Historische Baustile im internat. Vergleich

  • Ich weiß, dass viele, die dieses neue Thema jetzt öffnen, enttäuscht sein werden, weil sie Antworten erhoffen und nur eine Frage vorfinden. Wäre schön, wenn sich diese Enttäuschung vielleicht in Motivation umwandeln könnte, insbesondere deshalb, da ich mich in diesem Bereich nur mäßig kompetent fühle.

    Die Frage ist also: Worin unterscheiden sich die einzelnen (regionalen bzw.) nationalen Ausprägungen, insofern es welche gibt, von einzelnen Baustilen bzw. von Bauten einer Epoche. Was z.B. unterscheidet Bauten der deutschen Renaissance von denen der italienischen, französischen oder dänischen. Darum, dass es historisch gesehen bisweilen schwierig ist, von "national" o.Ä. zu reden, soll abgesehen werden. Es geht primär um die Räume, in denen ein (aus heutiger Sicht) bestimmtes Volk siedelte und baute.

    Wer über solche Unterschiede Wissen und vor allem Bilder hat, und sei jenes noch so partiell oder seien diese noch so wenige, soll es oder sie bitte hier einbringen (damit wir alle schlauer werden ;) ). Wer kennt Beispiele, wer kennt Unterschiede, wer kennt Gemeinsamkeiten?

    Eine der vorzüglichsten Eigenschaften von Gebäuden ist historische Tiefe.
    Die Quelle aller Geschichte ist Tradition. (Schiller)
    Eine Stadt muss ihren Bürgern gefallen, nicht den Architekten.

  • Nur zum Thema Renaissance:

    Es ist vielleicht der einzige der europäischen Stile, bei dem es ausgeprägte nationale Schulen gibt, welche die Unterschiede der Regionen abgleichen. Am stärksten uist die Abweichung bei der deutschen renaissance.


    In Italien, dem Ursprung, eine sehr starke mathematisch-akademische Ausrichtung; man setzt antike und romanische Formensprache wie Pilaster, Gesimse, rythmische und gleichförmige Fensteranordnungen auf Rechteckige Baukörper mit Flach- und flachgeneigtem Dach auf, gliedert Räume und Sichtachsen entweder nach Symetrie oder dem goldenen schnitt. Häufiger Zentralismus; Anwendung eines strengen Kuppelprinzips. Wenig Kirchen, aber viele Stadtpalais, Villen sowie caritative Gebäude.

    Sehr häufig ist ein dominierendes Gesims in Verbindung mit beträchtlichem Dachüberstand zu finden, was die horizontale Ausrichtung des zumeist monolitischen Baukörpers noch einmal betont. Insgesamt eine sehr ruhige, gesetzte Architektur; die ein Architekt "können" muß, also ein genaues Studium antiker Gestaltungsprinzipien und Städtebau erfordert.

    Nein, die werden gedünstet

  • Französische Renaissance:


    Zunächst starke Anlehnung an Italien, später die Anwendung dieser Prinzipien auf die Schloß- und Festungsbauwerke, die noch starke normannisch-westfränkische Züge tragen. Verästelung, Verkomplizierung der Bauformen im Schloßbau durch spätgotische Einflüsse, Aufgabe des strengen Symentrieprinzips d.h. freiere Grundrisse, weniger goldener Schnitt, spektakuläre Einzelformen. Hang zu filigranen Turmbauten.
    Nahtlose Übernahme der italienischen Einzelformen, in den Loireschlössern erste Abrundungen an Fenstern, geschwungene Treppentürme. Einfluß der normannischen Traditionen äußert sich u.a. durch noch sehr steile Dächer, die im Laufe der Zeit abgeneigt und zunehmend zu Mansarddächern werden.


    Polnische Renaissance: Baukörperprinzip ähnlich dem Italiens; Stadtpalaeis und Patrizierhäusern mit teils noch gotischen Arkadengängen sehr beliebt. Rechteckiger, starrer Baukörper mit Flach- und flachgeneigtem Dach; freiere Anwendung der Einzelformen italienischem, fremnzösischen und deutschem Bursprungs, Entwicklung von kunsthandwerklichen Eigenformen. Turmbauten von deutschem Prinzip abgeleitet. Überaus reiche Formensprache, "organische" Zacken- und Strebeformen in den oberen geschossen, starke Fassadenwirkung ähnlich wie dt. Renaissance
    Städtebaulich noch vom dt. Gründungsprinzip beeinflußt; Rechteckiger Marktplatz, gerade Rasterstraßenführung; Gesellschaftsgebäude rechtsmittig auf dem markt angeordnet(Markthallen von Krakau). Weitere Beispiele: Turm und Kirche von Tschenstochau, Wawel in Krakau, Markthäuser in Lodsch, Lemberg, Posen; besonders aufwendiges Ensemble in Zamosc

    Nein, die werden gedünstet

  • Deutsche Renaissance:


    Allmählicher Übergang von Gotik zu neuem Stil; zumeist freie Verwendung von Einzelformen anhand der bestehenden deutschen Tradition des Treppen bzw. Stufengiebels. Giebel bleiben prägnanteste Einzelform; rechteckige, fast Schachbrettmuster. Traditionell-Handwerkliche, nicht akademische Ansetzung der Schmuckformen, Italien bleibt zunächst fernes Vorbild. Wanderung des speziellen Renaissance-Giebelbauprinzips(Abrundung der Giebelstufen, kleine Türmchen an den Rändern der gliedernden Linienraster) von den Niederlanden(damals noch eine deutsche Region)nach Gesamtdeutschland hinein. Auch filigran bearbeitete Holzformen in ländlichen Gebieten wie Harz sehr beliebt. Reichste Variante Weserrenaissance, Vereinfachung der Schmuckformen nach Mitteldeutschland hin, wieder Zunahme in Schlesien(Markt von Breslau). Giebelprinzip im gesamten deutschsprachigen Raum sowie in Skandinavien gleich; ähnliche, hohe bis sehr hohe Dachneigung von 55-75 °; Schleppgaupen, Ziegeldächer. Bei wichtigen Gesellschaftsbauten oft Dachreiter mit welscher Haube. Rechteckige Baukörper mit Arkadengängen. Symetriewirkung.
    In Ost- und Mitteldeutschland regelmäßiges Neugründungsmuster der Städte beibehalten(Ren. Städtebauprinzip näher am italienischen vorbild ausführbar), im Altsiedelland diffuse Wirkung anhand des noch bestehenden, unregelmäßigen Haufensiedlungsprinzips. Hier Bildung von geplanten Großensembles wie in Italien und Frankreich nur schlecht möglich. Im Schloßbau Großplanungen möglich, Überformung und Erweiterung älterer gotischer Gebäude ähnlicher Grundform. Auch hier gemeinsame Verwendung des Giebels in feudaler und profan-bürgerlicher Nutzung.
    Wechselseitige, zunehmende Beeinflussung zwischen Deutschland, damals noch mit Niederlanden und Flandern, und Skandinavien. Im Hansegebiet vorwiegend Backsteinformen in verbindung mit Naturstein, im nordostdeutschen Raum auch noch eine spürbare, von der Gotik hergeleitete Vertikalausrichtung der Bauten. Bis weit in den Barock hinein Verwendung der Renaissanceprinzipen, eher abseits der großen Metropolen. Von deutscher Renaissance stark geprägte Städte: Nürnberg, Hannover, Fürth, Freiburg/Breisgau, Ulm, Frankfurt/Main, [lexicon='Leipzig'][/lexicon], Zwickau, Freiberg, Rothenburg/Tauber, Quedlinburg, Straßburg, Colmar, Breslau, Danzig.

    Nein, die werden gedünstet

  • Augenscheinlich wird es beim Vergleich des römischen / italienischem Barock mit dem deutschen Barock.

    Den römischen Barock könnte man auch Barockklassizismus nennen, er wirkt selbst zu seiner Hochzeit sehr strukturiert und vergleichsweise streng:

    Der Petersdom:

    In Deutschland präsentierte sich der Barock hingegen viel verspielter, hob alle geometrischen Gesetzte auf. Nicht zuletzt findet man die üppigsten Zeugnisse des Rokoko in Deutschland.

    Die Frauenkirche in Dresden:

    Im Barock feierte sich die katholische Kirche in Deutschland selbst, nachdem sie das halbe Land imzuge der Reformation an die pietistischen, nüchternen Protestanten verlor. Während protestantische Kirchen keinerlei Dekor mehr hatten setzten die katholischen Kirchen auf eine theatralische Inszenierung.

  • Das Phönomen, daß die Kirchen in Ländern mit überaus starkem Klerus besonders aufwendig und bizarr gestaltet waren, läßt sich abgesehen von Süddeutschland auch in Polen, Rußland sowie in Spanien und seinen amerikanischen Kolonien beobachten. Das, was man hier als Rokoko kennt, wird dort zumeist als Churriguerastil bezeichnet, nach einem spanischen Kirchenarchitekten benannt, der Altäre und Innenräume besonders üppig ausstattete. Wesentlicher Unterschied zwischen Spanien und Mitteleuropa ist die spanische Doppelturmfassade gegenüber deutscher Einturmtradition sowie die Flachdachkostruktion der meisten Latinokirchen.

    Die Katholische Hofkirche in Dresden allerdings trägt, ob gewollt oder nicht, noch gewisse Züge protestantischen Denkens: zwar ist das Äußere sehr opulent und eindrucksvoll, das Innere jedoch ziemlich schlicht gehalten. Bei der Frauenkirche ist es andersrum; in der äußeren Gestalt jedoch tragen sowohl Kreuzkirche als auch Frauenkirche bereits gewisse klassizistische Züge.

    Nein, die werden gedünstet

  • Zitat von "Wissmut"

    ... deutscher Einturmtradition ....

    Kölner Dom

    Mainzer Dom

    Trierer Dom

    Dom zu Münster

    Dom zu Fulda

    Bamberger Dom

    Die katholische Kirche in Deutschland hat keine "Einturmtradition". :zwinkern:

    Im übrigen zweifele ich auch an, daß die Renaissance bzw. der Barock
    so streng in "nationalen Kategorien" eingeteilt werden kann.
    Wisst Ihr eigentlich wieviel Italiener deutsche Schlösser und sogar
    ganze Städte geplant haben ?
    Als Beispiel möge die Stadt Glückstadt in der Nähe Hamburgs dienen.
    1617 planmäßig nach dem Ideal der italienischen Renaissance angelegt.
    ("polygonale Radialstadt")

  • Die italienischen Stadtplanungen in Deutschland sind absolute Einzelfälle; die Schlösser sind in der Form erst ab dem Dreißigjährigen Krieg von italienischen und französischen Architekten gestaltet worden, nach der Renaissance.

    Und zur Einturmtradition, die tatsächlich eine gesonderte Variante darstellt, fallen mir u.a. das Ulmer und Freiburger Münster ein, die Zwickauer Marienkirche, desweiteren die Wieskirche und unzählige weitere Stadtkirchen in Mittel- Ost- und Süddeutschland und Österreich.

    Nein, die werden gedünstet

  • Ich bin zwar kein Kunsthistoriker und hab' leider auch keine Bildersammlung, aber ich versuche das von Wissmut ausgeführte trotzdem mal durch einige Bildbeispiele zu illustrieren:

    Französische Renaissance:

    Schloß Blois an der Loire:



    Hôtel Carnavalet in Paris:


    Westflügel des Louvre:


    Place des Vosges in Paris (Spätrenaissance im Übergang zum Frühbarock):


    Und im Kontrast dazu die Deutsche Renaissance:

    Pellerhaus in Nürnberg:


    Haus in der Leinstraße in Hannover (bildindex.de):


    Haus "Zum Ritter" in Heidelberg:


    Weserrenaissance:


    Schönhof in Görlitz:


    (Quelle: http://www.tor-alf.de">http://www.tor-alf.de)


    Sankt Michael in München:


    (Quelle: http://www.muenchen.de">http://www.muenchen.de)


    Und zum Vergleich noch drei repräsentative Bildbeispiele zur Italienischen Renaissance:

    Palazzo Farnese in Rom:


    (Quelle: http://www.greatbuildings.com">http://www.greatbuildings.com)

    Uffizien in Florenz:


    Sant' Andrea in Mantua (der architektonische Durchbruch zur Renaissance):


    Na, überzeugt das von der These der "nationalen Sonderformen"?!

  • Ergänzungsbeispiele deutscher Renaissance:


    Haus Kammerzell in Straßburg, daneben ein nach 1681 gebautes Stadthaus französischen Einflusses:


    Dünnebierhaus in Zwickau, 1480:

    Berlin, Apthekenflügel des Stadtschlosses:

    Dresden, Kanzleihaus, Teil des ehem. Renaissancekomplexes des Residenzschlosses(1701 abgebrannt):

    Altendresden, Jägerhof:


    Weida, Schloß Osterstein; der 55 Meter hohe steinerne Bergfried ist der höchste Deutschlands:


    Kammin, Rathaus:


    Brieg, Rathaus:


    Breslau, Bürgerhäuser am Ring:

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  • Polnische Renaissance:


    Tschenstochawa, Turm und Portal des Klosterbezirkes:

    Zamosc, Rathaus und Markthäuser:


    Poznan, Rathaus:


    Krakau, Bürgerhäuser am Markt:

    Tuchhallen und Marktturm:


    polnische Rathäuser, hier Jaroszlaw:


    Sandomiercz:


    Tarnow:

    [/b]

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  • Gegenbeispiele "Deutsche Renaissance":

    Residenz Bamberg

    Schloß Torgau

    Schloß Gottesaue (früher)

    Schloß Jülich

    Rathaus Quedlinburg

    Rathaus Nürnberg

    Ich denke, daß Bürgerhäuser schon eine regionale Renaissance
    entwickelt haben mögen (Giebel). Bei Schlössern und Rathäusern
    muss man aber sagen, daß hier kein einheitlich deutscher Renaissance-
    stil entwickelt wurde. Da mag es hier und da mal ein Giebel
    gegeben haben, aber eben nicht durchweg, wie man oben sehen
    kann. :zwinkern:

  • Die Variante mit Giebeln ist dennoch in der Mehrheit.

    Siehe u.a. die Renaissance-Stadtschlösser in Greiz, Dresden, Bernburg, Rochlitz, Marburg, Merseburg, Zeitz, Zwickau, Aschaffenburg, Feste Coburg, Chemnitz, Glogau, Heidelberg.

    Bei den Rathäusern ist es noch eklatanter, beispielsweise besitzen die Rathäuser in Esslingen, Rothenburg/Tauber und Zwickau fast identische Bauformen; ein Staffelgiebel annähernd gleicher Dachneigung und ein unmittelbar darüberstehender Dachreiter mit welscher Haube.

    Die von dir angeführten Varianten besitzen entweder wie in Torgau einzelne Stufengiebel oder, abgesehen von Jülich, ein sehr steiles Satteldach, zumeist mit Schleppgaupen, kennzeichnend für die deutschen Bautraditionen auch außerhalb der Renaissance.


    Einzelne Ausnahmen gibt es natürlich immer, ohne daß es eine wirkliche Gegenrichtung repräsentiert. Wie gesagt, die breite Aufnahme italienischer und französischer Bauformen in Schloß- und Profanbauten fand erst nach dem Dreißigjährigen Krieg und dem vorläufigen Abbruch der Bautraditionen in weiten Teilen Deutschlands statt.

    Nein, die werden gedünstet

  • Hallo Oliver,

    der Giebel ist, denke ich, nicht das einzige Unterscheidungsmerkmal der Deutschen Renaissance, wenn auch vielleicht das markanteste.
    Insofern würde ich das Quedlinburger Rathaus und die Schlösser Torgau und Gottesaue nicht als wirkliche "Gegenbeispiele" sehen. Wenn man sie mit der italienischen oder der französischen Renaissance vergleicht, weisen sie immer noch signifikante Unterschiede auf.

    Zu den anderen Gegenbeispielen:

    Residenz Bamberg: da bin ich mir nicht sicher, aber ist das wirklich der Renaissance-Flügel? - sieht mir eher nach dem um 1700 gebauten Barockflügel aus (weiß ich aber wirklich nicht genau)

    Schloß Jülich: wurde von italienischen Festungsbaumeistern errichtet

    Rathaus Nürnberg: war aus politischen Gründen explizit an der Renaissance-Architektur Venedigs orientiert (das Nürnberger Patriziat wollte sich dem der "Serenissima" ebenbürtig zeigen)

  • Zudem ist die Schloßbauarchitektur aus politischen Gründen früher als die bürgerlichen Profanbauten von ausländischen Architekten geprägt worden; das Renaissanceprinzip setzte sich vorwiegend in der Provinz und in kleineren Städten wie Goslar, Quedlingburg, Fürth und Rothenburg auch noch nach dem Dreißigjährigen Krieg fort, während sehr viele Schlösser samt den dazugehörigen Residenzstädten "europäisiert" wurden, darunter Dresden. Das wesentliche Fazit besteht ja darin, daß die Baukunst des Bürgertums noch ziemlich lange von den nationalen Traditionen geprägt worden ist; hängt auch mit der starken Rolle des Bürgertums und freier Reichsstädte zusammen, die durch den Dreißigjährigen Krieg in vielen Gegenden Deutschlands gebrochen wurde zugunsten neuer absolutistischer Regierungsformen der erstarkten deutschen Fürstentümer. Kennzeichnend für die veränderte Situation sind die zunehmend engeren kulturellen Verbindungen der Fürstenhöfe zu Standesgenossen im Ausland pflegten als zu ihren eigenen Untergebenen oder gar zum ganzen deutschen Volk; das spiegelt sich auch in der Architektur wieder.
    Der Fürst Kursachsens, August der Starke z.B. war so etwas wie ein früher "Global Player", d.h. holte sich die polnische Königskrone und italienische und franzöische Architekten, baute in Warschau und Dresden opulente Schlösser, trat zum Katholizismus über und beutete das eigene Volk für seine Repräsentation gnadenlos aus.

    Nein, die werden gedünstet

  • Zitat

    Residenz Bamberg: da bin ich mir nicht sicher, aber ist das wirklich der Renaissance-Flügel? - sieht mir eher nach dem um 1700 gebauten Barockflügel aus (weiß ich aber wirklich nicht genau)

    Et voilà, dacht' ich mir's doch: das ist der Renaissance-Flügel der Bamberger Residenz

  • Na bitte, da haben wir es wieder...:D

    Ich finde, die Feierlichkeit, die durch solche Giebel rüberkommt, grade wenn sie schön rußgeschwärzt sind, ist einmalig. Erinnert auch daran, was Deutschland einmal war, vor dem stetigen Fall nach 1618.

    Nein, die werden gedünstet

  • Zitat von "Wissmut"

    Erinnert auch daran, was Deutschland einmal war, vor dem stetigen Fall nach 1618.

    Ja, ein Flickenteppich =).

    Ich möchte an dieser Stelle an einen SPIEGEL-Artikel aus der Ausgabe vom 27.9.04 erinnern. Dort werden in einem Gespräch mit dem Kunsthistoriker Volker Gebhardt Thesen seines neuen Buchs "Das Deutsche in der deutschen Kunst" besprochen.

    Zitat:
    "Der Begriff der schwergewichtigen Schreckkunst, der in den dreißiger Jahren das verstärkte, was man seit 1870 immer häufiger behauptet hatte - die deutsche Kunst als eine Kunst der Inbrunst und des betons expressiven Ausdrucks - das ist natürlich Quatsch. Bei der genauen Durchsicht atomisiert sich all das, lösen sich alle Pauschalisierungen auf - schon deshalb, weil eine originär deutsche Kunst, die woanders nicht besser oder anders gemacht worden ist, eher selten vorkommt".

    "Das Rokoko, die muschelförmige Rocaille als sein bestimmendes Ornament, hatte man in Frankreich etwa für Kamineinfassungen eingesetzt. Hier zu Lande wurde es fast allem übergestülpt, speziell im Kirchenbau[...]"
    Diese Übertreibung ausländischer Stile, was er als typisch Deutsch bezeichnet, habe immerhin zwischen 1730 und 1760 etwas geschaffen, was untypisch "anmutig und luftig" sei.

    Zur Kunst in der Nazizeit:
    "Es ist ja nicht so viel entstanden. Stellen Sie sich etwas anderes vor: es hätte den Bombenkrieg nicht gegeben, und in Köln zum Beispiel wären noch sämtliche romanischen Kirchen vorhanden mit ihrer wilhelminischen Ausstattung, also mit den protzigen Mosaiken und den neoromanischen Altären. Diese Dinge, diese unerträgliche Ausdeutschung der Kunst seit 1871, waren zumindest in der Nazi-Zeit sehr viel präsenter als die Nazi-Kunst selbst. Wenn wir diese seltsamen Monumente heute noch hätten, würden wir uns damit vielleicht ähnlich schwer tun wie mit irgendwelchen Arno-Breker-Figuren".

    Gut, ich bin nicht sonderlich bewandert auf diesem Gebiet, aber eines frage ich mich ja in diesem Zusammenhang: was war eigentlich die Motivation dahinter, etwa bei Mietskasernen für Arbeiter ein Schrägdach und zur Straße hin das Verbauen von Sandsteinen usw. vorzutäuschen, als handele es sich um das Landhaus eines Adligen? Waren die Kosten dafür bei den damaligen Lohnhöhen so gering, oder fühlte man sich aus irgendeinem Grund dazu berufen, zu einem als repräsentativ empfundenen Stadtbild beizutragen? Oder hat es mit dem damaligen Anspruch des Handwerksgewerbes zutun?

  • Zitat

    Ja, ein Flickenteppich =).

    Aber immerhin ein Land mit reichen, vielfältigen Städten und Fürstentümern, mit einem ungebrochenen Bürgerstolz und nationalem Selbstbewußtsein, und wenigstens Ansätzen einer Zentralgewalt.

    Nach einem Krieg mit Millionen Opfern, nach der Einmischung Schwedens, Frankreichs, Dänemarks aber: ein zerrüttetes, gebrochenes, entvölkertes Land, von den Nachbarn zerstückelt und auseinandergerissen, für Jahrhunderte abgestürzt in Provinzialität und Kleingeistigkeit, ökonomisch am Boden und nun endgültig ein staatsrechtliches Monstrum aus tausenden völlig unabhängiger Fürstentümer, die alle ihre eigenen Wege gingen.
    Und darin der Keim allen künftigen Unheils gelegen.

    Aber ein anderer Punkt: wer redet eigentlich in den zitierten Texten? - Volker Gebhardt oder der Interviewer vom "Spiegel"?
    Ich erinnere mich noch gut an den anmaßend-herablassenden Ton - eine Mischung aus Hohn, Spott, Unverständnis und Nationalismus-Vorwürfen -, der sich im handelsüblichen "ZeitSüddeutscheFAZSpiegel"-Feuilleton durch die Besprechungen von Gebhardts Buch zog, weil Gebhardt es gewagt hatte, die Frage nach dem spezifisch Deutschen in der deutschen Kunst zu stellen.

  • Zitat von "Philon"


    wer redet eigentlich in den zitierten Texten? - Volker Gebhardt oder der Interviewer vom "Spiegel"?

    Das ist alles von Gebhardt. Der Interviewer fühlt ihm am Anfang auf etwas penetrant-provokante Art auf den Zahn ("wo ist denn da bitte die deutsche Eigenart?"), es entwickelt sich aber dann bald ein annehmbarer, kritischer Dialog.

    Etwas interessantes hatte ich noch vergessen:

    "Gebhardt: Es ist doch erstaunlich, dass die Rede, das 20. Jahrhundert sei ein expressionistisches, aus einem frühen Roman von Goebbels stammt. Das Gründungsmanifest des Bauhauses ist davon nicht so weit entfernt."
    SPIEGEL: Die Bauhäusler wollten einen neuen Menschen, aber keinen neuen deutschen Menschen.
    Gebhardt: Na ja, sie bezogen sich dediziert auf die deutsche Bauhütte des Mittelalters, auf die Utopie des gotischen Gesamtkunstwerks. Darin steckte auch etwas Kollektiv-Totalitäres.
    SPIEGEL: Nicht jede Utopie mündet im Totalitären. Die Bauhäusler waren doch eher noch verschreckt von dem Grauen des Ersten Weltkriegs.
    Gebhardt: Heute sinkt man ja vor jeder Bauhaus-Lampe, vor jedem Wasserkessel in die Knie, weil die Bauhäusler angeblich so politisch korrekt waren, versessen ausschließlich aufs abstrakt Schöne. Doch sie waren eigentlich erstaunlich rückwärts gewandt, sie idealisierten mit dem Mittelalter eine Vergangenheit, die damals als sehr deutsch empfunden wurde. Der Deutsche war ihrer Meinung nach eben nicht das geborene Genie wie der Italiener, sondern ein strebsamer Handwerkskünstler. Man bildete sich ein, die Künstler des Mittelalters und der Dürer-Zeit hätten beim Blumenpflücken und beim stillen, lauschigen Quell ihre Inspirationen gehabt und sich den Rest mühsam erwerkelt. Diese klischeehafte Übertreibung - sie hat auch einen kleinen Wahrheitskern - ist auch etwas sehr Deutsches in der Kunst."

    Für mich ist es doch immer wieder erstaunlich, wie im Bereich der Kunst und der Geisteswissenschaften Banalitäten mit aufwendiger Theoretisierung abgestützt werden und man sich daraus sogar noch das Recht zu einer gewissen Hochnäsigkeit ableitet, häufig alleine schon durch die Selbsternennung zum "Intellektuellen". Was dabei herauskommen kann, wenn man Schöngeistigkeit zum Beruf macht, sieht man heute an unseren Städten.