Bremen – Altstadt – Ratsgestühl von 1903

  • Seltsame Ornamentierung

    (Eigenes Foto aus dem Jahre 2000)

    So manchem Besucher der Oberen Rathaushalle werden diese scheinbar wahllos angeordneten Ornamente am östlichsten Teil der Vertäfelung der Nordwand aufgefallen sein. Vielleicht hat sich dann bei dem einen oder anderen die Vermutung eingestellt, daß hier wohl ursprünglich mehr zu sehen gewesen sein müßte. Und genau das ist auch richtig, denn der gegenwärtige Zustand stellt in der Tat lediglich ein Rudiment dar. Die heute willkürlich erscheinende Ornamentierung im genannten Bereich ist nämlich der letzte sichtbare Schatten des majestätischen Aufbaus des gründerzeitlichen Ratsgestühls, auf den die Ornamentierung einst bezogen war. Auf diesem Themenstrang sollen daher Geschichte, Ikonographie und Werdegang dieses von Johannn Georg Poppe entworfenen, 1903 fertiggestellten hochkarätigen Kunstwerks, welches ohne einen einzigen Schaden den Zweiten Weltkrieg überstanden, dann aber in den 50er Jahren unter dem üblichen Getöse von der vermeintlichen ‚wilhelminischen Überladenheit’ und dem angeblichen ‚kaiserzeitlichen Prunk und Protz’ aus dem Rathaus entfernt wurde, thematisiert werden. Wenn auch die meisten figuralen Skulpturen seinerzeit von Karl Dillschneider in Privathand verschenkt wurden, so sind doch die anderen Bestandteile – entweder im Magazin der Denkmalpflege oder in nachvollziehbarem Privatbesitz – bis heute erhalten. Ein Wiedereinbau wäre somit durchaus möglich. Allein, der politische Wille dazu ist momentan nicht vorhanden. Man muß es bedauern, daß diese edlen Stücke auf diese Weise den Blicken der Bürger entzogen sind; Bürgern, deren Vorväter Bürgersinn das Ratsgestühl überhaupt erst möglich gemacht hatte…


    Vergleich des Zustandes im Jahre 2000 mit demjenigen in der Vorkriegszeit.


    Bürgermeister und Präsident des Senats Wilhelm Kaisen bei der Aufzeichnung einer Fernsehansprache in den 1950er Jahren vor dem vollkommen intakten Ratsgestühl.


    Ein magazinisierter Obelisk und sein ehemaliger Standort. (Eigene Fotos von 2000 und vom 10. September 2001)

  • Vom Hingucker zum Mauerblümchen

    In der Gegenwart führt das in den 50er Jahren radikal gekappte Ratsgestühl ein Schattendasein, dem bei Veranstaltungen in der Oberen Rathaushalle in der Regel der Rücken zugekehrt wird. Zwar spielt es noch bei der Schaffermahlzeit und bei Eintragungen ins Goldene Buch der Stadt eine gewisse Rolle, aber seiner eigentlichen Bestimmung als Sitzgelegenheit für den Senat anläßlich festlicher gemeinsamer Sitzungen mit der Bürgerschaft im Rathaus, ist das Gestühl schon seit Jahrzehnten nicht mehr nachgekommen.

    Zum Vergleich: Das Aussehen des intakten Gestühls.

  • Hallo Pagentorn,

    weiß man, wie lange wurde denn an diesem überaus prachtvollen Ratsgestühl gearbeitet wurde? Vermutlich einige Jahre. Dabei gehe ich davon aus, dass die Schnitzereien von Hand gefertigt wurden. Wie kann man denn so etwas Schönes auseinander reißen und verstümmeln? Noch dazu in einer Stadt, die so viel ihres Schmuckes durch den Krieg und die nachfolgenden Jahrzehnte eingebüßt hat. Unbegreiflich.

  • Lieber Villa 1895,

    die Planungen begannen schon 1890. 1893 wurde der Beschluß zur Errichtung gefaßt. 1903 war die Realisierung abgeschlossen. Bisher sind mir eine Tischlerei und eine Schnitzerei namentlich bekannt, die am Projekt mitgearbeitet haben.

    Ihre Bestürzung über das Auseinanderreißen des Kunstwerks teile ich vollumfänglich !

    Leider hatte dieser Vorgang eine sich am Anfang des 19. Jahrhunderts - während der Franzosenzeit - ereignende historische Parallele ...

    (Dazu später mehr.)

  • Vorgeschichte

    Im Rathausbau von 1410 diente die Obere Rathaushalle nicht als Sitzungssaal des Rates (dieser tagte in der sog. ‚Wittheitsstube’, gelegen in einem kleinen nördlichen Anbau), sondern als Versammlungsort der gesamten städtischen Einwohnerschaft und vor allem als Gerichtshalle. Zu letzterem Zwecke war an der Nordostecke des Raums der ‚Ratsstuhl’ eingerichtet, in dem Ratsherren und Bürgermeister der vier Stadtquartiere Recht sprachen.

    Als Bremen während des ersten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts zum Teil des napoleonischen Reiches geworden war, führte man auch die französische Gerichtsverfassung mit ihrem Tribunalwesen ein. Der alte Ratsstuhl war für letzteren Zweck nicht mehr geeignet und wurde entfernt (wobei die vier wertvollen Wangen eingelagert wurden und so bis heute - im Focke Museum - erhalten bleiben konnten). In der Oberen Rathaushalle wurde ein Podium für ein Tribunal eingerichtet.

    Nach dem Ende der französischen Besatzung wurde zwar die angestammt Bremische Rechtsordnung wiederhergestellt, der Ort der Rechtsprechung verlagerte sich aber in das an das Rathaus angrenzende Stadthaus (auf dessen Grundfläche heute das ‚Neue Rathaus’ steht). Die obere Halle – vom Tribunal-Podium befreit – diente bis zur Eröffnung der Neuen Börse 1864 als Tagungsort der Bürgerschaft, wozu jeweils eine mobile Bestuhlung herbeigeschafft wurde, blieb aber ansonsten weitestgehend leer. An diesem Zustand änderte sich bis 1890 nichts wesentliches.

    Abbildungen:

    Rekonstruktion des Grundrisses des mittelalterlichen Ratsstuhls nach Rolf Gramatzki.

    (Gramatzki, Rolf: Das Rathaus in Bremen. Versuch einer Ikonologie. Bremen, 1994: Verlag H.M. Hauschild, S.53.)

    So ähnlich wie der mittelalterliche Lüneburger Ratsstuhl auf dem folgenden Foto wird auch der Bremer gewirkt haben.

    Grobe – etwas verzerrte und schiefe - Rekonstruktion der Ansicht des Bremer Ratsstuhls – unter Verwendung der Lüneburger Bänke und drei der vier historischen Bremer Ratsstuhlwangen.

    Collage zum Tribunal französischen Stils in der Oberen Rathaushalle.

    Blick durch die gesamte Oberer Rathaushalle auf die ‚leergeräumte’ Ostpartie, so wie sie im Großen und Ganzen zwischen 1815 und 1890 bestand. (Gemälde in der Bremischen Bürgerschaft.)

  • Paul Wallot war Befürworter von Poppes Ratsgestühl

    Anbei Auszüge aus dem Gutachten (u.a.) von Paul Wallot vom 19.11.1891

    (Quelle: Verhandlungen zwischen dem Senate und der Bürgerschaft vom Jahre 1893, S.150-152.)


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  • Systematische Dokumentation des Ratsgestühls

    Teil 1: Die nördliche Schranke

    (Alle Farbfotos in diesem und den Folgebeiträgen von mir am 10.September 2001 aufgenommen.)

    Lage der nördlichen Schranke in der Oberen Rathaushalle (rot hervorgehoben).

    Totale der Westansicht des Ratsgestühls mit rot hervorgehobener nördlicher Schranke.

    Nahansicht von nördlicher Schranke und zugehörigen Aufsätzen.

    Nahansicht der eigentlichen Schranke.

    Details (von Nord nach Süd vorgehend).

    Datierung '1890' (dem Jahr, in dem die Planungen für das Ratsgestühl begonnen wurden) und nördlicher Pfeiler.

    Adler.

    Blüte.

    Eos / Aurora mit Flügelhelm, Blasebalg und wehendem Tüchlein.

    Stilisiertes Wappen des Deutschen Kaiserreichs mit heraldischer Krone, einköpfigem Adler und hohenzollernschem Schild auf dessen Brust.

  • Vulcanos mit Kappe, Fackel und Hammer.


    Blätter-Arrangement.


    Feuerspeiender Drache.


    Südlicher Schrankenpfeiler.



    Ostseite der Schranke:

    Rückseite von Südpfeiler, feuerspeiendem Drachen und Vulcanos.

    Rückseite von Vulcanos und Wappen des Deutschen Kaiserreichs; hier ist statt des Reichs- das Bremer Wappen zu sehen.


    Bremer Schlüsselwappen und Rückseite von Eos / Aurora.

    Rückseite von Eos, Blüte, Adler und nördlichem Schrankenpfeiler.

    Rückseite von nördlichem Schrankenpfeiler und Datierung (1890). Das leicht gebogene rechte Ende des Datierungsfeldes würde sich exakt an die in der Oberen Rathaushalle verbliebene leichte Ausbuchtung des Pilasters in der Vertäfelung anschmiegen. Beide sind aufeinander bezogene 'Andockbereiche'.

  • Anmerkungen zur nördlichen Schranke

    Collage zur besagte 'Andockstelle'. Man sieht, daß es immer noch passen würde...


    Das Vorbild für die Machart des Bremer Wappens auf der Ostseite der Schranke findet sich in der Bekrönung des Portals der aus dem 17. Jahrhundert stammenden und der Oberen Rathaushalle benachbarten Güldenkammer.

  • Teil 2 : Die südliche Schranke

    Lage der südlichen Schranke in der Oberen Rathaushalle (rot hervorgehoben).

    Totale der Westansicht des Ratsgestühls mit rot hervorgehobener südlicher Schranke.

    Nahansicht von südlicher Schranke und zugehörigen Aufsätzen.

    Nahansicht der eigentlichen Schranke.

    Details (von Nord nach Süd vorgehend):

    Nördlicher Schrankenpfeiler.

    Liegender Stier und Blüte

    Ceres mit Ährenkrone, Duftquaste und Kornbündel.

    Stilisiertes Wappen des Heiligen Römischen Reiches mit doppelköpfigem Adler.


    Poseidon / Neptun mit Seegraskrone, Dreizack und Krug mit herausquellendem Wasser.

    Bocksfüßiger Satyr mit Fisch am Strick.

  • Teil 3 : Aufsätze der nördlichen Schranke

    Der 'Zepter-Putto'

    Lage des Aufsatzes des 'Zepter-Putto' in der Oberen Rathaushalle (rot eingekastelt).

    Totale der nördlichen Schranke mit rot hervorgehobenem 'Zepter-Putto'.

    Nahansicht des 'Zepter-Puttos'.

    Putto. Das Zepter ist abmontiert oder gar ganz verloren gegangen.

    Grotesken-Kopf am oberen Ende der 'Zepter-Putto'-Skulptur.

    Grotesken-Kopf am unteren Ende der 'Zepter-Putto'-Skulptur.

  • Ein Wiedereinbau wäre somit durchaus möglich. Allein, der politische Wille dazu ist momentan nicht vorhanden.

    Vielleicht sollten Sie mal in Kontakt mit verschiedenen, grundsätzlich interessierten Fraktionen treten und diesen das Anliegen erläutern. Eine Senatsfraktion könnte daraus einen Antrag zur Wiederherstellung formulieren.

    Regiert wird Bremen aber derzeit von Rot-Rot-Grün, wo ich ein geringes Interesse an einer Änderung der Situation vermute. Also entweder, Sie sensiblisieren eine oder mehrere der bürgerlichen Parteien für das Thema und hoffen auf die nächsten Bremer Wahlen. Oder Sie müssten versuchen, die "Grünen" zu überzeugen, die noch am ehesten eine bürgerliche Wählerklientel vertreten, und die dann ihre Koalitionspartner zu Zugeständnissen bewegen könnten. So oder so, der Weg geht nur über die Politik direkt.

  • Lieber Heimdall,

    Sie haben vollkommen recht, daß ohne einen Sinneswandel in der Politik, hinsichtlich des ‚Ratsgestühls’ nichts zu machen sein wird. Einen solchen zu erreichen, wird aber nicht einfach sein. Selbst die Denkmalpflege biß mit ihren zweimaligen Versuchen (Stand 2001), zumindest die Schranken zu reinstallieren, bei der Politik auf Granit – und das trotz des ausdrücklichen Hinweises auf die hohe künstlerische sowie handwerkliche Qualität der beiden Teile.

    Der Grund für diese Haltung mag in Unkenntnis und der Unantastbarkeit der Ära Wilhelm Kaisens liegen:

    Nicht viele der heutigen Entscheidungsträger werden vom Ratsgestühl mehr als die wenigen – immer wieder abgedruckten – und recht unscharfen Gesamtansichten desselben kennen (wenn überhaupt). Diese Fotos werden sie nicht veranlassen, am Verdikt der seinerzeitigen Abbaubefürworter (die in der Tradition der Gegner und Konkurrenten Johann Georg Poppes standen) über den vermeintlichen ‚wilhelminischen Kulissenzauber, Prunk und Protz’ zu zweifeln.

    Hinzu kommt die Tatsache, daß der Abbau unter Wilhelm Kaisern geschah, des ‚Urgesteins’ der Bremer Sozialdemokratie. Alles was unter seiner Regierung geschah, wird hier grundsätzlich als per se unumstößlich angesehen. Ich denke, Kaisen selber hätte aber – wenn er über den heutigen Kenntnisstand verfügen würde – schon längst eingesehen, daß der Abbau ein Fehler war. Er hätte die Souveränität gehabt diesen Mißgriff einzugestehen.

    Meine Beiträge auf diesem Themenstrang sollen daher dazu beizutragen, Wissen über das Ratsgestühl unters Volk zu bringen und dabei einer breiteren Öffentlichkeit das handwerkliche Können der damaligen Schnitzer und die stimmige Einpassung des Poppe'schen Ratsgestühls in die vorhandene frühneuzeitliche Ausstattung der Oberen Rathaushalle näherzubringen.

    Wenn unter den Bürgern die Überzeugung gereift sein wird, daß es ein Jammer ist, diese schönen Teile im Magazin verstauben zu lassen, dann wird es Zeit sein, an die Parteien heranzutreten.

  • Viereckige Vase

    Lage der viereckigen Vase in der Oberen Rathaushalle (rot eingekastelt).

    Totale der nördlichen Schranke mit rot hervorgehobener, viereckiger Vase.

    Nahansicht der viereckigen Vase.

    Die Kugel an der Spitze der Vase ist dezent vergoldet.

    Die viereckige Vase hatte einen identischen 'Zwilling' auf der südlichen Schranke. Beide Vasen sind bis heute erhalten. Allein aufgrund der vorliegenden Fotos ist eine Bestimmung des exakten Standorts des jeweiligen Exemplars (Nord -oder Südschranke) leider nicht möglich. Bei dem folgenden Exemplar kann man jedenfalls den Zapfen erkennen , welcher der - groben - Verankerung der Vase auf der Schranke diente (ob daneben noch mit Leim gearbeitet wurde, wäre noch zu klären).

  • Wappen-Löwe

    Lage des - das Bremer Schlüsselwappen haltenden - Löwen in der Oberen Rathaushalle (rot eingekastelt).

    Totale der Westansicht des Ratsgestühls mit rot hervorgehobenem, wappentragendem Löwen auf der nördlichen Schranke.

    Der Löwe wurde nach dem Abbau verschenkt und befindet sich gegenwärtig - hoffentlich - in guten Händen !?

  • Teil 4 : Aufsätze der nördlichen Schranke

    Wappen-Löwe

    Lage des - das Bremer Schlüsselwappen haltenden - Löwen in der Oberen Rathaushalle (rot eingekastelt).


    Totale der Westansicht des Ratsgestühls mit rot hervorgehobenem, wappentragendem Löwen auf der südlichen Schranke.

    Auch dieser Löwe wurde nach dem Abbau verschenkt und befindet sich gegenwärtig - hoffentlich - in guten Händen !?

  • Viereckige Vase

    Lage der viereckigen Vase in der Oberen Rathaushalle (rot eingekastelt).

    Totale der südlichen Schranke mit rot hervorgehobener, viereckiger Vase.

    Nahansicht der viereckigen Vase.

    Für weitere Informationen wird auf die Ausführungen zur Vase auf der nördlichen Schranke verwiesen.

  • Der 'Liktoren-Putto'

    Lage des Aufsatzes des 'Liktoren-Putto' in der Oberen Rathaushalle (rot eingekastelt).

    Totale der südlichen Schranke mit rot hervorgehobenem 'Liktoren-Putto'.

    Nahansicht des 'Liktoren-Puttos'.

    Der magazinisierte 'Liktoren-Putto'.

    Details.