Beiträge von Philoikódomos

    Ihr bringt es auf den Punkt, Philon und Heimdall: Ging es in den Nachkriegsjahrzehnten noch darum, der Verdrängungsmentalität der Wirtschaftswundergeneration eine Auseinandersetzung mit der vorausgegangenen katastrophalen deutschen Geschichte abzutrotzen, läuft in unserer Zeit das Unheil längst in entgegengesetzter Richtung. Indem eine Gedenkstätte des Naziterrors nach der anderen eröffnet wird, indem in Publikationen und Medienbeiträgen die zwölf Jahre der Naziherrschaft immer neu bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet werden, indem alles Kunstschaffen der "Moderne" sich vor dem Hintergrund des Nazi-Ungeistes zu profilieren versucht (natürlich stets mit hochmoralischem Sich-in-die Brust-Werfen: "Damit so etwas n i e wieder passiert!"), gelingt es den hinter der zeitgenössischen Meinungsmache agierenden Mächten, im öffentlichen und möglichst weltweiten Bewusstsein eine über tausend Jahre währende deutsche Geschichte auf die zwölf Jahre der Nazizeit zusammenzudampfen. Und alle vorausgehenden Entwicklungsepochen fallen entweder der Unkenntnis anheim oder sie werden als Entwicklungsstadien verstanden, welche die Katastrophe des 20. Jahrhunderts vorbereitet und mitverschuldet haben. Soll denn diesem Volk, das von manchen Zeitzeugen ein "gekreuzigtes Volk" genannt wurde, auch noch der letzte Rest von Selbstachtung und damit seine Seele genommen werden?

    Wundern wir uns, dass in diesem Volk eine Architektur, die diesen Namen verdient, kaum noch gedeihen kann? Wie recht hatte Ludwig Wittgenstein mit seinem Diktum, Architektur könne es nur da geben, wo "es etwas zu verherrlichen gibt"! Wenn wir Deutschen uns nicht bereit finden, aufs neue den Großtaten der deutschen Geschichte, den Schöpfungen der Kunst (einschließlich der Architektur), des Städtebaus, der Literatur, der Musik, der Philosophie und der Wissenschaft Aufmerksamkeit und Respekt entgegenzubringen, wird es hierzulande keine Architektur der Zukunft geben.

    Lernen wir wieder das "Rühmen" (im Rilkeschen Sinne), die Verehrung, die Liebe auch zum eigenen Volk, zu den Monumenten seiner Geschichte, zu den Werken seiner genialen Geister. Seien wir nicht bang, von den Meinungsführern der "Moderne" verhöhnt zu werden. Nur wenn aus diesen Voraussetzungen heraus auch in diesem Land eine Architektur der Zukunft möglich und erlebbar wird, die im Dialog mit dem Architekturschaffen einer tausendjährigen Geschichte steht, wird unser Volk überhaupt eine Zukunft haben.

    Zitat von "Stefan"

    Auch das und vor allem ist Deutschland, Südwestdeutschland...:zwinkern:

    Was wollt ihr? Die Geranien und das jodelnde Holz zeugen immerhin von kleinbürgerlichem Bemühen um ein schmuckes Erscheinungsbild. Ich könnte euch abertausende Ortsbilder vom mittleren Neckarraum bis zur Kölner Bucht vorführen, wo auch dieses unterbleibt, wo die Moderne pervertiert ist zu ausufernden Ensembles von Wohncontainern mit Satteldach, garniert von Baumarktschnickschnack und gezeichnet von der elenden Angst, nur ja nicht auch durch den leisesten Anflug von Extravaganz oder Gestaltungslust aufzufallen. Hier hat die ideologisierte Moderne ihren Offenbarungseid abgelegt, indem sie weiter nichts geleistet hat als dem deutschen Menschen noch den letzten Rest von Formbewusstsein auszutreiben. Hier hat sich die "allerletzte Sachlichkeit" festgefressen, die der englische Architektursatiriker Osbert Lancaster eigentlich nur in den Weltkriegs-Gefechtsständen auszumachen meinte. Von hier aus muss endlich auch in Deutschland die Einsicht reifen, dass die funktionalistisch-karge Moderne jeden Kredit verspielt hat!

    Zitat von "Dirk"

    Man kann nur darauf setzen, daß die Nachfrage nach traditioneller Architektur weiter wächst und einen Paradigmenwechsel herbeiführt.

    Mein Vorschlag, wie wir mit unserem Anliegen weiterkommen können, wäre der: Die von BDA, Feuilleton und anderen Menungsmachern verordnete Architektur der Askese möglichst ignorieren und alle Aufmerksamkeit auf die bis jetzt noch seltenen Gegenbeispiele einer am menschlichen Bedürfnis orientierten Bauweise richten. Auch wenn es nach Parteinahme und Werbung für bestimmte Architekturbüros riecht - das Anliegen ist einfach zu wichtig, als dass wir uns von Skrupeln bremsen lassen dürfen.

    Die Kalamität liegt doch darin, dass Otto Normal-Häuslebauer und jeder öffentliche Bauherr in dem Wahn gefangen sind, es gebe nur noch eine Architektursprache, die hierzulande anzuwenden sei, vor allem, da Architekten und Baufirmen etwas anderes gar nicht mehr können und einem Bauherrn etwaige Flausen garantiert mit Bestimmtheit ausreden werden. Nichts scheint mir wichtiger, als dieser Ignoranz und Geistesdumpfheit, die alle Bauschaffenden hierzulande umnebelt, Lichter aufzustecken und zu zeigen, dass es auf der ganzen Welt und sogar in Deutschland leuchtende Gegenbeispiele gibt.

    Wenn einem angehenden Bauherrn ein Licht aufgeht und er begreift, dass eine ganz andere, wahrhaft begeisternde Architektur auch heute noch realisierbar ist, dann wird er sich um einen Architekten bemühen, der so etwas kann. Darum ist es unsere Pflicht, solche Architekten aus ihrem Nischendasein herauszuholen und populär zu machen. Wer immer von uns vorbildliche Gebäude von ganz anderer Machart irgendwo entdeckt, sollte sie hier vorstellen. Ich denke dabei nicht nur an das Schaffen der prominenten Riege traditionell orientierter Büros wie Rob Krier, Hans Kollhoff, Marc Kocher, Hilmer und Sattler, Patzschke und Partner, Matthias Ocker oder York Stuhlemmer, auch den weniger bekannten Einzelkämpfern mit Namen Vogel, Herzog, Nöfer, Graetz, Tyrra usw. sollten wir auf den Fersen bleiben, um das Vorbildhafte ihres Schaffens bekannt zu machen und so eine Gegenfront zur allbeherrschenden Architektur des Mainstreams aufzubauen.

    Lasst uns also weniger lamentieren sondern etwas dazu beitragen, dass Deutschland auf dem Felde der Architektur in den Kreis der Kulturnationen zurückfindet.

    Natürlich hast du sehr, sehr recht, Ursus. Aber das sind Beanstandungen auf höchstem Niveau und sind innerhalb dieses herrlichen Bilderbogens eigentlich nur bei einem Protzbau angebracht. Aus südwestdeutscher Perspektive ist Bad Saarow ein Traum. Hier in den (schwäbischen) Niederungen unendlicher funktionalistischer Banalität wünscht man sich nichts so sehr als auch nur ein Quäntchen Kitsch, ein Quäntchen Hundertwasser, ein Quäntchen Formenverliebtheit. Erst da, wo das Formschaffen überhaupt als Aufgabe erkannt ist, ist der Kritiker aufgerufen, Maßstäbe geltend zu machen, wie sie in Deutschland wenigstens bis 1933, wenn nicht bis zum Zweiten Weltkrieg selbstverständlich waren und danach vor die Hunde gegangen sind. Das Kardinalproblem deutscher Gegenwartsarchitektur (sieht man mal von Bad Saarow ab) sind nicht die Formverirrungen sondern die flächendeckende Formlosigkeit - an der obendrein so gut wie niemand Anstoß nimmt.

    Zitat von "erbsenzaehler"

    Kann ein Stuttgarter/Schwabe/mit der Materie Vertrauter einmal berichten, inwiefern sich nun die Umsetzung dieser Leitlinien äußert? Was sind konkrete Ergebnisse des Rahmenplanes? Ist der Phönixbau an der Kö als ein Ergebnis zu sehen?

    Ansonsten fiel mir die außerordentliche Ereignislosigkeit hinsichtlich baulicher Aktivitäten in Stuttgart auf, als ich das letzte Mal im Februar dort war. Einige Bilder werden übrigens noch folgen.

    Die Leitlinien formulieren heere Zielsetzungen, denen sich kein Planer oder Architekt verschließen wird und die allen ein gutes Gewissen verschaffen: Seht welch großartigen Absichten unser Planen verpflichtet ist.

    In der gebauten Realität der Stadt Stuttgart und selbst in den aktuellen Planungen findet sich davon so gut wie nichts wieder, erst recht nicht unter den derzeitigen Einsparzwängen. Es ist nicht abzusehen, dass in den kommenden dreißig Jahren an den Stadtautobahnschneisen mit ihrer jämmerlichen Randbebauung nennenswerte Stadtreparatur stattfinden wird. Es ist nicht abzusehen, dass die Areale nordwestlich der Innenstadt (Stadtgarten/ Hegelplatz) für urbanes Stadterleben zurückgewonnen werden. Es ist nicht abzusehen, dass Unorte wie der "Boulevard" Theodor-Heuss-Straße oder das abstoßende Hospitalviertel auch nur in ersten Ansätzen eine Aufwertung erfahren würden.

    Dabei fehlte es nicht an Mahnern, die umfassende Alternativpläne zur Gesundung der Stadt vorgelegt haben: in den siebziger Jahren Rob Krier mit seinem Umbauplan der Innenstadt, heute Roland Ostertag mit radikalen Vorschlägen, die Verkehrswüstenei der Stadtautobahnen mit Innenstadtstrukturen aufzufüllen. Selbst im Stadtplanungsamt schien eine Zeit lang, wie ausgehängte Pläne vermuten ließen, der Geist der Kritischen Rekonstruktion nach Berliner Vorbild sich eingeschlichen zu haben. Aber der hat sich längst wieder davogemacht; denn es gibt in dieser Stadt kein Bewusstsein eines Defizits!

    Ja, bei den Bildern von Aedificium kann man nur stöhnen: Deutschlands ganzer Jammer fasst mich an!

    Merkwürdigerweise wird das Thema Entstuckung, obgleich es etwa in einer Stadt wie Berlin der Öffentlichkeit aufs krasseste in die Augen springt, in den Medien kaum thematisiert, als wäre es noch immer ein wenig peinlich, gar zu viel Sympathie für gründerzeitliches Bauen und die zugehörige Ornamentik zu zeigen.

    Als Einführung zu dem Thema ist festzuhalten: Entstuckung ist im Wesentlichen ein Problem derjenigen deutschen Städte, die mangels anstehendem Naturstein weitgehend mit Stuckfassaden erbaut wurden; die vielen Sandsteinstädte in Deutschland sind davon nur in Ausnahmefällen betroffen. Zu diesen Stuckfassadenstädten zählen im deutschen Sprachraum vor allen anderen die Millionenstädte Berlin, Hamburg und München, außerdem Wien, Städte eben, die (außer Wien) fern von Gebirgen liegen.

    Während Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg stadtviertelweise entstuckt wurde und auch Wien beträchtlichen Schaden davongetragen hat, fällt das Phänomen in München kaum ins Gewicht, und Hamburg wurde fast gänzlich von Entstuckungsmaßnahmen verschont. Diese Gegensätze wurden meines Wissens noch niemals untersucht. Mich würde sehr interessieren, welche gesellschaftlichen, aber auch sachlichen Hintergründe für diese unterschiedlichen Vorgehensweisen verantwortlich sind.

    Am schlimmsten wurde Berlin betroffen. Die Stadt hat sozusagen drei Zerstörungswellen durchgemacht: die erste durch die Bombenangriffe, die zweite durch die Ideologie der aufgelockerten und verkehrsgerechten Stadt und die dritte durch die Beseitigung der Fassadenornamentik. Dabei ist auch ein Qualitätskriterium zu beachten. Während heutige Modernisierungsmaßnahmen einige Bemühung zeigen, dem renovierten Gebäude eine anständige zeitgeistige Fassade zu verpassen, fehlte bei den großflächigen Entstuckungen im Berlin der fünfziger bis siebziger Jahre jeder architektonische Anspruch. Die Mietshäuser wurden eben nicht "modernisiert" sondern nur geglättet unter Auftragung primitiven Rauputzes, der bald darauf die schmutzige grau-beige Patina annahm, die für das Mauerzeit-Berlin charakteristisch war. Vor allem aber hatten die Häuser ihre Proportionen verloren, sie waren nun weder historisch noch modern sondern nur noch grausige Zeugen eines kolossalen Kulturzerfalls. Aber die Öffentlichkeit aus Bewohnern, Planern und Politikern nahm von diesem Zerfall kaum Notiz.

    Seit den achtziger Jahren hat sich vieles zum Besseren gewendet. Es gab praktisch keine Entstuckungen mehr, dafür zahlreiche Fälle, in denen bei Renovierungen denkmalpflegerisch exakt der verlorene Stuck wieder nachgebildet wurde. Viel häufiger sind freilich Renovierungsmaßnahmen, bei denen eine kostengünstigere Neustuckierung vorgenommen wurde; nicht selten kamen und kommen dabei qualitätvolle und z.T. sogar originelle Lösungen zustande, die mittlerweile einen ganzen Bildband füllen würden.

    Aber auch Primitiv-Lösungen sind in Berlin noch immer an der Tagesordung. Gar zu häufig wird lediglich der Rauputz durch Glattputz ersetzt und angestrichen, obschon man sich die technische Modernisierung einschließlich Dachgeschossausbau einiges kosten lässt. Dabei hätte der Senat in solchen Fällen ein vorzügliches Druckmittel in der Hand: er könnte die Genehmigung des Dachgeschossausbaus an die Bedingung knüpfen, dass den Belangen der Öffentlichkeit Rechnung getragen und die Fassade in ihrer historischen Erscheinungsform wiederhergestellt wird.

    Hier ist noch einiges an Bewusstseinsarbeit zu leisten!

    Von einer "verrotteten Gegenwartsgesellschaft" hat hier niemand gesprochen; so braucht sich auch niemand den Schaum von den Lippen zu wischen!

    Indessen - der Vorwurf an die "traditionelle Architektur" (ich weiß nicht recht, welche damit genau gemeint ist), sie hätte "schon lange vor den Modernen" ihren Kredit verspielt gehabt, klingt doch ein wenig nach der Verächtlichmachung des "Wilhelminismus", wie sie unsere Großeltern und Urgroßeltern noch betrieben haben, die sich über die Forderung erhaben fühlten, sich über die Architekturgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sachkundig zu machen. Gerade wenn man sich über diese Entwicklung "tiefgründigere Gedanken" macht, wird man den Großmeistern des Historismus von Gottfried Semper bis Ludwig Hoffmann seinen Respekt nicht versagen, auch nicht den zahllosen anonymen Baumeistern, welche die explodierende Bauaufgabe Großstadt mit solcher Hingabe anpackten, dass sich heute jeder glücklich schätzt, wenn er in einem von ihnen geschaffenen Gebäude und Stadtquartier wohnen darf!

    Zitat von "SchortschiBähr"

    @ heiji
    Mit neuer Architektur meine ich NEUE ARCHITEKTUR und nicht die veraltete Moderne. Ich betonte "Architektur, die sich ebenbürtig neben jene der vergangenen Epochen stellen kann"!

    Wie wahr, SchortschiBähr! Der Ruf nach Rekonstruktionen hätte bei weitem nicht diesen Stellenwert, weder bei Befürwortern noch bei Gegnern, wenn wir eine Architektur hätten, die die Jahrtausende alte Tradition qualitätvollen Bauens und die Sukzession der Architekturstile fortsetzen würde. Stattdessen hat sich die Baukunst, oder was von ihr übrig blieb, aus der Geschichte ausgeklinkt und beansprucht absolute und ewige Gültigkeit für eine technizistisch konzipierte Formidee, die vor genau hundert Jahren (mit Gropius' Faguswerken) in die Welt gesetzt wurde. Wenn dann denjenigen, die eine an die abgerissene Tradition anknüpfende wahrhaft neue Architektur fordern, von den führenden Meinungsmachern ein "rückwärtsgewandtes Geschichtsverständnis" vorgehalten wird, dann erklärt sich ein so grotesker und doch weithin von Beifall begleiteter Vorwurf und eine so verblasene Begrifflichkeit eben aus dem fortschreitenden geistlos-vertrottelten Zustand der (deutschen) Gegenwartsgesellschaft.

    Danke für die Bilder!

    Mit diesem Objekt hat sich Marc Kocher in die Spitzengruppe der Gegenwartsarchitekten eingereiht und weist der längst in der Sackgasse steckenden deutschen Bauwerkelei einen Ausweg in die Zukunft. Kocher vertritt eine traditionelle Architektur, die sich "moderner" und eleganter gibt als etwa die von Patzschke, eine Architektur, die, entwicklungsfähig und flexibel, unendlich vielfältigen Bauaufgaben gerecht wird und dabei dem Auge wie einst noch vor hundert Jahren die Lust am Hinschauen beschert, die die Neugier weckt, wie es wohl in den Wohnungen hinter den attraktiven Fassaden aussehen mag, die dem Geist die Befriedigung über wohlgesetzte Proportionen, elegant gegliederte Flächen und frische Farben vermittelt. Wie wohltuend auch die Wiedererkennungsmerkmale, die Markenzeichen der Kocherschen Bauten: wie einst die Dreiecksgiebel an den Neorenaissancefassaden so bestätigen hier die dichtgesetzten Balkonkonsolen und das Spiel teils kürzerer, teils durchlaufender Balkongitter, dass ansehnliche Details auch in endloser Wiederholung nicht ermüdend wirken sondern das Signum einer Metropole darstellen. Wie selbstverständlich erscheint das alles, und doch, wie lange mussten wir es in Deutschland entbehren!

    Ja, was soll man zu diesem "Siegerentwurf" sagen? Der Lateiner hätte sich so ausgedrückt. Ut desint vires ... Wenn auch die Kräfte fehlen, so ist doch der Wille zu loben! Der Entwurf, der ja vielleicht wirklich der angemessenste von allen vorliegenden sein mag, offenbart eben exemplarisch das Versagen der gängigen Moderne, wie sie jedenfalls in Deutschland den angehenden Architekten eingebimst wird. Wenn dann einer mal nicht die provokante Geste wählt, versackt er in Einfalt und Mediokrität.

    Ich weiß nicht, warum gerade das wundervoll erhaltene Heidelberg moderne Architekten dazu verleitet, sich ohne jeden Anflug von Scham in ihrer ganzen Erbärmlichkeit zur Schau zu stellen. Die Kurfürstenanlage vom Seegarten bis zum Hauptbahnhof ist eine einzige architektonische und städtebauliche Katastrophe, ein halbes Jahrhundert lang mit immer neuen Zutaten hingerotzt als abschreckendes Eingangstor der Stadt, das dem Besucher Ankunft wie Abschied so recht vergällt. Aber - dies als Trostwort zum Neuen Jahr - wo das Abschreckende wächst, da keimt auch das Rettende; je schlimmer es die Investoren und ihre architektonischen Handlanger treiben, desto vernehmlicher der Drang in der Bevölkerung nach dem Wandel. Immerhin stehen mittlerweile auch in Deutschland Architekten bereit, die solchen Aufgaben wie der Heidelberger Stadthalle gewachsen wären. Vielleicht sollten wir mithelfen, deren Popularität zu fördern.

    Aus langjähriger leidvoller Erfahrung muss ich Zeno sehr, sehr recht geben:

    Schwaben, wie ich es kenne und ertragen gelernt habe (Großraum Stuttgart und Schwäbische Alb) präsentiert einem auf Schritt und Tritt das Markenzeichen dieser Region, die Tendenz zur Verwahrlosung, in materieller wie ästhetischer Hinsicht. In materieller Hinsicht, insofern nirgendwo in Deutschland so durchgängig heruntergekommene Bauten das Stadtbild dominieren (ein Hausbesitzer, vermögender Stuttgarter Rechtsanwalt, vertraute mir einmal an, die schäbige Außengestalt seines Hauses sei ihm ganz recht; potenzielle Einbrecher bekämen so den Eindruck, es gäbe da nichts zu holen. Der Gedanke der Verantwortung des Hauseigentümers gegenüber der Allgemeinheit, das Bedürfnis der Repräsentanz gegenüber der Öffentlichkeit ist dem Schwaben dieser Region im allgemeinen fremd!).

    Verwahrlosung in ästhetischer Hinsicht, was Architektur und Städtebau betrifft, ist ebenso allgegenwärtiger Eindruck. Von bewahrten Fachwerkhäusern abgesehen, sind so gut wie alle Städte und Dörfer von primitiven Neubauten entstellt, bei deren Errichtung nur der ökonomische Aspekt zählte. Bauten früherer Epochen (etwa der zwanziger Jahre) haben fast durchgängig durch Renovierungen ohne Verständnis und Geschmack ihre Seele verloren. Das städtebauliche Reglement stellt ein so grobschlächtiges Raster dar, dass sich überall Chaos und Gesichtslosigkeit breitmachen konnten. Die schwäbischen Dörfer und Siedlungsteppiche leiden darüberhinaus an der sattsam bekannten Häuslebauer-Mentalität: Auf kleinen Grundstücken, dicht an dicht, reihen sich spießige Häuschen, deren Trostlosigkeit weder durch Gärten, die diese Bezeichnung verdienen, noch durch Bäume (die machen ja nur Dreck!) gemildert werden. Überall nur "Kruuscht"!

    Es mag reichlich undifferenziert erscheinen, was ich da geschrieben habe, aber in unserem dumpf-verzagten Gegenwartsdeutschland ist es dringend geboten, dann und wann sehr deutlich zu werden. Ich habe es satt, mich fortwährend tagaus tagein innerlich gegen die allgegenwärtigen Zumutungen gebauter Primitivität wappnen zu müssen. Und wenn es schon ums Differenzieren geht: die Eindrücke werden in der Tat anders, wenn ich aus besagter Region nach Oberschwaben, nach Bayrisch Schwaben, nach Franken oder Baden überwechsle. Beispielsweise kann ich jedem Leidensgenossen und jedem, der seinen Blick für die gebaute Umwelt schulen will, empfehlen, einmal aus dem schwäbischen Backnang ins fränkische Schwäbisch Hall überzuwechseln. Der Vergleich der beiden Städte wirft Fragen auf, denen unser Alltagsverstand kaum gewachsen ist.

    Ja, Wiedergewinnung des historischen Marienviertels - wer von uns sollte sich dafür nicht begeistern! Und doch kann man die Skepsis großer Teile der Bevölkerung wie der Fachleute und Politiker gegenüber solchen Ideen nachvollziehen. Denn

    1. war das Marienviertel keine "Altstadt" mit attraktiven, rekonstruktionswürdigen Ensembles, sondern eher ein ärmliches, belangloses, aber immerhin in Jahrhunderten gewachsenes Zufallsgebilde. Gebäuderekonstruktionen größeren Umfangs wären kaum auzustreben und schon gar nicht durchsetzbar.

    2. Auch der Grundriss des Marienviertels war nicht Ausdruck einer (etwa auf das Schloss bezogenen) stadtplanerischen Genialität sondern eher Wildwuchs. Soll man ihn rekonstruieren, nur weil er einst so bestanden hat? Ist es nicht das vornehmste Ziel aller Stadtentwicklungsplanung, unzulängliche Strukturen durch bessere zu ersetzen, das geschichtlich gegebene nicht zu zementieren sondern durch neue Geschichtsakte weiterzuführen? (wie etwa im Haussmannschen Paris geschehen!)

    3. Die Vorstellung, dass entlang wiederhergestellter städtebaulich belangloser Straßenzüge ganze Kolonnen banal-modernistischer Kisten aufgereiht werden, lässt mich erschaudern. Aber das ist ja im Grunde die Stimmannsche Vision. Nur mit einem großen Anteil historisierender Bauten könnte eine solche wiederaufgerichtete "Altstadt" Charakter und das ganze Unternehmen Sinn gewinnen. Am ehesten noch könnte eine kleinteilige Parzellierung wie am Friedrichswerder - ohne modernistische Vorgaben! - eine altstadtgemäße Buntheit entstehen lassen.

    4. Da bei einem solchen Unterfangen in heutigen künstlerisch schwachbrüstigen Zeiten kaum ein überzeugendes Resultat zu erwarten ist, plädiere ich eher für die Flucht nach vorn. Warum nicht, wie vorgeschlagen, in der Berliner Innenstadt eine Art "Binnenalster" anlegen. Statt kleinkrämerischer Versuche, einiges von der abgeräumten ehemaligen Stadt aufs neue hinzubasteln, ein visionärer Ausgriff in die Weite, auf eine glitzernde Wasserfläche mit Mövergeschrei! So wäre selbst die einstige DDR-Hauptstadtplanung zu ihrer späten Erfüllung gekommen und ein Schritt der Versöhnung zu denen hin getan, die nicht alles aus jener Epoche zunichtegemacht sehen wollen.

    Ja Dirk, wie gerne möchte ich Dir recht geben! Am Stuttgarter Hauptbahnhof entzündet sich z.Zt. ein traditionsbezogenes Architekturbewusstsein, von dem man sich innigst wünscht, dass es weiter um sich greift und sich die ungeheuren Verluste vor Augen führt, die ein geistloser Modernitätswahn durch Jahrzehnte hindurch zu verantworten hatte. Ich nenne nur einige Stichpunkte:

    Der obere Schlossgarten, eine Parkanlage von einmaliger Noblesse im Herzen der Stadt, die in den Sechzigern für eine Gartenschau abgeräumt und durch einen provinziellen Stadtgarten ersetzt wurde. Man stelle sich vor, Paris wäre so mit den Tuileriengärten umgesprungen!

    Schloss und Park der Villa Berg, einst ein Stück Italien in Stuttgart, längst der materiellen und ästhetischen Verwahrlosung anheimgegeben!

    Das kleine Haus der Staatstheater, ein Spitzenwerk der Theaterarchitektur nach Plänen von Max Littmann. Es wurde beim Wiederaufbau ersetzt durch einen Neubau, dessen Banalität und Ausdruckslosigkeit alles noch übertreffen, was sich andere deutsche Städte an einschlägigem Murks geleistet haben.

    Eine Reihe einst identitätsstiftender Baudenkmäler sind mittlerweile fast ganz aus dem kollektiven Gedächtnis dieser Stadt getilgt, zumal noch immer kein Stadtmuseum besteht, das die Erinnerung wachhalten könnte. Ich nenne das Alte Steinhaus, die Keimzelle der Stadt, die Akademie, das Ständehaus, die Landesbibliothek, die Akademie der Schönen Künste, das Gebäude des Großen Bazars. Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen.

    Aber Dirk, bei anderer Gelegenheit sollte ich doch mal einen Hymnus singen auf die Stuttgarter Orte, an denen der Genius dieser Stadt noch erfahrbar ist. Es sind gar nicht so wenige, an denen weder Krieg noch Wiederaufbauzeit zugeschlagen haben, Orte von einzigartiger Ausstrahlung, gesteigert noch durch die Reize der Stuttgarter Topographie. Ich könnte sogar einen Rundgang durch die inspirierendsten Quartiere des alten Stuttgart empfehlen!

    Zitat von "AntinomyX"

    Wie meinem Zitaten zu entnehmen ist, ist die Mehrzahl der Bürger mit dem Zustand zufrieden, denn sie setzten ihre Prioritäten woanders. War schon immer mein Eindruck. Den Leuten geht Architektur einfach am A**** vorbei, auf gut deutsch gesagt.

    Ja, AntinomiX, man kann es nicht drastisch genug benennen. Gilt aber hauptsächlich für Deutschland und für Schwaben ganz besonders! Im Ausland ist das anders. Bei meinen Streifzügen durch schwäbische Städte und Dörfer bestätigte sich mir immer neu das geheime Lebensmotto dieses Volksstamms: "Architektur - ha, des bräuche ma ned !"

    Rekonstruktionen vollends sind der Vorstellungswelt des Schwaben so fremd wie sonst irgendwas im Bereich des Bauens. Vor ca. zwanzig Jahren erlebte ich eine Diskussionsveranstaltung über den Stuttgarter Städtebau. Ein Teilnehmer brachte zaghaft den Vorschlag vor, am Kleinen Schlossplatz das in den Sechziger Jahren dem Verkehr geopferte Kronprinzenpalais wiederaufzubauen (da wo dann später das Kunstmuseum als Glaswürfel errichtet wurde). Der Vorschlag fand auch nicht die geringste Resonanz, und der damalige Baubürgermeister Bruckmann höhnte nur: "Ha, ma kann doch heid ned mehr so baue wie vor zweihonderd Johr!"

    Trotz einiger respektabler Reichsstädte von einst hat sich im nördlichen Schwaben (im Großraum Stuttgart und auf der Alb) kaum eine maßstabsetzende und geschmackbildende Bevölkerungsschicht herausgebildet. Weder hat ein selbstbewusstes Stadtbürgertum noch eine wohlhabende Bauernschaft Ausdrucksmittel architektonischer Repräsentanz entwickelt; kleinbäuerliche Ärmlichkeit konnte sich durch Jahrhunderte kaum mehr als das schlichte Dach überm Kopf sichern und steht heute in prosperierenden Zeiten etwas ratlos vor dem überquellenden Angebot der Baumärkte. Da werden die Normen der rationalistischen Moderne sogar als willkommene Wegweisung erfahren, um sich nicht vollends in der Ödnis der schieren Funktionalität zu verlieren.