Die Pendelbewegung als Reaktion auf eine vorangegangene Epoche und Generation, von der Seinsheim schreibt, kann man durchaus für den Bereich der Kunstgeschichte konstatieren, etwa wenn auf die ostentative Geste des Barock der Rückzug ins Intime des Rokoko folgt, dessen kraus die Wände überwuchernde Ornamentik wiederum vom nüchternen Klassizismus abgelöst wird, dessen „dürre Armseligkeit“ (Georg Hirth) seinerseits in die Pracht des Historismus mündet.
Allerdings wurde der Historismus von einem in seiner Ornamentik noch exzessiveren Stil abgelöst, nämlich dem Jugendstil, bevor das Pendel weiter ausschlug und sich tatsächlich die Abkehr vom Ornament durchzusetzen begann (wir alle kennen die Kritik eines Adolf Loos, die just in jenen Jahren vom Übergang des Historismus zum Jugendstil formuliert wurde und nicht erst in den Jahren nach dem 1. Weltkrieg, als man quasi „reinen Tisch“ machen wollte, wie Seinsheim formuliert).
Freilich gab es schon bedeutend früher kritische Stimmen, die jeweils aus ganz unterschiedlichen Gründen mit dem Historismus haderten: da waren gewisse Intellektuellen- und Künstlerzirkel, die die „Nachäffung“ vergangener Stile als unproduktiv und unkünstlerisch empfanden, Theoretiker und Praktiker (etwa William Morris) kritisierten den Niedergang des Kunsthandwerks durch die Industrialisierung – und der Historismus ist ja der erste Stil und die erste Epoche, in der breitesten Massen eine kultiviert erscheinende Häuslichkeit finanziell möglich wurde, auch um den Preis, daß viele der Produkte von ungenügender Qualität waren, weil das Design nicht den maschinellen Fertigungsmethoden angepaßt war, die eben ein ornamental reduziertes Design erfordert hätten.
Daß der Historismus als Projektionsfläche für die jeweiligen Feindbilder herhalten muß (es wurden hierfür ja schon zahlreiche Beispiele aufgeführt) zeigt sich etwa auch darin, daß der oben schon genannte Georg Hirth in seiner Publikation „Das Deutsche Zimmer“ die deutsche Renaissance nicht nur als nationalen, sondern auch als „gesunden“ Stil zur Nachahmung empfahl , während man wenig später bereits (und dieses Urteil findet sich auch in der Ablehnung bei den Nazis wieder) die ganze Epoche als schwach, angekränkelt und überspannt empfand und zur Therapie auf Onkel Sigmunds Sopha empfahl.
Pagentorns exzellentes Wort vom „Rückschnitt“ paßt an dieser Stelle gut, denn das ganze späte 19. Jh. wurde oft genug von den Zeitgenossen wie in der Nachschau durch die Treibhausmetapher charakterisiert und der bevorstehende, tatsächlich von vielen sogar herbeigesehnte Krieg sollte quasi als „reinigendes Gewitter“ wirken.
Doch der Rückschnitt begann schon früher, und ein wichtiger Impuls hierzu geschah durch eine von vielen sicher nicht vermutete Schicht.
Stile sind immer auch Moden, und Moden gingen durch die Zeitläufte hindurch fast immer von den kulturellen und wirtschaftlichen Eliten aus (der Hof, die Kirche, das Großbürgertum), erst im 20. Jh. hat sich das bis zu einem gewissen Maße verkehrt.Ich denke, daß das Ornament seinen Todesstoß empfing, als diese Eliten mitansehen mußten, wie jahrhundertelang ihnen vorbehaltene architektonische Würdeformen und Dekore aufgrund billigster Fertigungsmethoden im Zuge der Industrialisierung an Arbeitermietskasernen und deren Einrichtungsgegenständen auftauchten und quasi vulgarisiert wurden.
Das Wort „Dekor“ hat seinen Ursprung im Lateinischen und meint das Schickliche, Angemessene, das sich Ziemende. Zahllose Architekturtheoretiker haben sich über die Jahrhunderte dazu geäußert, welche Dekore für welchen Stand angemessen sind (ein ähnliches Phänomen sind die Kleiderordnungen, die in manchen Gegenden noch bis ins 18. Jh. aufrechterhalten wurden), wie Raumfolgen zu gestalten sind, durch die man hindurchzuschreiten hat, bis man endlich vor dem Würdenträger steht.
Und plötzlich war es möglich, diese Dekore und Würdeformen der Architektur wie des Interieurs dem Kleinbürger und Arbeiter zur Verfügung zu stellen, wenn auch nur in Ersatzmaterialien wie Fassadenstuck, Zinkspritzguß und Guttapercha-„Schnitzereien“.
Darauf folgte die Hinwendung der Eliten zu einem noch exklusiveren Stil, dem Jugendstil, dessen bedeutendste Förderer Großindustrielle (wie Wärndorfer in Wien), Großherzöge (Hessen-Darmstadt) und Grafen (Harry Graf Kessler) waren. Allzubald hatte sich die Industrie freilich auch dessen Ornamenten bemächtigt und verbreitete diese an die Massen.
Wer sich nun von diesen abgrenzen wollte, konnte dies eigentlich nur in einem weitgehenden Verzicht auf das Ornament tun - und stellte zu seiner Freude fest, daß ihm der nach (vermeintlich) Höherem strebende Kleinbürger und Arbeiter dorthin erstmal nicht folgen mochte, sondern weiterhin den gemütlichen Stil-Ohrensessel neben dem Gummibaum besitzen wollte.
Die negative Einschätzung des Historismus, die letztlich in den größeren Zusammenhang der Ablehnung des Ornaments gesetzt werden muß, speist sich also, wie hier in den diversen Beiträgen deutlich wurde, aus sehr unterschiedlichen Quellen.
Es gibt vermutlich jedoch auch einen ganz pragmatischen Grund, und dieser mag noch vor den ideologischen wie ästhetischen oder pekuniären Motiven dazu geführt haben, daß wir keine Rückkehr des Ornaments mehr erlebt haben: es gibt kein Personal mehr, daß die Samtportieren ausklopfen und die gedrechselten Möbel und den Nippes abstauben würde, und die Emanzipation und Berufstätigkeit der Frau führte dazu, daß der Haushalt, der so lange ihre auferlegte Pflicht war, heutzutage möglichst rasch erledigt sein will; da sind glatte Flächen und „buddhistisch“-karge Räume ein Vorteil.
Was immer man dem Historismus auch vorwerfen mag – man sollte nie vergessen, daß genau in dieser Epoche erst die „moderne“ Stadt mit ihrer ganzen, im 20. Jh. kaum erweiterten Palette an Infrastruktur kreiert wurde, die das Modell Stadt zukunftsfähig gemacht hat.