Ich würde euch gerne das schöne Darmstädter Martinsviertel näher vorstellen. Abgesehen davon, dass ich hier einst für ein paar Jahre gewohnt habe, finde ich die Geschichte und das beinahe erfolgte Schicksal des Flächenabrisses in den 1970er Jahren, die Wiederentdeckung der Vorzüge seiner Altbausubstanz und des erfolgten Aufstiegs zu einem der beliebtesten Wohnviertel der Stadt, sehr interessant.

Lage des Viertels in Darmstadt
Quelle: https://www.darmstadt.de/standort/stadt…/martinsviertel
Das Viertel ist in seinen wesentlichen Teilen gründerzeitlich geprägt, entstand aber über einen langen Zeitraum. Seit Ende des 16. Jahrhunderts entwickelte sich nördlich der Altstadt die „Alte Vorstadt“, von einer erweiterten Stadtmauer umgeben. Die für die wachsende Zahl der wohlsituierten Hofbeamten errichteten Schweifgiebelhäuser im Barockstil in der Alexander- und Magdalenenstraße sind weitgehend erhalten, aber erheblich restauriert und zum Teil auch nach dem letzten Krieg im alten Stil erst wieder aufgebaut worden. Sie zeigen trotz mancher Veränderungen ein recht einheitliches Bild historischer Stadtgestalt.
Nördlich an die alte Vorstadt anschließend entwickelte sich im 18. Jahrhundert, erstmals außerhalb der Stadtmauer, die kleinbäuerlich geprägte, kleinteilige Pankratiusvorstadt. Es siedelten sich Landwirte aus der Altstadt, einzelne Handwerker und Veteranen aus den Garnisonen der Stadt an. Im Volksmund entstand der bis heute bei alteingesessenen Darmstädtern verwendete Name „Watzeviertel", da sich hier der Faselstall mit dem städtischen Eber, dem „Watz“, befand. Mit der weiteren Ausdehnung nach Osten in die Lauteschläger- und Heinheimer Straße sowie nach Norden zur Arheilger Straße, zog dann auch in die Stadt drängende, verarmte Landbevölkerung zu. Dieser Bereich des Martinsviertels zeichnet sich durch schmale, unregelmäßig geführte Straßen mit einer heute recht heterogenen Bebauung aus, in der aber an vielen Stellen Reste der ursprünglichen Bebauung noch gut erkennbar sind.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte mit der beginnenden Industrialisierung ein rasantes Bevölkerungswachstum ein, das schließlich zu einem spekulativ angeheizten Bauboom im Viertel führte. Zwischen 1880 und 1910 hat sich die Zahl der Haushalte von 1630 auf 5200 um mehr als das Dreifache erhöht. Zuerst entstanden noch zwei- bis dreigeschossige Wohnhäuser, insbesondere im Bereich der 1885 eingeweihten Martinskirche. In den 1890er Jahren wurde dann fast die gesamte Fläche zwischen der Dieburger- und Frankfurter Straße mit Miethäusern bebaut. Wie in vielen gründerzeitlichen Stadtvierteln, entstand ein recht einheitliches Stadtbild, Straßenzüge teils mit, teils ohne Vorgärten, gesäumt von viergeschossigen Wohnbauten, oft mit historisierendem Dekor geschmückt.
Dabei kam es zu beträchtlichen Terrain- und Bauspekulationen, die Bodenpreise stiegen von 1–3 Goldmark (1870) auf bis zu 50 Goldmark (1905). Nachdem der Zuzug abebbte, fielen die Preise jedoch wieder auf ca. 25 Goldmark. Durch die Spekulationen und den Preisverfall erhielt das Gebiet um den heutigen Friedrich-Ebert-Platz auch den Beinamen Hypothekenfriedhof.
Im Zusammenhang mit dem 1912 fertiggestellten Darmstädter Hauptbahnhof, wurde die auf einem Damm direkt nördlich des heutigen Rhönrings verlaufende Odenwaldbahn nach Norden verlegt. Auf den freigelegten Flächen konnte in den 1920er Jahren sozialer Wohnungsbau von der Stadt errichtet werden. Es entstand eine insgesamt 1,5 km langgestreckte, einheitlich gestaltete Baugruppe, die einen klaren städtebaulichen Abschluss des Martinsviertels nach Norden bildet.


Sozialer Wohnungsbau am Rhönring aus den 1920er Jahren
Quelle: https://vorhang-auf.com/darmstadts-gro…baeudeensemble/
Innerhalb des Viertels waren einzelne Flächen unbebaut geblieben, auch dort wurde bis in die frühen 1930er Jahre sozialer Wohnungsbau errichtet, nun in vom Bauhaus beeinflusster Formensprache. Zwischen Martinsviertel und Innenstadt liegt die Technische Universität. Ihre Hauptgebäude wurden an der 1891 gebauten Hochschulstraße errichtet, der ersten direkten Verkehrsanbindung des Viertels an die Innenstadt.
Das Martinsviertel wurde zwar auch im Zweiten Weltkrieg, insbesondere während der Darmstädter Brandnacht am 11. September 1944, beschädigt. Zerstört wurden unter anderem die Martins- und Elisabeth-Kirche. Allerdings blieb, im Gegensatz zur zentralen Innenstadt, ein Großteil der historischen Bausubstanz erhalten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg dehnte sich die Hochschule in der Innenstadt insbesondere auf dem Gebiet der vollständig zerstörten Altstadt, jedoch auch in das Martinsviertel aus. Am Kantplatz entstanden recht gewaltige Institutsbauten, die den Maßstab des kleinteiligen Viertels deutlich sprengen. Das Martinsviertel blieb weitgehend Wohnort der sozial schwachen Bevölkerung und der unteren Mittelschicht. Es gab allerdings ein deutliches Gefälle zwischen dem Ostteil, der eher von der Mittelschicht geprägt war und dem Westteil, mit dem alten zentralen Bereich um die Pankratius- und Arheilger Straße, in dem untere soziale Gruppen ansässig waren.
In den 1960er Jahren galt das Martinsviertel zunehmend als unattraktiv. Das Statistische Amt der Stadt Darmstadt hatte im Juni 1969 eine Untersuchung vorgelegt, die mit zahlreichen Daten zur veralteten Bausubstanz, zur schlechten sanitären Ausstattung der Wohnungen und zur überalterten Bevölkerungsstruktur belegte, wie erneuerungsbedürftig das Martinsviertel geworden war. Die Ausstattung der Wohnungen entsprach meist nicht einmal dem Standard des sozialen Wohnungsbaus. Die Toiletten befanden sich in der Regel im Treppenhaus, es gab kaum eigene Bäder, Warmwasser aus der Leitung war keine Selbstverständlichkeit. Geheizt wurde überwiegend mit Kohle- oder Öleinzelöfen. Lärmbelästigung durch Betriebe im Gebiet, Verkehrsbelastungen, zugebaute Innenhöfe und fehlende soziale Infrastruktureinrichtungen kennzeichneten weite Bereiche des Quartiers. Zudem hatte das Viertel mit starkem Einwohnerverlust zu kämpfen, lebten hier 1961 noch 18.000 Einwohner, waren es 20 Jahre später noch 14.800 und wiederum 20 Jahre später lediglich 10.100.
Ausgehend von einem von der Stadt Darmstadt 1960 beschlossenen Flächennutzungsplan, wurde der Bau einer Hauptverkehrsstraße – der sogenannten Osttangente - quer durch das Martinsviertel geplant. Das städtebauliche Leitbild der Nachkriegszeit, die gegliederte und aufgelockerte Stadt, war in den Köpfen der Planer so fest verankert, dass daran gedacht war, das intakte und vom Krieg weitgehend verschonte Stadtviertel an die Leitvorstellung anzupassen. Das Nebeneinander von Wohnen und Gewerbe, sollte so weit wie möglich beseitigt werden. Zudem sollten Straßenräume aufgebrochen werden, um Licht, Luft und Sonne in das Wohnviertel zu bringen. Das gründerzeitliche Johannesviertel war von diesen Plänen nicht betroffen.
Schon in dem zur Zeit von Oberbaudirektor Grund erarbeiteten Verkehrsplan von 1948 ist als zusammenhängender Straßenzug eine Tangente östlich vom Stadtkern geplant, die von der Nieder-Ramstädter-Straße über die Teichhausstraße in die Heinheimer Straße und dann weiter nach Norden führt. Im neuen Straßenzug der östlichen Stadtkerntangente sollte die dichtbesiedelte und beiderseits überwiegend viergeschossig bebaute Heinheimer Straße durch einen neuen, weiter westlich im Bogen durch das Neuordnungsgebiet zu führenden Straßenzug ersetzt werden, der zugleich das Gebiet der Technischen Hochschule berührt und diese damit besser an das Hauptverkehrsnetz anschließt. Die Planung erinnert in Teilen an Neubaugebiete, wie sie in den 1960er und 1970er Jahren am Stadtrand entstanden.

Der Bebauungsplanentwurf N5, 1969
Quelle: https://palatia.unitas.org/das-martinsvie…nt-die-palatia/
Prägnant schwingt die Osttangente auf den Entwürfen durch das Viertel, vierspurig mit begrüntem Mittelstreifen, anbaufrei und ohne die in Grünflächen geführten begleitenden Gehwege 19,5 bis 22 Meter breit. Nur eine einzige Kreuzung im Zuge einer Querachse, die mitten durch Bebauung von der Pallaswiesen- zur Wenckstraße führt, verbindet mit dem Straßennetz des Viertels. Zahlreiche Straßen enden an der Osttangente in Wendehämmern, so auch die Heinheimer Straße im Norden und im Süden. Andere Straßen, wie zum Beispiel die Kranichsteiner Straße, die Müller- und Eckhartstraße sowie Teile der Schuhknecht-und Liebfrauenstraße sind als öffentliche Grünflächen mit Fußwegen ausgewiesen. Der markanteste Teil der neuen Bebauung sind fünf achtgeschossige Punkthäuser, die umgeben von Grünflächen die Stadtschnellstraße auf der Ostseite säumen. Auf der Westseite sind von der Dieburger- bis fast zur Gardistenstraße alle Flächen für die Erweiterung der Technischen Hochschule vorgesehen. Nördlich anschließend wurden dann Bauflächen für ortsgebundenes Kleingewerbe ausgewiesen. Nur wenige der gründerzeitlichen Baublöcke sind im Plan vollständig erhalten, bisweilen ganze Häuserzeilen beseitigt und teilweise durch senkrecht zur Straße stehende, viergeschossige Neubauten ersetzt; so wurden die Baublöcke für Licht, Luft und Sonne geöffnet. An einigen Stellen müssen in den Planungen ganze Häuserzeilen zweigeschossigen Gemeinschaftsgaragen und Pkw-Stellplätzen weichen.
Der Entwurf des Bebauungsplanes fand bei den betroffenen Bürgern des Martinsviertels wenig Gefallen. Zahlreiche Punkte der vorgestellten Sanierungsplanung wurden von den Bürgern kritisiert, bspw. die Gebäudeansprüche der Technischen Hochschule, die zahlreichen Abbrüche von Wohnbauten und Geschäftshäusern mit unabsehbaren Folgen für die Gewerbetreibenden sowie die erwartbaren deutlich höheren Mieten für die Neubauten an Stelle der Altbauwohnungen.
Im Laufe der Jahre wurden die Planungen immer wieder überarbeitet, so sollten nach langen Diskussionen nur Gebäude in schlechtem Zustand abgebrochen und fast keine Bewohner durch die Sanierung verdrängt werden. Manche Entwürfe sahen eine Straßenbahntrasse vor, in anderen wurde die Osttangente in zwei Einbahnstraßen aufgeteilt, in Nordrichtung durch die Heinheimer Straße und in Südrichtung im Zuge der Pankratiusstraße und weiter mit Durchbruch zur Dieburger-/Pützerstrasse. Des Weiteren wurde der Straßendurchbruch von 30 m auf nur noch 13 m Breite verringert, sowie als grüne Allee ("Grüne Achse der Vernunft") beworben.
Schon seit längerer Zeit hatte sich bei anderen Vorhaben und Zielen der Sanierung ein deutlicher Wandel abgezeichnet. Die Stadtplaner sahen die so genannte „Flächensanierung“, also den Abriss alter Häuser und die Neuordnung ganzer Straßenblöcke, nicht mehr als Lösung an. Vielmehr hatte während der 1970er Jahre ein Umdenken stattgefunden. Historische Bausubstanz galt nunmehr als erhaltenswert. Das neue Leitbild der Sanierung hieß „erhaltende Erneuerung“ statt „Kahlschlag“.
Endgültig praktisch verhindert wurden die Planungen nach der Kommunalwahl 1981. Die neue Koalition sorgte für eine neue Wohnbebauung an der Ecke Dieburger-/Heinheimer Straße. Damit war die für den Bau der Osttangente solange freigehaltene Fläche zugebaut und der Straßendurchbruch durch das Viertel nicht mehr möglich. Der lange und teils bitter geführte Kampf um die neue Straße war zu Ende.
Im gleichen Jahr wurde ein neues Verkehrskonzept in den Rahmenplan aufgenommen, das Vorschläge zur Verkehrsberuhigung von Wohnstraßen und zur Schaffung zusätzlicher Parkplätze enthielt. Für die Erneuerung des Martinsviertels wurden „vier Säulen der Sanierung“ formuliert, die in den letzten 40 Jahren umgesetzt wurden:
1. Modernisierung der Häuser
2. Neugestaltung von Straßen und Plätzen
3. Schaffung von gemeinsamen Innenhöfen
4. Ausbau der Sozialen Infrastruktur
Zusätzlich wurde darauf geachtet, die Nahversorgung im Viertel zu sichern, indem für neue Lebensmittelgeschäfte Genehmigungen erteilt und dafür Sorge getragen wurde, bestehende Standorte zu erhalten.
Bei der Sanierung der vielen Altbauten im Martinsviertel sahen sich die Planer vor eine schwierige Aufgabe gestellt: Sie sollten die zum Teil maroden und einfachst ausgestatteten Häuser auf einen modernen und zeitgemäßen Standard bringen. Gleichzeitig durften die Mieten aber nicht wesentlich steigen, um zu verhindern, dass die angestammte Wohnbevölkerung aus dem Viertel verdrängt werden würde. In dieser Situation sollte es sich jetzt ironischerweise als Vorteil erweisen, dass die Stadt als Vorbereitung auf den Bau der Osttangente selbst Häuser rund um die geplante Trasse aufgekauft hatte. In diesen Fällen konnte man nun auf Mittel aus der Städtebauförderung zurückgreifen.
Dass das Martinsviertel heute als lebendiges Innenstadtquartier gilt, hat viel mit seinen Plätzen zu tun. Im Zuge der Sanierung sind die ungeordneten, oftmals als reine Parkfläche genutzten Plätze des Viertels zu attraktiven Freiflächen für vielfältiges öffentliches Leben umgewandelt worden. In den Innenräumen vieler Baublöcke entstanden neue Grünflächen mit Kinderspielplätzen. An einzelnen Stellen wurde das Parkplatzdefizit abgebaut. Die Ausdehnung der Technischen Universität in das Martinsviertel konnte verhindert werden und weitere übermäßig dichte und hohe Bebauung wurde vermieden. Den Autoverkehr in den Straßen zu beruhigen war jedoch nur in recht bescheidenem Umfang möglich. Der Wohnwert des Viertels, seine Attraktivität hat aber deutlich zugenommen. Eine große Zahl von Kneipen aller Art, Freizeit- und Begegnungsstätten von Vereinen mit ihren Einrichtungen und die gute Ausstattung mit Infrastruktur für Menschen jeden Alters, sorgen für einen lebendigen Stadtteil, der trotz vieler Veränderungen einen guten Teil seines alten Flairs erhalten hat.
Ein paar Eindrücke (alle Bilder sind von mir aus dem Jahr 2007)
Jugendstil am Rhönring

Friedrich-Ebert-Platz

Beispiele für zwei- bis dreigeschossige Wohnhäuser




Bebauung am Riegerplatz...

...am Lichtenbergplatz...

...in der Lichtenbergstraße...

...in der Taunusstraße...

...und in der Kittlerstraße

Quellen:
Sanierung Martinsviertel – Chronik einer Erneuerung
40 Jahre Martinsviertel - Die Geschichte der Sanierung eines Stadtteils
Darmstadts größtes Gebäudeensemble – VORHANG AUF
Das Martinsviertel – Hier wohnt die Palatia | W.K.St.V. Unitas Palatia Darmstadt