Die Angst der Architekten vor der Rekonstruktion
Von Gerwin Zohlen 26. November 2008, 01:42 Uhr
Seit Jahrzehnten werden bedeutende Bauwerke wiederhergestellt. Warum tut sich die Zunft so schwer damit?
Zweifelsfrei ist die Gestaltung des Berliner Zentrums allerlei Erregung wert - selbst der Berliner Verleger Klaus Wagenbach, nationalistischer Gesinnung wahrlich nicht verdächtig, bezeichnet den Berliner Schlossplatz als "nationalen Gedächtnisort schlechthin". Doch überrascht die Heftigkeit, mit der die Debatte bis heute, kurz vor der Entscheidung im Realisierungswettbewerb am kommenden Freitag, geführt wird. Mit persönlichen Verunglimpfungen und Diskriminierungen scheint sie alle deutschen Untugenden eines Lagerkampfes wieder hochzuspülen, die man überwunden glaubte. Sie berührt weit mehr als Fachfragen zu einem einzelnen Gebäude, wie es die Denkmalpflege gern sehen will. Es ist längst eine Debatte über die Haltung zur zeitgenössischen Architektur generell.
Das Votum weiter Teile der Bevölkerung scheint eindeutig. Sie stürmt nicht nur alljährlich zu Millionen die Museen und Tage des offenen Denkmals, sondern engagiert sich auch immer häufiger bei Planungs- und Gestaltungsfragen ihrer Städte und Gemeinden. So schlitterte die erste Veranstaltung der von der Bundesregierung ins Leben gerufenen Stiftung Baukultur in Potsdam knapp an einem Eklat vorbei. Inhaltlich ging es bei der Tagung "Die Mitte verhandeln" um die politisch bereits beschlossene und durch eine Spende des Unternehmers Hasso Plattner auch gesicherte Wiedererrichtung des Potsdamer Stadtschlosses. Doch brandmarkte die Stiftung Baukultur das Vorhaben von vornherein als Zeichen des "neuen Historismus", der die zeitgenössische Architektur in Deutschland gefährde.
Wolfgang Pehnt, Doyen der westdeutschen Architekturkritik, trug dort eine leidenschaftliche Apologie der Architekturmoderne vor und qualifizierte Rekonstruktionen wie das Berliner oder [lexicon='Potsdamer Stadtschloss'][/lexicon] als Teil der heute "grassierenden Faksimilekultur". Bei diesen zähle "nur die Vedute, der sofort einleuchtende Augeneindruck". Als Gegenbeispiele führte Pehnt u.a. Mies van der Rohes Berliner Neue Nationalgalerie, Behnischs Münchner Olympiagelände oder Utzons Opernhaus in Sydney auf, um zu beweisen, dass die Moderne durchaus in der Lage sei, "die Erwartungen an ein die Sinne befriedigendes, erinnerungsfähiges Bauen zu erfüllen".
Doch solche Highlights der globalen Architektur überzeugten die lokale Bevölkerung nicht. Kaum war Pehnts Vortrag beendet, forderten Potsdamer Bürger mit fast alttestamentarischer Wucht das "Menschenrecht auf alte Städte" ein und zeigten sich nicht bereit, diese weiterhin den "inhumanen Häusern der zeitgenössischen Architektur" zu opfern, wie es 50 Jahre diesseits und jenseits der Mauer geschehen sei.
Dabei war der Begriff der Rekonstruktion bei Architekten nicht durchgehend negativ besetzt. Als "Kritische Rekonstruktion" trat das Wort in die jüngere Architekturgeschichte ein und war bei seiner Formulierung ausdrücklich auf die Rettung der zeitgenössischen Architektur angelegt. Der Berliner Architekt Josef Paul Kleihues formulierte ihn im Programm der Internationalen Bauausstellung Berlin 1984/87. Er meinte vor allem die Wiedergewinnung (Rekonstruktion) der Stadt im kulturhistorischen Sinn der europäischen Tradition, als Wohn- und Lebensort und nicht bloß als amerikanische Büro-City.
Kleihues wies auf das Versagen der klassischen Moderne hin, nämlich ihre Verweigerung und Ablehnung der klassischen, verdichteten Stadt. Tatsächlich liegt hier das eigentliche Debakel der Moderne des 20. Jahrhunderts, so viele im Einzelnen vorzügliche Architekturen unter ihrer Regie auch entstanden sein mögen. Le Corbusiers "Il faut tuer la rue corridor!" von 1926 ("Man muss die Korridorstraße töten!) entzog ihr den Großteil ihrer Legitimation.
Die "Kritische Rekonstruktion" hingegen sollte bei allem Konservatismus des stadtplanerischen Denkens ausschließlich durch zeitgenössische Architektur erfolgen, nicht durch die Wiederaufführung demolierter, durch welche Umstände auch immer verlorener Gebäude. Dieses Prinzip wurde auch beibehalten, als sie nach dem Mauerfall unter dem Berliner Planungsdirektor Hans Stimmann ein breites städtisches Fundament erhielt. Erst und einzig bei der Frage nach der Gestaltung der Berliner Mitte fiel die "Kritische Rekonstruktion" zurück auf eine historische Rekonstruktion. Seither brandet die Diskurswelle wider die Rekonstruktion um den Berliner Schlossplatz.
Doch muss man den Kritikern des Wiederaufbaus Alarmismus und Einäugigkeit vorhalten. So richtig der Hinweis auf einzelne Schloss-Rekonstruktionen wie etwa Braunschweig ist, so geringfügig sind diese Baumaßnahmen in der Masse alles Gebauten. Es genügt das Beispiel des Kaufhauses Alexa am Berliner Alexanderplatz, um zu klären, dass die weit überwiegende Mehrzahl der Shopping-Malls der letzten Jahre in Berlin oder Lübeck, Düsseldorf, Chemnitz, Münster oder München in zeitgenössischer Architektur entstanden ist, nicht als Schloss- oder Kaufhaus-Replik der Wunderjahre um 1900. Die Baukultur in Deutschland, heißt das, ist im überwältigenden Ausmaß von der Moderne bestimmt, nicht von Rekonstruktionen.
Einäugig aber sind die Kritiker, weil sie übersehen, dass seit Jahren in ebenso eindrücklicher Form eine Welle von Rekonstruktionen der Moderne durch die Republik rollt. Sie setzte - in Spanien - ein mit der Rekonstruktion des Barcelona-Pavillons (1984) Mies van der Rohes und lief über Le Corbusiers Villa Citrohan in Stuttgart Weißenhof (2006) zu den Meisterhäusern des Bauhauses in Dessau, wo gegenwärtig noch über die Rekonstruktion der Villa von Walter Gropius heftig diskutiert wird.
Dazu zählen auch Rekonstruktionen im weiteren, nicht streng denkmalpflegerischen Wortsinn, die den Siedlungen der klassischen Moderne in Berlin zugute kamen, bevor sie 2008 unter den Schutz der Welterbekommission der Unesco gestellt wurden. Und nicht zuletzt das Berliner Hansaviertel, das anlässlich seines 50. Geburtstags im Jahre 2007 zum Objekt einer eingeforderten "Rekonstruktion der modernen Haltung im Bauen" wurde, wie es der Vorsitzende des Landesdenkmalrates Adrian von Buttlar formulierte.
Gerade diese Forderung nun erinnert daran, dass die deutsche Nachkriegsmoderne insgesamt das Resultat einer Rekonstruktion ist. Ihre Wiedereinführung nach dem Zweiten Weltkrieg beruhte auf einer fast kriminalistisch zu lesenden Repressionsgeschichte. Dank und mittels Expertenkultur und einer strikt eingehaltenen geschichtspolitischen Moral wurde sie gegen den Wunsch der überwiegenden Bevölkerungsmehrheit durchgesetzt. Das beste Exempel dafür bleibt die Rekonstruktion des Frankfurter Goethehauses 1947/48, die von allen Architekturexperten gegeißelt wurde. Doch diese Tatsache wird meist verschwiegen und nur noch gelegentlich von Historikern wie Winfried Nerdinger oder Hartmut Frank erwähnt. Auf Dauer jedoch lässt sich weder von Regierungen noch gar von Architekturfunktionären gegen die Bevölkerungsmehrheit handeln - zumindest nicht in einer Demokratie.
Auf der Seite der Bürger wiederum scheint es sich um einen Akt nachholender Trauer zu handeln. Der Schriftsteller Martin Mosebach erzählte in seinem Roman "Westend" (1992) erstmals in der deutschen Nachkriegsliteratur vom Sieg der Nachkriegsmoderne in [lexicon='Frankfurt am Main'][/lexicon]. Hier lieferte sich die fahrige Selbstaufgabe des Bürgertums den leise platzenden Spruchblasen mondäner Architektur aus; jedem Architekten sollten die Seiten des betreffenden vierten Kapitels eine Pflichtlektüre sein.
Sehr viel tiefer und fast schon abgründig diagnostizierte der Schriftsteller W. G. Sebald in seinem Essay "Luftkrieg und Literatur" (1999), dass jenseits der moralischen Kriegsschuldfrage die ungeheuerlichen Verluste an Städten und Häusern kaum emotionale Spuren im Bewusstsein der Deutschen hinterlassen haben. Vielmehr scheinen die Augenzeugen der Zerstörungen in vorauseilender Eigenzensur sich selbst anästhesiert zu haben, um zu den immer grandios genannten Wiederaufbauleistungen der Fünfziger- und Sechzigerjahre fähig zu werden. Es liegt nicht fern, darin ein essenzielles Motiv des gegenwärtigen Rekonstruktionswunschs in der Architektur zu sehen.
Grundsätzlich gilt, dass in allen Geistes-, Kunst- und Sozialwissenschaften Rekonstruktion ein positiv besetzter Begriff ist, weil er den Königsweg des Verständnisses und der Interpretation eines Phänomens abgibt. Nur moderne Architekten verwenden ihn stets pejorativ. Das mag metierbedingt verständlich sein; jeder Architekt möchte seine eigenen Werke von Dauer und Ewigkeit errichten.
Doch liegt die Lösung hier auf der Hand. Wenn die Architektur nach dem Scheitern ihrer Moderne an der Bevölkerung wieder ihre ureigenen Mittel und Instrumente rekonstruieren, also wieder besser, gestaltreicher, greifbarer und augengefälliger bauen würde, würde sich die Frage nach der Rekonstruktion des Berliner Schlosses kaum erst stellen - obgleich es sich um ein europaweit herausragendes Stück Barockarchitektur gehandelt hat. Nur der Mangel der Gegenwartsarchitektur ist der Sieg Schlüters.