Sehr geehrte Damen und Herren,
die Stadt Erfurt ist mir während meines Studiums ans Herz gewachsen. Auch aus der Ferne und als regelmäßiger Besucher verfolge ich die Entwicklung dieser schönen Stadt mit großem Interesse. Dies gilt natürlich insbesondere für die einzigartige Altstadt mit ihrer weitgehend intakten Vorkriegsbebauung. Ihre Erhaltung und Pflege ist die Verpflichtung aller.
Leider geben zahlreiche geplante oder bereits in Umsetzung befindliche Neubauvorhaben Anlass zur Sorge, dass die typische Gestalt der Altstadt zumindest in Teilbereichen Schaden nimmt. Zunächst ist es außerordentlich erfreulich, dass aufgrund der positiven Einwohnerentwicklung vorhandene Baulücken geschlossen werden können und letzte verbliebene Brachflächen verschwinden. Jedoch sollte darauf geachtet werden, dass sich neue Gebäude und Quartiere harmonisch in die Altstadt einfügen und nicht zu Fremdkörpern werden. Deshalb ist der Kleinteiligkeit, dem Fassadenaufbau oder der Dachgestaltung besondere Beachtung zu schenken.
Moderne Architektur hat in bestimmten Stadtteilen sicherlich ihre Berechtigung und findet dort ja auch ihren Platz. Dies gilt insbesondere für die Nachverdichtung in Plattenbaugebieten. Jedoch halte ich den Ansatz für verfehlt, moderne (und eben oft als monoton sowie abweisend empfundene) Bauformen in altstädtischen (oder auch gründerzeitlichen) Arealen einzupflanzen. Neubauten müssen in diesem Kontext nicht blind die alte Bebauung imitieren, sollten aber die Formensprache traditioneller Architektur respektieren, aufgreifen und fortschreiben. Nur so lässt sich die charakteristische und identitätsstiftende Gestalt der Erfurter Innenstadt langfristig sichern.
Diesbezüglich gibt es auch aktuell durchaus gelungene Beispiele, etwa die geplante Bebauung an der Georgsgasse. Bedenklicher ist da schon das neu entstehende Quartier An den Graden direkt neben dem Dom aufgrund seiner fehlenden Kleinteiligkeit, einer untypischen Fassadengestaltung und seines großen Flachdachs. Altstädte beziehen ihren Reiz insbesondere auch aus ihren faszinierenden Dachlandschaften. Massenhafte Flachdächer, selbst wenn diese begrünt sein sollten und keine hässlichen Aufbauten besitzen, beeinträchtigen das Stadtbild erheblich.
Aktuell befindet sich der Bebauungsplan ALT614 "Am Hügel" in Aufstellung. Die geplante Neubebauung ist ein wichtiges Projekt der Stadtreparatur und befindet sich im Bereich der erweiterten Altstadt. Unverständlicherweise wird der richtige Ansatz einer Wiederannäherung an den historischen Stadtgrundriss dadurch entwertet, dass für große Teile der Bebauung Flachdächer vorgeschrieben werden sollen. In der Begründung des Bebauungsplanentwurfs, der am 14. Juni 2017 im Stadtrat beraten werden soll, heißt es auf Seite 29:
"Für die neu zu errichtenden Gebäude im WA, MI 1b, MI 2b und MI 2a, besonderer Nutzungszweck "Parkhaus" werden Flachdächer mit einer Dachneigung von 0° bis 5° festgesetzt. Innerhalb des MI 1a sind Flachdächer ebenfalls zulässig."
Deshalb bitte ich Sie, konkret einmal darüber nachzudenken, welche Folgen die zunehmende Verbreitung von Flachdächern (übrigens auch in wertvollen Gründerzeitvierteln) für das Stadtbild auf Dauer hat und ob es zumindest im vorliegenden Fall nicht sinnvoller wäre, bewährte Steildächer vorzuschreiben und insgesamt die Chance zu nutzen, in diesem ehemaligen Abrissgebiet altstädtische Strukturen - den heutigen Bedürfnissen entsprechend - wiederherzustellen. Selbst die umliegenden Plattenbauten aus den 1980er Jahren verfolgen den anerkennenswerten Ansatz, Steildächer zumindest anzudeuten. Wollen wir tatsächlich hinter den damaligen Ansprüchen an eine "altstadtgerechte" Bebauung zurückbleiben?
Ich würde mich deshalb freuen, wenn der Stadtrat seine Gestaltungsmöglichkeiten nutzt und sich für entsprechende Änderungen an dem Bebauungsplanentwurf einsetzt. Jedoch gilt es, auch über den Einzelfall hinaus Verantwortung für die architektonische Entwicklung der Stadt wahrzunehmen. Das Amt für Stadtentwicklung und Stadtplanung strebt bei Neubauten auch in sensibleren Bereichen oftmals ein "einheitliches und zeitgemäßes Erscheinungsbild" an, das sich "als ablesbares Zeugnis der heutigen Entstehungsperiode darstellt und sich deutlich von der umgebenden Bestandsbebauung abhebt". So werden in diversen Bebauungsplänen - wie aktuell "Am Hügel" oder zuvor "An den Graden" und damit für größere Altstadtbereiche - die Vorgaben der Gestaltungssatzung großzügig missachtet. Aus begründeten Einzelfällen wird auf diese Weise schnell die Regel. Damit unterläuft die Verwaltung sinnvolle Regelungen, die das Ziel verfolgen, die Eigenart des Stadtbildes zu bewahren.
Damit das Stadtbild Erfurts nicht allmählich verwässert und beliebig wird, sollte der Einhaltung der Gestaltungssatzung daher wieder größere Beachtung geschenkt werden. Dies gilt nicht nur für die Reaktivierung des Altstadtviertels "Am Hügel", sondern auch für die kommende Wiederbebauung der Brachflächen westlich des Hirschgartens.
Übrigens entbinden auch die häufig gewordenen Architektenwettbewerbe den Stadtrat nicht von seiner Kontrollfunktion. Diese Kontrolle sollte jedoch weniger im Hinterfragen der Wettbewerbsergebnisse bestehen als vielmehr in der Einflussnahme auf die Besetzung der Fachjurys. Da es nun einmal in Fragen der Architektur und Ästhetik unterschiedliche Auffassungen gibt und keine "objektive Wahrheit", sollte darauf geachtet werden, dass sich sowohl Vertreter "moderner" als auch "traditioneller" Architektur in den Fachjurys gleichermaßen wiederfinden. Nur so kann ein gesellschaftlicher Ausgleich auch in der Baupolitik gelingen, in einem Bereich also, der uns alle betrifft und wo Entscheidungen getroffen werden, die meist generationsübergreifenden Bestand haben.
Ich hoffe, dass ich Ihnen einen kleinen Denkanstoß geben konnte und freue mich über fruchtbare Diskussionen auf städtischer Ebene.
Mit freundlichen Grüßen