Ich sehe die Architektur vor 1918 und noch einge Jahrzehnte vorher nicht als aristokratisches Phänomen, sondern als bürgerliches.
Aristokratie bedeutet für mich, eine winzige Oberschicht lebt in Palästen und der Rest in Lehmhütten und mehr oder weniger einfachen Fachwerkhäusern. Die Architektur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ist für mich das Ergebnis aus Aufklärung und industrieller Revolution. Da hatte plötzlich eine etwas größere Schicht von Menschen (leider nicht alle) die Möglichkeit, sich in seinen Bauten selbst zu verwirklichen und auch mal etwas unnötigen Aufwand zu treiben. Das Ergebnis bewundern wir heute noch!
Irgendwo zwischen 1900 und heute hat sich die Architektur leider zu Schlechten gewandelt, aber das war nicht 1918. Danach kam ja noch z.B. Art Deco und Expressionismus.
Ich meine, die moderne Architektur krankt als erstes am Maßstab. Sie richtet sich zu sehr aufs Auto aus; Herr Krause erlebt die schönen Seiten von Karlsruhe als Fußgänger.
Und dann krankt die Architektur an einem Zwang zur Wirtschaftlichkeit bei gleichzeitiger Verteilung der Verantwortung auf zu viele Schultern. Heute kann sich bei großen Bauprojekten kaum einer erlauben, irgendwo extravagant zu sein, sonst wird er früher oder später gefeuert. Es gibt ja schließlich noch das controlling. Ohne Großprojekte, die eine Industrie für aufwändiges Bauen füttern, hat es der kleine Mann besonders schwer. Diese etwas kleineren Häuser, die Sean Apollo hier beschreibt hätte es ohne den Wiener Ring sicher nicht gegeben.
Eine menschengerechtere Architektur könnte vielleicht mit einer Abkehr vom Auto als Maßstab der Architektur starten.
Außerdem wäre ein Produktivitätsschub wünschenswert, der vergleichbar ist mit dem Wandel vom Handwerk zur Industrie. Ein paar dekorative Details mehr oder weniger sollten den Bauherrn kostenmäßig so unwichtig sein wie einem Großbürger im 19. Jahrhundert.
Dazu mehr Bildung für Alle!
In den typischen Gründerzeit-Vierteln sehe ich überhaupt nichts aristokratisches, sondern einen Wettbewerb von Bürgern, "die es könnnen", sich gegenseitig zu übertrumpfen und dabei ihre Individualität auszuleben. Diesen Wettstreit vieler Individuen um die beste Lösung ohne dabei zu sehr auf die Kosten achten zu müssen... So etwas brauchen wir wieder!
Was der Mandy 2015 ihr Arschgeweih war dem Christoph Otto 1915 seine Stuckfassade. Dieser Drang zum ornamentalen ist eine Grundeigenschaft des Menschen.