Brillantes und vielschichtiges Gesamtkunstwerk
1. Integration in und Abrundung der vorhandenen Ausstattung
Bei der - der Errichtung des Ratsgestühls um einige Jahre vorausgehenden - Vertäfelung der Oberen Rathaushalle hatte sich Johann Georg Poppe bereits an der – wie Villa1895 ganz richtig erkannt hat – im Knorpelstil des Frühbarock gestalteten Außenwand der Güldenkammer orientiert. Auch beim Ratsgestühl bildeten zahlreiche Elemente der Letzteren die Inspirationsquelle für den Künstler. Die Vorbildwirkung von Außenwand, Portal, Wendeltreppe und Innentür des ‚Alten Archivs’ ist dabei ganz offensichtlich. Durch darüberhinausgehende Zitate, wie das der Wappenbekrönung des Portals der ehemaligen Rheederkammer gelang es Poppe das Ratsgestühl nicht nur perfekt in die vorhandene Gesamt-Ausstattung zu integrieren, sondern mit diesem die Obere Rathaushalle überhaupt erst abzurunden. Durch das Gestühl wurde die Halle zu einer optisch geschlossenen und ästhetisch stimmigen Einheit.
2. Einbeziehung der anderen Institutionen der Stadt
Poppe verstand es zudem, durch klug gewählte Architektur-Zitate und Sichtbezüge zu den Symbolbauten der wichtigsten Institutionen der Stadt, die Letzteren in der Rückwand der Bürgermeisterstühle gewissermaßen aufscheinen zu lassen. So stellt z.B. der von korinthischen Säulen getragene Bogen mit seinen begleitenden Kriegerfiguren nicht nur ein – leicht variiertes – Abbild des Portals des Gewerbehauses (des Sitzes der Handwerksammer) dar, sondern er bildet auch eine Hommage an die ähnlich gestaltete Eingangszone des Hauses Schütting (des Sitzes der Handelskammer); hier sind es dann auch die beiden Ochsenaugen rechts und links der zentralen Säulenstellungen, die die Parallelität augenfällig machen.
Aufgrund seiner Position innerhalb der Rückwand eröffnet der Bogen zudem eine Sichtachse auf den St. Petri Dom, das Symbol der neben Handel und Handwerk dritten entscheidenden Säule Bremischen Lebens jenseits von Rat und Senat. Die Macht des Doms – der hier für den historischen Landesherren und das ehedem ‚heilige Bremen’ steht - wird aber durch die beiden Krieger mit ihren Lanzen und den mit dem Bremer Stadtwappen geschmückten Schilden regelrecht ‚eingehegt’ und dadurch für die Interessen der Stadt unschädlich gemacht. (Ob das Medusenhaupt im Scheitel des Bogens hier noch gezielt eine apotropäische Wirkung gegen die Macht des Klerus entfalten, oder doch eher das Böse allgemein von der Oberen Rathaushalle fernhalten soll, kann nicht mit Bestimmtheit gesagt werden.)
Portal des Gewerbehauses am Ansgarikirchhof
Portal von Haus Schütting (in der Form , die ihm vom 1897 verstorbenen Max Salzmann gegeben wurde).
St. Petri Dom grüßt durch den Bogen (den mit dem erzbischöflich bremischen Wappen zu schmücken, ich mir erlaubt habe).
3. Rathaus en miniature
Bereits auf den ersten Blick fällt bei einem groben Vergleich der Rückwand der Bürgermeisterstühle mit Mittelrisalit und Mittelgiebel der Südseite des Rathauses die starke Ähnlichkeit von Struktur und optischer Erscheinung auf: So entsprechen sich die vertikale Dreiteiligkeit bis zum Hauptgesims und die Umrißlinien der Giebel mit ihren Obelisken und Figurenstellungen recht umfänglich.
Zudem sind die kleinen freistehenden Bögen zwischen Giebelkorpus und Eckfiguren /- obelisken ein direktes Zitat.
Nachdem Poppe zudem bei seiner später Errichteten Baumwollbörse das Motiv des Giebels mit einliegendem Bogen wieder aufgegriffen hatte und von seinen Kritikern – durch den Meister unwidersprochen - der Doppelung der Rathausfassade geziehen wurde, kann man davon ausgehen, daß der Giebel der Rückwand in der Tat ein Zitat des Bentheim’schen Mittelgiebels des Rathauses sein soll.
Baumwollbörse.