Weiter geht's mit dem zweiten Teil der großen Harz-Tour. Heute steht Osterwieck (Landkreis Harz) auf dem Programm, die große Schwester von Hornburg, nur zehn Kilometer entfernt, Hornburgs Partnerstadt und bis 1941 zusammen mit dieser im Landkreis Halberstadt gelegen.
Ich wollte mich eigentlich zu Fuß von Hornburg nach Osterwieck begeben, habe mich dann aber etwa auf der Hälfte der Wegstrecke, nach knapp einer Stunde Wanderung bis zum Dorf Rimbeck, entschieden, den Rest der Strecke doch mit dem Bus zu fahren. Unterwegs ist mir folgender Haufen an Betonblöcken am Straßenrand aufgefallen. Reste der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze?
Ansonsten war vom Grenzverlauf absolut nichts mehr zu erkennen - mal abgesehen vom Schild "Willkommen im Landkreis Harz" am Straßenrand, das die Grenze zwischen Niedersachsen und Sachsen-Anhalt markierte. Wie gesagt bin ich in Rimbeck in den Bus eingestiegen. Das Dorf hat eine nette Barockkirche, die aber leider verschlossen war.
Ich bin nicht direkt bis Osterwieck gefahren, sondern in Lüttgenrode ausgestiegen und die letzten zwei Kilometer zu Fuß gegangen. In Lüttgenrode befand sich nämlich bis zum 30-Jährigen Krieg ein Kloster. Die Klausurbauten sind schon lange verschwunden, aber laut meinem Dumont-Reiseführer Harz von 1993 (einen aktuelleren gab's in der Stadtbücherei leider gerade nicht) steht die Klosterkirche St. Stephanus mit ihrem markanten Doppelturm noch. Es handele sich um eine einschiffige flach gedeckte romanische Hallenkirche, die im Inneren noch eine Nonnenempore aufweise, sagte der Reiseführer. Allerdings stand dort auch der Hinweis, dass die Kirche in ihrer Substanz aufgrund der jahrzehntelangen Vernachlässigung stark gefährdet sei. Nur wie gesagt, das war 1993. Also war ich gespannt, ob die Kirche inzwischen saniert sei. Von weitem machten die Türme jedenfalls schon mal einen ordentlichen Eindruck.
Aus der Nähe betrachtet kam dann jedoch der Schock:
Das Dach war verschwunden, ein Großteil der Südseite des Langhauses niedergelegt, die Nordseite war abgestützt und wirkte nach wie vor einsturzgefährdet und auch der Chor war offenbar etwas aus dem Lot geraten.
Ein Schild wies darauf hin, dass die Ruine des Kirchenschiffs 2006 gesichert wurde und zeigte auch einen Längsschnitt durch die Kirche, mit einer beeindruckenden Westkrypta. Die war aber leider völlig zugemauert, sodass ich im Inneren des Kirchenschiffs (das durch einen Bauzaun abgesperrt war) nicht auf Erkundungstour gehen konnte.
Säulenkapitell gefällig? Das lag einfach auf der Wiese neben der Kirche. Man hätte es einfach einsacken können - vorausgesetzt man ist stark genug.
Eingestürzte Scheune direkt an den Türmen der Kirche:
Mit etwas getrübter Stimmung machte ich mich auf den Weg nach Osterwieck. Schon von weitem sah ich die durchaus beeindruckende Stadtsilhouette, aus der die Pfarrkirche St. Stephani dank ihrer westwerkartigen romanischen Doppelturmfront besonders heraussticht.
Osterwieck ist durchaus mit Hornburg vergleichbar, jedoch mit einigen Unterschieden. Zum einen gibt's deutlich mehr historistische Überformungen (vor allem am Marktplatz), auch wenn die sich im Gegensatz zu größeren Städten wie Quedlinburg in Grenzen halten. Außerdem sind die Folgen des Stadtbrands von 1884, der vor allem den südöstlichen Teil der Stadt getroffen hatte, nach wie vor klar erkennbar. Und nicht zuletzt hat die Verwahrlosung der Bausubstanz in DDR-Zeiten (mit fast 40 abgerissen Fachwerkhäusern, knapp die Hälfte davon erst in den Achtzigern) doch einige Wunden in der Stadt hinterlassen, die noch lange nicht alle geheilt sind. Durch diese drei Faktoren (Stadtbrand, Historismus, Abrisse) ist das Stadtbild heute leider nicht mehr so geschlossen wie in Hornburg, doch der Anteil der Fachwerkbauten ist nach wie vor beeindruckend, ebenso wirken die Gebäude selbst teils deutlich größer und weniger provinziell als in Hornburg.
Noch ein paar Zahlen, bevor wir uns den Bildern zuwenden. Osterwieck hat heute knapp 3800 Einwohner, weniger als im Jahre 1880 (um 1950 waren's noch etwa 6000 Einwohner). Von den 376 Fachwerkhäusern in der Altstadt stammen 13 aus der Zeit vor 1530, 113 aus der Zeit zwischen 1531 und 1620 (das sind 30 Prozent!), 62 aus der Zeit bis 1720, 100 aus der Zeit bis 1830 und 88 aus der Zeit ab 1831. Damit lässt Osterwieck, was Fachwerk vor dem Dreißigjährigen Krieg angeht, nicht nur prozentual gesehen die Städte Quedlinburg, Stolberg und Wernigerode hinter sich (alle drei Städte haben nur 4-12 Prozent ihrer Fachwerkbauten aus dieser Zeit, Osterwieck exakt ein Drittel), sondern auch absolut. Selbst Quedlinburg besitzt nur noch 81 Fachwerkhäuser aus der Zeit vor 1620.
So, nun aber genug Statistik. Am besten nähert man sich der Stadt von der Schulzenstraße her, denn das ehemalige Schulzentor lässt sich nach wie vor gut erahnen. Und direkt hinter der Torgasse mit ihren barocken Sandsteinfiguren befindet sich auch noch ein Rest der Stadtmauer sowie Reste des Tores selbst (vermute ich zumindest), wie man erkennt, wenn man sich auf den Wall begibt:
Geht man die Stadtmauer entlang, gelangt man in die Vogtei, wo wir eine alte Bekannte wiedersehen: Die Ilse, beziehungsweise abermals einen abgezweigten Kanal von ihr namens Mühlenilse.
Bis auf ein Haus ist hier alles gut saniert. Vor allem das ehemalige Hospital St. Bartolomäus wirkt sehr stattlich (man beachte den massiven Brandgiebel):
Im Hagen ist der Eindruck jedoch schon etwas getrübt. Hier stehen einige Häuser, bei denen dringend Handlungsbedarf besteht - wobei ich die vielen bereits sanierten Bauten natürlich nicht außer Acht lassen will. Dadurch wird der Kontrast zu den verfallenden Häusern jedoch noch verstärkt. Und der Zustand mancher unbewohnter Häuser ist schon erschreckend.
Das Haus Hagen 45 (ehemaliges Diakonat) fällt vor allem durch seine Giebelständigkeit auf. Damit erinnert es eher an ostwestfälische Bauten als an südniedersächsische. Obwohl auch hier wieder auffällt, dass der Giebel nicht komplett verziert ist, sondern nur im ersten Geschoss.
Am Ende des Hagen, dort wo er in Richtung Kapellenstraße abknickt, steht eines der traurigsten Beispiele der Stadt, das trotz seiner Verwahrlosung noch immer beeindruckende Haus Hagen 21/22 von 1580. Besondere Sorgen macht mir das teilweise abgedeckte Dach im rechten Hausteil, zumal es nicht so aussieht, als wäre das erst seit gestern abgedeckt.
Weiteres durchlöchertes Dach (von einem Haus in der Kapellenstraße - von welchem hab ich aber nicht rausfinden können):
Biegt man am Ende des Hagen in die Kapellenstraße ein, blickt man auf das zweitälteste bekannte Haus der Stadt (dendrochronologisch auf 1453 datiert, noch mit gotischem Treppenfries an der Giebelseite. Die Fassade zur Kapellenstraße wurde später erneuert.
Und wo wir schon mal dabei sind: Kapellenstraße 34 wurde auf 1450 datiert (links, noch mit angeblattetem Fußband):
Blick in die Kapellenstraße Richtung Osten, rechts eine Abbruchlücke:
Blick in die andere Richtung. Der Schlecker rechts ist ein Neubau aus den Neunzigern, der eine DDR-Baulücke schließt. Meiner Meinung nach ganz okay. Der Bau fügt sich gut in die Bebauung ein, ohne groß historisierend zu wirken. Traurigerweise war der Schlecker eines von wenigen Ladengeschäften in der Straße, die nicht leer standen:
Gegenüber fließt die Mühlenilse unter einer Scheune hindurch, bei der man offenbar mit einer Sanierung begonnen, diese jedoch nicht fertiggestellt hatte:
Schön saniertes Haus mit gleich zwei Schaufassaden. Die Autos im Vordergrund parken übrigens dort, wo ehemals die Hofbereiche der oben erwähnten abgerissenen Häuser lagen:
Durch die Stobentwete geht es, vorbei an einem leerstehenden Renaissance-Fachwerkhaus...
... in die Mittelstraße, in der man unvermittelt vor einer frischen Baulücke steht. Laut Denkmalverzeichnis von 1994 stand dort ein verkleidetes Fachwerkhaus aus der Zeit um 1600. Offenbar war es nicht mehr zu erhalten. Hoffentlich wird die Baulücke wieder angemessen geschlossen.