• Übrigens, ich würde von Neoklassik auch nicht unbedingt erwarten, dass sie sich von den Vorbildern emanzipiert, sondern dass sie zumindest annähernd an die Qualität der alten Vorbilder herankommt. Etwas wirklich Neues erwarte ich mir in diesem Zusammenhang gar nicht, sondern nur etwas gut gemachtes, was den Vergleich mit den alten Vorbildern aushält, ohne gleich "genial" sein zu müssen. Das müsste mit genügend Sensibilität und Erfahrung doch zu schaffen sein, oder nicht?

    Da stimme ich dir absolut zu. Aber es scheitert an einer Kompetenz, die auch zuerst mal vermittelt werden muss. Wie soll das funktionieren, wenn diese quasi seit langer Zeit ausgestorben ist? Gilt für die Musik wie für die Architektur. Daher erklärt sich ja auch meine Signatur, im Zweifel lieber Rekonstruktionen der Werke früherer Meister, als diese oft etwas unbeholfene Neoklassik, die niemals an ihre Vorbilder herankommt.

    In dubio pro reko

  • Man kann Architektur und Musik nicht gleichsetzen. Übrigens hielt sich die Entsprechung auch zu jeder historischen Zeit in Grenzen.

    Was soll die "Rekonstruktion" der Musik von alten Meistern? Das ist nur in kleinstem Rahmen möglich, nämlich bei offensichtlich verlorenen oder auch unvollendeten Werken - da ist wirklich viel Großes passiert, sogar die Kunst der Fuge kann als vollendet angesehen werden, wahrscheinlich sogar authentisch; dh nach Bachs Willen. Schuberts Siebente (gedoppelt) und Zehnte, Mahlers Zehnte - kein Problem... An Bruckners Neunter bin ich dran, dh da schaut es nicht ganz so gut aus. Tschaikowskys Siebente ist halt überhaupt kein so großer Renner.

    Von Beethovens Zehnter ist halt nix da. Dass die KI da auch nur einen Käse zusammenbringt, ist irgendwie sogar tröstlich.

    Aber die Zahl der zu rekonstruierenden Werke ist eben enden wollend (und findet kaum ein Interesse der musikalischen Öffentlichkeit).

    Dass "die Kompetenz" für klassisch-tonale Musik ausgestorben sein soll, kann ich nicht behaupten. Nach wie vor ist traditionelle Harmonielehre und Kontrapunktik so ungefähr die einzige Technik, die überhaupt gelehrt werden kann und dementsprechend gelehrt wird. Ich denke halt wirklich, dass die Möglichkeiten der tonalen Musik schön langsam ausgeschöpft sind und dass es seeeehr schwer wird, eine Sprache zu erfinden, die noch keiner benützt hat. Kunstmusik ist sensibler als Popularmusik, man kann hier nicht ewig wiederkäuen, was andere schon getan haben, das wird leicht saft- und kraftlos bis peinlich. Übrigens hat es das noch nie gegeben: 100 Jahre nach Bach wurde keine nennenswerte Barockmusik mehr geschrieben, 100 Jahre nach Beethoven keine Klassik...

    Große Komponisten, die in der Lage wären, auch in überkommenen Stilen zu bestehen, haben halt eben den Drang, sich in eigener Sprache zu verwirklichen.

    Was soll das sein?

    Zitat von Leo

    etwas gut gemachtes, was den Vergleich mit den alten Vorbildern aushält, ohne gleich "genial" sein zu müssen.

    Da issn Riesentrugschluss drin (jetzt nicht musikalisch gesprochen, da ist ja ein Trugschluss was Schönes). Die alten Vorbilder WAREN genial, sonst wären sie heute weg vom Fenster. Dh was den Vergleich mit ihnen aushalten will, muss eben auch genial sein.

    Die Qualität der postromantischen Musik wird generell sehr unterschätzt. Ich finde, das war die schwierigste Epoche überhaupt, und wer hier was zuwege gebracht hat, ist den schwierigsten Weg überhaupt gegangen.

    Franz Schmidt - Symphony no. 2 (1913) (Manuscript Score) (youtube.com)

    Wer glaubt, so schreiben zu können, soll es nur tun... ich würd mich über solche Werke freuen. Solang das nicht annähernd gelingt, nehm ich lieber mit so was Vorlieb:

    Iannis Xenakis - Lichens (Audio + Full Score) (youtube.com)

    keine zehn Jahre früher ist das hier entstanden als besonders drastisches Beispiel für ein "anachronistisches Werk", das ich wegen seines erlesenen Ausdrucks überaus liebe. Es stammt natürlich nicht von irgendwem und ist natürlich in erster Linie ein Alterswerk voller Resignation und auch Zurücknahme:

    Evgeny Nesterenko sings Shostakovich Suite on Verses of Michelangelo - video 1976 (youtube.com)

    Es ging also noch in den 1970ern, völlig tonal und traditionell zu schreiben, aber Werke wie dieses schüttet man nicht aus dem Ärmel...

    Und natürlich muss man in diesem Stil was zu sagen haben...

    Augustinus (354-430) - Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat
    14. Buch 9. Kapitel
    Der Staat oder die Genossenschaft der nicht gottgemäß, sondern nach dem Menschen wandelnden Gottlosen dagegen, die eben infolge der Verehrung einer falschen und der Verachtung der wahren Gottheit Menschenlehren anhangen oder Lehren der Dämonen, er wird von den bezeichneten verkehrten Gemütserregungen geschüttelt wie von Fieberschauern und Stürmen.

  • Ich bezog mich bei Rekonstruktionen natürlich ausschließlich auf Architektur, ich dachte das wäre so verständlich gewesen. Mir ist schon klar, dass dies nicht auf die Musik übertragbar ist. Die Ablehnung der klassischen Ausdrucksform* (schöpferisch bzw. kompositorisch) in der Gegenwart durch die Vertreter der "Moderne" macht beide Kategorien aber vergleichbar.

    In dubio pro reko

  • wüsste nicht, wer in der Musikszene Klassik ablehnt?

    ich finde eben, dass es eine solche Konkordanz zwischen Architektur und Musik nicht gibt. Neue Musik ist auch lange nicht so "omnipräsent" wie zeitgenössische Architektur. Und der Hund besteht darin, dass jeder die Architketur ertragen muss, während man sich missliebige Musikstücke nicht anzuhören braucht.

    Augustinus (354-430) - Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat
    14. Buch 9. Kapitel
    Der Staat oder die Genossenschaft der nicht gottgemäß, sondern nach dem Menschen wandelnden Gottlosen dagegen, die eben infolge der Verehrung einer falschen und der Verachtung der wahren Gottheit Menschenlehren anhangen oder Lehren der Dämonen, er wird von den bezeichneten verkehrten Gemütserregungen geschüttelt wie von Fieberschauern und Stürmen.

  • Ich meine nicht die Ablehnung klassischer Werke, sondern des Komponierens im klassischen Stil in der Gegenwart. Historische Bauwerke werden ja auch allgemein wertgeschätzt, aber wenn ein Architekt heute in einem vormodernen Stil entwirft, wird er belächelt bzw. kritisiert, nicht ernstgenommen. Diese Parallele dürfte doch auch dir nicht entgangen sein, und darum dreht sich ja dieser ganze Thread.

    In dubio pro reko

  • Noch einmal: Diese Parallele existiert einfach nicht. Das Musikleben wird nicht von sog. neuer Musik dominiert. Der gesamte Kommerzbereich ist "traditionell", sprich tonikal. Sogar das Segment des modernen "E-Musikbetriebes" wird von Minimalisten, Neoromantikern, Neoprimitivisten etc mitgeprägt. Diese erzielen relativ hohe Aufführungszahlen. So gut wie phillip Glass kann kaum ein anderer zeitgenössischer Komponist leben. Ein anderes Phänomen war der noch nicht lang verstorbene Krzysztof Penderecki, wie etwa auch gewisse unsägliche baltische Komponisten, die man nicht unbedingt namentlich zu erwähnen braucht. Dass solche Strömungen - wie gesagt kommerziell weitaus erfolgreicher als "modernistische" Kollegen - nicht immer die höchste Anerkennung genießen, ist wie oben dargelegt, auf die idR inferiore Qualität ihrer Erzeugnisse zurückzuführen. Es gibt keine "Verschwörung" der Modernisten. Jeder kann heute machen, was er will, und selbstverständlich werden alte Techniken an den Hochschulen gelehrt - jeder Komponist muss durch alte Harmonielehre und Kontrapunktik durch.

    Abgesehen ist die Gleichsetzung bzw Entsprechung: Komponieren im alten Stil = Rekonstruktion verloren gegangener Gebäude

    fragwürdig. Eher wäre hier die erwähnte riconstruzione unvollendeter Werke gleichzusetzen.
    Diese wird vor allem aus (eingebildeten) Pietätsgründen angefeindet.

    Eine rein ideologische Herabwürdigung von bloßem "Komponieren im alten Stil" ist hingegen nirgends zu beobachten. Dass Mist mitunter als solcher bezeichnet wird, sollte niemanden verwundern.

    Augustinus (354-430) - Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat
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    Der Staat oder die Genossenschaft der nicht gottgemäß, sondern nach dem Menschen wandelnden Gottlosen dagegen, die eben infolge der Verehrung einer falschen und der Verachtung der wahren Gottheit Menschenlehren anhangen oder Lehren der Dämonen, er wird von den bezeichneten verkehrten Gemütserregungen geschüttelt wie von Fieberschauern und Stürmen.

  • Ich bekenne mich vorab auch in diesem Fach zum enthusiastischen Dilettanten, ich liebe insbesondere seit Kindheitstagen die romantische Musik des 19. Jahrhundert, aber ich denke auch, dass man nicht verkennen sollte, dass der heute als selbstverständlich gepflegte Opernkanon in weiten Teilen von einigen wenigen Genies geprägt wird und selbst etablierte Künstler des 19. Jahrhunderts nur noch absoluten Enthusiasten bekannt sind: Wer ist denn noch vertraut mit Spontini, Marschner oder Meyerbeer (wenn man letzteren nicht mitleidig als R. Wagners Prügelknaben erwähnt)?.

    Gelungene Werke gab es auch im weiter fortgeschrittenen 20. Jahrhundert noch einige, Poulenc hat mit den "Dialogues des Carmélites" 1957 ein Werk auf die Bühne gebracht, das regelmäßig auch gänzlich unbelehrtes Publikum musikalisch berührt. Davon könnte es -in meinen Augen- gerne mehr geben, im Endeffekt haben auch bewusst die Nähe von Meilensteinen suchende Werke wie "Orest" von M. Trojahn, trotz ihres recht modernen Kleides, sicherlich eine "neuklassische" Wirkung, eine breite Rezeption bleibt eben aus, können sich diese Werke selten mit dem Bestand messen.

  • Welche These?

    die da:

    II. Die sog Neue Musik ist in ihrer zum Programm erhobenen Komplexität von den Vereinfachungstendenzen der modernen Architektur meilenweit entfernt, ja dieser geradezu diametral entgegengesetzt. In den wenigsten Fällen, dh abseits der sattsam bekannten Darmstädter Schule hat sich die Neue Musik als Dirne ideologischer Zeitgeistigkeit präsentiert. Sie hat sich ihre Redlichkeit und ihr gutes Gewissen im allgemeinen bewahrt.


    halt ich nach wie vor für richtig.

    Augustinus (354-430) - Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat
    14. Buch 9. Kapitel
    Der Staat oder die Genossenschaft der nicht gottgemäß, sondern nach dem Menschen wandelnden Gottlosen dagegen, die eben infolge der Verehrung einer falschen und der Verachtung der wahren Gottheit Menschenlehren anhangen oder Lehren der Dämonen, er wird von den bezeichneten verkehrten Gemütserregungen geschüttelt wie von Fieberschauern und Stürmen.