Die russische Kirche will heilen und versöhnen. Der Gedanke, Wunden offen zu halten, ist aus ihrer Sicht widersinnig. Sie strebt vielmehr nach Harmonie, auch nach einer harmonischen Verbindung mit den Vorfahren. Selbst ein völlig neu geschaffener Kirchenraum sieht daher immer aus wie eine russische Kirche.
Das ist in der Tat ein fundamentaler Unterschied zwischen dem Protestantismus und der Orthodoxie (die Katholische Kirche steht irgendwo dazwischen).
Das hat ganz tiefe Wurzeln in der europäischen Geistesgeschichte, genauer gesagt in der Frage nach Sündenfall und Erbsünde und damit nach der Soteriologie: Das Denken der Westkirchen hat seit Augustinus (der ja Luthers eigentlicher Lehrmeister war) den Tod Christi als Erlösung von einer tatsächlich von Individuum zu Individuum weitervererbten Ursünde Adams und Evas verstanden. (Augustinus - der m.E. nach in seinem tiefsten Inneren immer Manichäer geblieben ist - ging ja in seinen spätesten Schriften sogar so weit, eine Reinkarnationslehre anzunehmen, um begründen zu können, wie man eine individuelle Schuld sollte denken können, die nicht durch das eigene Handeln, sondern durch Vererbung entsteht).
Der Kreuzestod Christi erscheint damit als eine paradoxe Selbstbestrafung Gottes zur Tilgung der vermeintlichen Schuld der Menschen. Das hat in den Westkirchen insgesamt, aber vor allem im Protestantismus, zu einer ungesunden Obsession mit der Schuld und einer geradezu pathologischen Fixierung auf Leid und Tod Christi geführt.
Das Fortwirken dieses Denkens in säkularisierter Form erklärt dann m.E. auch die ganze gedankliche Pathologie um Rekonstruktionen, mit der wir hierzulande konfrontiert sind.
Im Denken der Ostkirchen wurde die Erbsünde dagegen nicht als individuelle Schuld der Nachgeborenen, sondern einfach als Grund und Ursache von Tod, Leid und Schlechtigkeit in der Welt gesehen. Der Kreuzestod Christi wird damit nicht als eine stellvertretende Selbstbestrafung Gottes für die Sünden anderer verstanden, sondern einfach als Überwindung der Folgen der Erbsünde in Form von Leid, Tod und Schlechtigkeit gesehen.
Deshalb ist die Orthodoxie auch nicht auf Schuld, Leid, Tod und Sünde fixiert, sondern auf den Sieg Christi über den Tod und das Böse: Die zentrale Ikonographie der Orthodoxie ist nicht die Darstellung von Christus am Kreuz, sondern Christus Pantokrator.
Daher sind orthodoxe Länder auch deutlich weniger auf "Sünden der Vergangenheit" fixiert und wollen nicht um jeden Preis irgendwelche "Wunden offenhalten".
Ich halte Augustinus tatsächlich für die Nemesis des Westens. Wenn wir es nicht schaffen, uns von den Nachwirkungen seiner unseligen (und philosophisch wie theologisch auch unsinnigen) Erbsündenlehre und Soteriologie zu befreien, ist der Westen verloren. Augustinus hat den Keim all dessen in das westliche Christentum eingepflanzt und Luther und Calvin haben nochmal ordentlich nachgelegt.