nach dem Menschen wandelnden Gottlosen dagegen, die eben infolge der Verehrung einer falschen und der Verachtung der wahren Gottheit Menschenlehren anhangen oder Lehren der Dämonen, er wird von den bezeichneten verkehrten Gemütserregungen geschüttelt wie von Fieberschauern und Stürmen.

  • Dazu müsste man die Jakriborg-Geschichte gründlich aufwärmen und alle Bedenken gegen diese wiederholen, die in deinem letzten tegula-Zitat, auf dessen Argumentation (die ich teile) sich meine Bewertung bezog, sehr verkürzt wiedergegeben wurden. Ebendies wollte ich sagen: Ohne tegula vorgreifen zu wollen, glaube ich nicht, dass er dies dictum 1:1 auf dieses Projekt angewandt hätte. (Das heißt natürlich nicht, dass es ihm unbedingt gefallen muss, was ich mir nicht zu beurteilen anmaßen würde).

    Man beachte bei tegulas Argument vor allem den Punkt des in schierer Masse produzierten kulturellen Abziehbildes. Hier ist B. weit ehrlicher, denn es nimmt sich tatsächlich Stile und Ensembles zum Vorbild, die es in "schierer Masse" gibt - die gründerzeitliche (oder leicht später anzusiedelnde) Stadt. Der Anspruch ist somit nicht zu hoch, das ist ehrlicher, demütiger, klüger, geschmackvoller, authentischer, aber auch "sicherer": ein allfälliges Scheitern wird nicht so eklatant. Auch wenn man diese Stadt nicht mögen muss: sie geht einem kaum auf die Nerven, die angestrebte Wohlfühlatmosphäre wird kaum penetrant werden.

    Darüber hinaus: nehmen wir die letzten präsentierten Bilder, die "kleinstädtischen Nebengassen". Die Bebauung ist gleichermaßen authentischer, detailreicher, strukturierter, gleichzeitig aber auch geschmackvoller, zumal auf die Entstehungszeit sehr wohl Bezug nehmend, dies nebenbei auch auf die Architektur des konkreten Standortes (Landes) und nicht auf irgendeine fiktive wie nebulose "deutsche Kleinstadt".

    Auch, vor allem, die "großstädtischen" Fluchten sind recht gelungen. Man merkt ihnen einfach an, dass hier ein Architekt am Werk war, der was von seinem Beruf versteht. Jakriborg hätte, entre nous, von jedem Volltrottel, sprich von jedem halbwegs interessierten Laien, von jedem von uns stammen können.

    Im übrigen wäre dies auch - natürlich mit entsprechenden Modifikationen - ein hervorragender Wiederaufbaustil gewesen, in welchem sich erhaltene Einzelbauten und Ensembles viel würdevoller hätten einbinden lassen.

    Augustinus (354-430) - Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat
    14. Buch 9. Kapitel
    Der Staat oder die Genossenschaft der nicht gottgemäß, sondern nach dem Menschen wandelnden Gottlosen dagegen, die eben infolge der Verehrung einer falschen und der Verachtung der wahren Gottheit Menschenlehren anhangen oder Lehren der Dämonen, er wird von den bezeichneten verkehrten Gemütserregungen geschüttelt wie von Fieberschauern und Stürmen.

  • Ursus, das ist alles wohl formuliert und gut nachvollziehbar, trotzdem: was soll immer dieses Gerede von "ehrlicher" und "authentischer"? Das ist eben gerade in der Kunst keine alles dominierende Kategorie und da gehört die Architektur dazu. Was ist "ehrlich" und "authentisch" an einem klassizistischen Nachbau eines römischen Originals in Potsdam oder München? Gar nix, Kopien wie das Palais Barberini in Potsdam oder der Königsbau in München sind im Grunde höchst lächerlich, kleinere Nachbauten größerer und authentischerer Originale. Und trotzdem haben sie ihre Berechtigung, weil die damaligen Bauherren aus ihrem damaligen Zeitgeist heraus eben diese Gebäude schön fanden und sie nachgebaut haben wollten. Genauso ist es auch legitim, wenn heutzutage eine Bürgerschaft oder auch nur eine einzelne Person nach all dem häßlichen Nachkriegsmief eine eklektizistische Wohnsiedlung haben möchten. Dieses elitäre Naserümpfen über Jakriborg verstehe ich einfach nicht, dieses gibt nicht vor, etwas Außergewöhnliches zu sein, sondern ist nur Ausdruck eines Grundbedürfnisses vieler Menschen, eine angenehme Wohnatmosphäre um sich zu haben und bedient sich dafür traditioneller Stilelemente, die vielleicht nicht immer 100%ig lokale Wurzeln haben mögen, aber trotzdem in die Gegend passen.

    "In der Vergangenheit sind wir den andern Völkern weit voraus."

    Karl Kraus

  • In der Tat habe ich hinsichtlich des Projektes in Brandevoort weniger Bedenken als bei Jakriborg. Das beginnt bereits damit, dass es als Stadtviertel am Rande einer bestehenden Stadt gar nicht vorgibt, eine historische Stadtgründung zu sein. Der städtebauliche Kontext ist hier also ein ganz anderer. Dazu kommt, dass die Niederlande eine lange nie abreißende Bautradition mit historisierenden Elementen besitzen. Auch heute noch werden sogar Einfamilienhäuser mit Einsatz von traditionellen Formen errichtet. Insofern wirken die Fassaden in Brandevoort nicht wie ein Fremdkörper, vielmehr nehmen sie in vielfältiger Weise die Baugewohnheiten der letzten Jahrhunderte in den Niederlanden auf. Sie wirken als logische Verdichtung einer Entwicklung, nicht als Bruch wie in Jakriborg. Trotzdem oder gerade deshalb kann sich nie der Eindruck festsetzen, es hier wirklich mit einer historischen Stadtbebauung zu tun zu haben. Das ist der qualitative Unterschied zum schwedischen Pendants.

    Kunsthistoriker, Historiker, Webdesigner und Fachreferent für Kulturtourismus und Kulturmarketing

    Mein Bezug zu Stadtbild Deutschland: Habe die Website des Vereins erstellt und war zeitweise als Webmaster für Forum und Website verantwortlich. Meine Artikel zu den Themen des Vereins: Rekonstruktion / Denkmalschutz / Architektur / Kulturreisen

  • Ich kann Deine Argumentation schon nachvollziehen, aber das würde im Umkehrschluss bedeuten, dass man in Gegenden, in denen die historische Bautradition abgerissen ist, diese normalerweise nicht wieder aufgreifen dürfte und außerdem keine fremden Stilelemente aufgreifen dürfte. Und das ist doch wohl in der ganzen Architekturgeschichte immer wieder passiert! Dann hätte man in Mittel- und Nordeuropa auch niemals die Renaissance oder den Barock aufgreifen dürfen, hatten beide doch nichts mit den lokalen Bautraditionen zu tun!

    Ich habe meine Probleme damit, angesichts der weitreichenden architektonischen Misere, in der wir leben, traditionelle Projekte aus dem Gesichtspunkt der "Authentizität" abzulehnen, weil damit etwas vorgegaukelt werden könnte. Lieber sowas, d.h. solange es bauhandwerklich gut gemacht ist wie anscheinend in Jakriborg und stilistisch nicht übertrieben ist, als eine authentische und häßliche modernistische Lösung.

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    Karl Kraus

  • Und bzgl. "Bruch": wenn ein Bruch in modernistischer Hinsicht passiert, ist er anscheinend legitim, in entgegengesetzter Richtung aber nicht? Das ganze ist schon eine etwas idealistische Diskussion, wie mir scheint.

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  • Ich kann Deine Argumentation schon nachvollziehen, aber das würde im Umkehrschluss bedeuten, dass man in Gegenden, in denen die historische Bautradition abgerissen ist, diese normalerweise nicht wieder aufgreifen dürfte und außerdem keine fremden Stilelemente aufgreifen dürfte.

    Dürfen kann man viel. Es ist halt die Frage, wie überzeugend dies geschieht. Und natürlich darf man lokale Bautraditionen wieder aufgreifen. Ich finde es aber nicht überzeugend, wenn dies wie in Jakriborg in der radikalen Weise geschieht, dass man drei Blicke braucht, um zu realisieren, dass man nicht in einer mittelalterlichen Stadtgründung steht. Ein behutsamer Umgang mit der heimischen Bautradition (in Jakriborg hat man sich dabei kurioserweise nicht mal an schwedischen Traditionen orientiert und somit den Bruch nochmals verstärkt) ist für mich der goldene Weg.

    Und bzgl. "Bruch": wenn ein Bruch in modernistischer Hinsicht passiert, ist er anscheinend legitim, in entgegengesetzter Richtung aber nicht?

    Ich habe das nie als legitim bezeichnet. Ganz im Gegenteil halte ich allzu scharfe Brüche in der Regel nicht für förderlich hinsichtlich eines harmonischen Gesamtbildes, egal in welche Richtung sie stattfinden.

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  • Wie gesagt, ich verstehe Deine Argumentation schon, aber zumindest auf den Bildern sieht Jakriborg für mich recht schön und angenehm unprätentiös aus. Das ist mir auf jeden Fall lieber als das andere, leider sehr viel wahrscheinlichere Extrem einer modernen Bebauung, wie sie gang und gäbe ist. Ich finde Deine Ansprüche zwar theoretisch nachvollziehbar, aber angesichts der heutigen baukulturellen Gesamtsituation zu idealistisch, d.h. mir ist dann ein Ausschlag in die traditionelle Richtung mit Fehlern lieber als der immer gleiche moderne und depressive "Stil".

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  • trotzdem: was soll immer dieses Gerede von "ehrlicher" und "authentischer"? Das ist eben gerade in der Kunst keine alles dominierende Kategorie

    Nix da. Ohne Ehrlichkeit geht in der Kunst garnix. Indes ist dieser Begriff nicht misszuverstehen. Es war nichts Unehrliches daran, in Potsdam damals einen Palazzo Barbarini zu errichten bzw diese "Replik" heute zu rekonstruieren. In beiden Fällen geht es um hohe Kunst, um Architektur. Aber das ist etwas anderes als Jakriborg, dh als ein Modell zu fingieren, das künstlerisch bedeutungslos und zu allem Überfluss sozial wie ökonomisch obsolet ist, dh nichts als eine sentimentale Stimmung zu erschaffen, die einfach nicht funktionieren kann. Das ist ganz etwas anderes, als in Rothenburg eine 1945 untergegangene Straße in "angepasstem" Stil zur Stadtbildergänzung oder - abrundung aufzubauen.

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  • Snork 6. Dezember 2023 um 12:40

    Hat den Titel des Themas von „Brandevoort - Neue Stadt mit traditionellen Elementen“ zu „Brandevoort - eine neue Stadt mit traditioneller Architektur“ geändert.
  • Das seh' ich halt anders. Natürlich gibt es auch Platz für Ehrlichkeit in der Kunst, aber genauso wichtig ist Illusion, und ihr entscheidender Parameter ist ihre Überzeugungskraft; wenn sie überzeugend wirkt, fragt niemand mehr, ob es echt oder fingiert ist, die Grenzen verschwimmen.

    Den römischen Palazzo Barberini in kleinerer Form in Potsdam zu kopieren, ist aus römischer Sicht durchaus "unehrlich", denn was soll das? Was hatte diese urrömische Architektur im Norden zu suchen? Welche geschichtliche oder kulturelle Verwandtschaft gab es hierzu? Dass es sich dabei unzweifelhaft um hohe Kunst handelt, macht den Fall noch umso schlimmer, heute würde das unter Verletzung von Autorenrechten und Aneignung von fremdem künstlerischen und geistigen Eigentum fallen. Aber trotzdem ist es absolut legitim und normal, sowas ist in der menschlichen Kulturgeschichte immer wieder passiert und das Ergebnis ist heute ein wichtiger Teil der Potsdamer Kulturgeschichte.

    Ob Jakriborg sozial und ökonomisch bedeutungslos ist, weiß ich nicht, ich hab nur von den Fotos her den Eindruck gehabt, dass es recht schön wirkt.

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    Karl Kraus

  • Du verstehst unter Ehrlichkeit etwas ganz anderes als ich. Illusionismus in der Kunst ist überhaupt keine Frage von Ehrlichkeit. Schon gar nicht in der Architektur.

    Was hatte diese urrömische Architektur im Norden zu suchen?

    Kunst ist Kunst, im Norden wie im Süden, in Potsdam wie in Rom. Wie du im folgenden ganz richtig schreibst: Geben und Nehmen, heute Teil der Kulturgeschichte (eher im Norden als im Süden, aber auch da).

    ich hab nur von den Fotos her den Eindruck gehabt, dass es (J.) recht schön wirkt.

    Das ist der entscheidende Unterschied. Diesen Eindruck hab ich nicht.

    und ihr entscheidender Parameter ist ihre Überzeugungskraft

    Genau, wir nähern uns dem springenden Punkt, was unangenehm ist, denn hier versagt die Kraft der Wörter. "Überzeugungskraft" ist eine Folge von "Ehrlichkeit", geht aus dieser hervor, oder ist vielleicht sogar mit dieser identisch.

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    Der Staat oder die Genossenschaft der nicht gottgemäß, sondern nach dem Menschen wandelnden Gottlosen dagegen, die eben infolge der Verehrung einer falschen und der Verachtung der wahren Gottheit Menschenlehren anhangen oder Lehren der Dämonen, er wird von den bezeichneten verkehrten Gemütserregungen geschüttelt wie von Fieberschauern und Stürmen.

  • Ja wahrscheinlich scheitert unser Austausch an der Definition von Ehrlichkeit. Aber gerade Deinem allerletzten Satz (Überzeugungskraft = Ehrlichkeit) kann ich überhaupt nicht zustimmen. Aber sei's drum. Aus italienischer Sicht, und das weiß ich aus mehreren persönlichen Erfahrungen, erscheint die nordische Manie, italienische Bauwerke zu kopieren (also nicht nur Anklänge daran zu nehmen und sich daran zu inspirieren), jedenfalls ziemlich skurril und wird als völlig unauthentisch empfunden.

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    Karl Kraus

  • Überzeugungskraft beruht letztlich auf so etwas wie Stringenz. Und die hat schon was mit "Ehrlichkeit" zu tun, finde ich. Das lässt sich für mich musikalisch besser als architektonisch darstellen, vgl Uhdes Ausführung zu Beethoven op 79 2. Satz - ein übrigens sehr architektonisch relevantes Thema: besser sich zu einem Bruch zu bekennen, als diesen durch Routine zu verschleiern.

    Die von dir mitgeteilte italienische Sichtweise versteh ich nicht. Kommt doch außer der Gotik so gut wie alles "irgendwie" aus Italien. Dürfen wir keine Figuren auf Attiken stellen, nur weil das eine skurrile Kulturaneignung wäre? Das wäre schade.

    Abgesehen davon hab ich kein Problem mit Skurrilität. Natürlich ist eine Stadt wie Teltsch skurril, genauso vielleicht wie es das Potsdamer Haus Ecke Jägerstraße/Charlottenstraße war. Und, umgekehrt, wenn der Mailänder Dom nicht skurril ist, dann können wir diesen Begriff aufgeben.

    Auch das Multifunktioneel-Zentrum ist skurril, was ich weit positiver als erbse sehe.

    Augustinus (354-430) - Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat
    14. Buch 9. Kapitel
    Der Staat oder die Genossenschaft der nicht gottgemäß, sondern nach dem Menschen wandelnden Gottlosen dagegen, die eben infolge der Verehrung einer falschen und der Verachtung der wahren Gottheit Menschenlehren anhangen oder Lehren der Dämonen, er wird von den bezeichneten verkehrten Gemütserregungen geschüttelt wie von Fieberschauern und Stürmen.

  • Natürlich ist Ehrlichkeit auch wichtig, aber ich hab geschrieben, dass es nicht das alles entscheidende ist, sondern es auch genauso viel Platz für Illusion gibt, also für das Vorgaukeln von etwas, das in echt nicht oder nicht ganz existiert und von dem man auch weiß, dass es in echt nicht stimmt. Stringent oder schlüssig kann auch etwas sein, von dem man nur teilweise oder vorübergehend überzeugt ist, solange es nur mit genügend Fantasie und Können verkauft wird. Natürlich ist Beethoven ein Paradebeispiel für ehrliche Kunst, und vielleicht zieht er seine immense Größe auch wirklich aus seiner hundertprozentig authentischen Art. Aber es gibt auch genügend gut gemachte Effekthascherei in der Kunst, die ich nicht missen möchte; in der Musik z.B. Franz Liszt oder Debussy, um nur zwei zu nennen. Beide leben zu einem guten Teil nicht von ihrer kompositorischen Substanz, sondern von ihrer faszinierenden Klangsprache, die sie wie einen Zaubermantel über ihre Musik werfen. Oder kehren wir zur Architektur zurück: ist ein barockes illusionistisches Deckengemälde, das einen Himmel vorgaukelt, etwa ehrlich? Oder ein stuckierter Pilaster, der nichts trägt? Oder ein Altar aus Holz, der vorgibt, aus Marmor zu sein? Oder, weil ich mich gerade damit beschäftige, die ganze Asamkirche in München, die nur aus barocker Kulisse besteht, in der nichts so ist, wie es scheint? Natürlich ist dort die Absicht echt und ehrlich, alles ad maiorem dei gloriam zu gestalten, aber die gewählten Mittel sind hochgradig effekthascherisch! Aus genau diesem Grund wurde sie (und ähnliche barocke Kirchen) im 19. und auch noch im 20. Jh vehement als "falsch" abgelehnt. Aber ist ein solcher Raum nicht trotzdem großartig? Ja ergibt sich nicht vielleicht gerade aus der illusionistischen Unechtheit ein besonderer, berauschender Reiz?

    Das mit Italien hab ich auf weitgehende Architekturkopien bezogen, also nicht auf Gebäude, die nur den Stil übernehmen, ihn dann aber eigenständig ausformulieren; also wie gesagt das Palais Barberini in Potsdam oder die Feldherrnhalle in München, wo in beiden Fällen völlig klar ist, dass es sich um Kopien handelt. Und wie würdest denn Du als Römer reagieren, wenn Du nach Potsdam kommst und eine verkleinerte Kopie eines altehrwürdigen Palastes Deiner eigenen Stadt entdeckst? Oder wenn Du als Florentiner in der Münchner Residenzstraße um die Ecke biegst und auf einmal eine Kopie der Loggia dei Lanzi siehst? Und vorher schon den Königsbau, der vom Palazzo Pitti abgekupfert ist? Dann fändest Du das wohl auch eher komisch oder belustigend, oder nicht? Das ist im Grunde nicht so viel anders als das chinesische Hallstatt, auch wenn Deutschland und Italien einander kulturell natürlich viel näher sind als Österreich und China. Der Unterschied ist letztendlich der, dass zumindest im Falle von München (bei Potsdam weiß ich es nicht) der Gedanke nicht nur war, einige schöne Gebäude nach München zu verpflanzen, sondern Ludwig I. dem bayerischen Volk damit auch die Kunst und Geisteskultur der italienischen Renaissance vor Augen führen und näherbringen wollte zu einer Zeit, als nur die wenigsten die Möglichkeit gehabt hätten, selbst nach Italien (oder Griechenland) zu reisen. Das heißt, seine Architekturkopien hatten eine Bildungsabsicht, die das chinesische Hallstatt sicher nicht hat.

    Noch eine Bemerkung zu den Italienern: natürlich spielt bei ihnen auch ein gewisser Patriotismus und damit ein leichtes Gefühl der Überlegenheit mit, das aber angesichts ihrer riesigen Kulturleistungen vielleicht auch verständlich ist.

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    Karl Kraus

  • Die ganze Diskussion krankt an begrifflichen Unschärfen bzw unterschiedlichen Definitionen bzw Prämissen, was gut hier zu sehen ist:

    Aber es gibt auch genügend gut gemachte Effekthascherei in der Kunst, die ich nicht missen möchte; in der Musik z.B. Franz Liszt oder Debussy, um nur zwei zu nennen. Beide leben zu einem guten Teil nicht von ihrer kompositorischen Substanz, sondern von ihrer faszinierenden Klangsprache, die sie wie einen Zaubermantel über ihre Musik werfen.

    Das erscheint mir schon deshalb verfehlt, und zwar gründlich, weil gerade bei Debussy "Klang" gleich "Substanz" ist. Das hat mit Unehrlichkeit bzw Effekthascherei nicht das Geringste zu tun. Diesen Themenbereich hat der von mir geschätzte Lutoslawski wunderschön mit dem Begriff "Schlüsseleinfall" herausgearbeitet, der in einer rein abstrakten Idee bestehen kann und sich auch auf Bruckner voll anwenden lässt (auf Beethoven und in weiterer Folge Brahms wohl sowieso). Was ist zB die kompositorische Substanz der "Appassionata"? Letztlich nix anderes als die Idee der neapolitanischen Rückung.


    ist ein barockes illusionistisches Deckengemälde, das einen Himmel vorgaukelt, etwa ehrlich? Oder ein stuckierter Pilaster, der nichts trägt? Oder ein Altar aus Holz, der vorgibt, aus Marmor zu sein?

    Kommt auf die konzeptionelle Stimmigkeit an, wenn diese gegeben ist: ja, selbstverständlich. Schlecht wird's dann etwa, wenn der stuckierte Pilaster gar nichts zu tragen vorgibt.

    Mit diesem deinem Ehrlichkeitsbegriff bist du voll im Fahrwasser des Modernismus/Funktionalismus.

    Natürlich ist dort die Absicht echt und ehrlich, alles ad maiorem dei gloriam zu gestalten, aber die gewählten Mittel sind hochgradig effekthascherisch!

    Das soll mir doch mal wer erklären. Jede gute Kunst ist um "Effekte" bemüht, ja besteht in diesen. Ein bloßes Dach überm Kopf zu haben, ist wohl zu wenig. Die Frage ist, inwieweit diese "Effekte" (ein schlechtes Wort) aufeinander abgestimmt sind und einem schlüssigen Gesamtplan unterliegen. Es gibt natürlich schlechte eklektizistische Bauten, wo alles nur sinnlos aneinandergereiht bzw aufeinandergetürmt ist. Die können auf den ersten Blick blenden und erschlagen und somit eine Substanzhaftigkeit vortäuschen, die sie nicht erfüllen.

    Aus genau diesem Grund wurde sie (und ähnliche barocke Kirchen) im 19. und auch noch im 20. Jh vehement als "falsch" abgelehnt.

    Ja, genau, von Leuten, die nix verstanden haben bzw selbst der Selbsttäuschung unterlagen, sei es mittels "neogotisch" bzw modernistischer Verirrung. Genau aus einem solchen Verständnis von künstlerischer Ehrlichkeit kommen solche Irrtümer zustande. Selbstbetrug ist natürlich eben auch Betrug und somit das Gegenteil von "ehrlich".

    Ja ergibt sich nicht vielleicht gerade aus der illusionistischen Unechtheit ein besonderer, berauschender Reiz?

    Würd ich bestreiten. Der Reiz liegt nicht in jenem spezifischen Umstand des Getäuschtwerdens, sondern in der aufeinander-Abgestimmtheit aller verwandten künstlerischen Mittel.

    Und jetzt zu den angeblich "weitgehenden Architekturkopien", womit die Potsdamer Palais gemeint sein sollen. Auch diese Kategorisierung halte ich für verfehlt, nicht zuletzt, weil man über Entstehungszeit, Entstehungsort, Materialität, Maßstäblichkeit nicht so ohne weiteres hinwegsehen kann. mE handelt es sich nicht um mehr als um bloße zitathafte Aufgriffe einzelner Elemente. Nicht einmal das Barberini als gewisser Extremfall erfüllt den Tatbestand einer bloßen Kopie.

    Was sagst etwa zu diesem da (Wien Teinfaltstraße 8, kommt einem von Florenz her doch ziemlich bekannt vor, oder)?

    Archivbild 1: Gebäude der Bodenkredit-Anstalt, 1887; 1010 Wien, Teinfaltstraße 8

    Keine würde das als Kopie bezeichnen, obwohl die Anspielung auf das Vorbild viel stärker und vor allem detaillierter ausgeprägt ist.

    Und wie würdest denn Du als Römer reagieren, wenn Du nach Potsdam kommst und eine verkleinerte Kopie eines altehrwürdigen Palastes Deiner eigenen Stadt entdeckst?

    Würd mich freuen, ist mir ja in Berlin bei der Kommode auch nicht anders ergangen (eine übrigens weit deutlichere Anspielung). Abgesehen davon vom Kopiebegriff. Das Thema der Potsdamer Post-Renaissance oder wie man das nennen will, wäre eine eigene Diskussion wert. In diesem Zusammenhang stellt es kein Problem dar, da hier gute Architekten am Werk waren, die dem italienischen Formenkanon gekonnt und verantwortungsvoll aufgriffen und damit sogar etwas Eigenständiges schufen. Dieses Phänomen kann man nicht mit B. und schon gar nicht mit J. vergleichen.

    Zusammengefasst: von allen hier genannten Beispielen erscheint mir nur J. als unehrlich, und dies deshalb, weil hier ohne jedwedes maßgebliche künstlerische Konzept einfach nur billige Stimmungsmache betrieben wird und fremde Anleihen nur herangezogen werden, um eine grundsätzlich Ideenlosigkeit zu kaschieren. Dieses offensichtliche Unvermögen durch Entfachung einer "Ehrlichkeitsdebatte" unter Bezugnahme auf frühere Retrostile relativieren zu wollen, erscheint nicht angebracht.

    Augustinus (354-430) - Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat
    14. Buch 9. Kapitel
    Der Staat oder die Genossenschaft der nicht gottgemäß, sondern nach dem Menschen wandelnden Gottlosen dagegen, die eben infolge der Verehrung einer falschen und der Verachtung der wahren Gottheit Menschenlehren anhangen oder Lehren der Dämonen, er wird von den bezeichneten verkehrten Gemütserregungen geschüttelt wie von Fieberschauern und Stürmen.

  • Sehr interessante Ausführungen, gebe ich zu. Wahrscheinlich haben wir auch einfach unterschiedliche Definitionen und Auffassungen von Begriffen. Grundsätzlich sehe ich einfach nichts Negatives im Konzept "Effekt" und der Möglichkeit, die eigentlichen Motive im Rahmen einer möglichst guten Gesamtwirkung etwas aufzubauschen. Das gehört doch untrennbar zur Kunst dazu! Von daher macht es mir nichts aus, wenn ich in Bezug auf den Ehrlichkeitsbegriff einer Meinung mit Modernisten bin, der Unterschied ist eben, dass ich eine gewisse "Unehrlichkeit" als natürlich und zumindest teilweise als wünschenswert empfinde.

    Wenn man bei Debussy "Klang" gleich "Substanz" setzt, liegt man natürlich durchaus richtig, aber er hat trotz all dem, was er an Neuem postuliert hat, immer noch traditionelle Motive, die er verarbeitet; insofern ist er dann doch nicht immer so innovativ, wie er vorgibt zu sein. Und in diesen Werken erkenne ich durchaus, dass er - für mich auch völlig zu recht - einfache und teilweise auch triviale Motive mithilfe von Klangfarbe größer macht, als sie eigentlich kompositorisch sind. Aber wahrscheinlich würdest Du im Einzelfall immer sagen, dass es sich selbstverständlich nur um "Klang" und nicht um "Motivik" handelt ;)

    Die Appassionata von Beethoven auf die neapolitanische Rückung zu reduzieren, ist aber schon arg ungerecht, da gibt es zwar einfache, aber sehr einprägsame Motive, vor allem im 1. Satz, die sehr charakteristisch und mit viel pianistischer "Effekthascherei" verarbeitet werden. Auch das Thema des 3. Satzes ist eher ein klangeffektmäßiges Motiv, das weniger aufgrund seiner neapolitanischen Rückung wirkt, als vielmehr auf pianistische Art: hin- und herrauschende Girlanden, die aber kompositorisch sehr spannend übereinandergelegt werden und viel rhythmische und modulatorische, weit über die anfängliche neapolitanische Rückung hinausgehende Dramatik erzeugen. Ich würde sogar sagen, dass diese Sonate sehr viel an pianistischer Effekthascherei im positiven Sinne besitzt und insofern ein gutes Beispiel für das ist, was ich meine.

    Würd ich bestreiten. Der Reiz liegt nicht in jenem spezifischen Umstand des Getäuschtwerdens, sondern in der aufeinander-Abgestimmtheit aller verwandten künstlerischen Mittel.

    Alles aufeinander abstimmen hört sich schon wieder nach einem intellektuellen, apollinischen Prozess an; es gibt aber auch das Rauschhafte, aus dem Augenblick geborene, Dionysische, Exzessive in der Kunst, das ich gerade bei gewissen mitteleuropäischen Barock- und Rokokobauwerken als mindestens genauso wichtig ansehen würde.

    Außerdem: Selbstbetrug gehört wie alles Rauschhafte unbedingt zur Kunst hinzu!

    Bzgl. Architekturkopie: da haben wir wahrscheinlich auch einfach unterschiedliche Definitionsweisen...

    Natürlich sind einige Potsdamer Palais (und so manches Münchner klassizistische Gebäude) in meinen Augen verkleinerte und an örtliche Bedürfnisse angepasste Architekturkopien, da ist wenig originelles dabei. Die Übergänge sind aber sicherlich fließend. Auch das Beispiel Teinfaltstraße 8 ist eine angepasste Architekturkopie, aber sicherlich viel weniger als das Palais Barberini in Potsdam, weil Teinfaltstraße 8 nur die allgemeine florentinische Architektursprache der Renaissance aufgreift, das Palais Barberini hingegen den Aufbau des römischen Originals mitsamt der Säulenordnungen einfach kopiert und in den Dimensionen sowie um 2 Achsen verkleinert. Aber: das macht doch auch nichts, das ist doch nicht schlimm! Aber eine originelle architektonische Leistung ist es in meinen Augen nicht, tut mir leid. Aber nichts gegen Potsdam, ich finde die Stadt sehr schön und sie zeigt, dass man nicht unbedingt alles neu erfinden muss, um schöne und feierliche Resultate zu erzielen.

    P.S. was meinst Du mit "J."? Verzeih, ich steh' auf der Leitung...

    "In der Vergangenheit sind wir den andern Völkern weit voraus."

    Karl Kraus