Als angehender Archäologe und Denkmalpfleger will ich auch mal meinen Senf zu dem Thema abgeben:
Es stimmt, dass sich die Denkmalpflege vor allem auf schützenswerte Bauten aus der Zeit bis zu Historismus, Jugendstil und Bauhaus konzentrieren sollte, die noch immer viel zu oft verunstaltet oder gleich ganz abgerissen werden. Nachkriegsbauten sollten nur in besonderen Fällen (unverändert erhaltene, für die Epoche prägende oder einmalige Bauten) unter Schutz gestellt werden, denn immerhin gehen dafür auch öffentliche Gelder drauf (auch wenn die Fördermittel für die Sanierung von Baudenkmälern inzwischen ein Witz sind).
Was die Rekonstruktion historischer Bauten angeht, muss man das von Fall zu Fall entscheiden. Auf jeden Fall sollte dies nur geschehen, wenn der Originalbauplatz frei ist bzw. keine denkmalwürdige Substanz enthält, denn theoretisch kann man an neuen Standorten beliebig viele Kopien eines Bauwerks errichten, am Originalstandort aber nur eine einzige. Zudem war der Ursprungsbau durch seine Größe (Parzellenbreite) und sein Aussehen (Stil, Fassadenschmuck der Nachbarbebauung, zum Beispiel Kopie von Rathausfassaden o.ä.) mit dem Originalstandort eng verbunden. So etwas wie die nachgebaute Fassade des Leibnizhauses in Hannover an einem anderen Standort finde ich zum Beispiel ziemlich daneben - zumal sie an ihrem jetzigen Standort in der ebenso großen Nachbarbebauung nicht sonderlich dominierend wirkt.
Was die Rückführung eines Bauwerks in einen älteren Zustand angeht, muss man das auch wieder differenziert betrachten. Nehmen wir zum Beispiel St. Michael in Hildesheim. Die Kirche wurde im Krieg extrem stark beschädigt und sollte beim Wiederaufbau in den Ursprungszustand des 11. Jh. zurückversetzt werden. Das Problem war, dass man diesen nicht kannte. Man verwendete eine Zeichnung des 17. Jh. als Vorlage, die allerdings einen idealisierten Zustand der ursprünglichen Erscheinung darstellte. Das heißt, die wieder aufgebaute Kirche ist mehr oder weniger ein Phantasieprodukt, und noch dazu recht uneinheitlich, da die gotischen Fenster des 15. und die Holzdecke des 13. Jahrhunderts erhalten blieben, obwohl man die Kirche des 11. Jahrhunderts zeigen wollte.
Von daher sollte man ein Gebäude, egal ob Kirche oder Bürgerhaus, nur dann rekonstruieren oder ergänzen, wenn man den Zustand, in den man das Gebäude zurückführen will, möglichst genau kennt - und wenn die Umgestaltungen das Gebäude mehr schädigen als bereichern. So wird heute wohl keiner mehr bezweifeln, dass die barocke oder selbst die historistische Umgestaltung eines Bauwerks erhaltungswürdig ist, zumal sie einen wichtigen Aspekt der Geschichte des Gebäudes darstellt.
Das Problem beim Wiederaufbau zerstörter Gebäude nach dem Krieg ist, dass viele der Bauten, wenn sie nicht originalgetreu rekonstruiert wurden, in zeitgenössischen Formen wiederhergestellt wurden (Pellerhaus in Nürnberg, Salzhaus in Frankfurt etc.). Und da ist nun die Frage, inwieweit diese Zustände erhaltenswert sind. Es war ja eigentlich schon immer so, dass zerstörte Gebäude im Stil der Zeit wiederaufgebaut wurden (der Historismus mag da eine Ausnahme sein, mit den ganzen Domvollendungen etc.). Die Dresdner Kreuzkirche beispielsweise wurde im 18. Jahrhundert nach einem Brand im Barockstil wieder aufgebaut, nach einem erneuten Brand um 1900 in Jugendstilformen (obwohl man den barocken Zustand hätte rekonstruieren können) und nach dem Krieg im Stil der 50er Jahre, obwohl die Veränderungen des Jugendstils (Stuck etc.) nicht so stark zerstört waren, wie es jetzt den Anschein hat.
Die Debatte, Gebäude wieder in einen alten Zustand zurückzuführen oder zu rekonstruieren, ist erst in den letzten 20, 30 Jahren richtig entflammt, und seitdem wurden viele Gebäude rekonstruiert oder veränderte Wiederaufbauten (z.B. Frauenkirche in München) in eine Totalrekonstruktion umgewandelt. Die Frage ist, ob man nach 50 Jahren überhaupt schon sagen kann, ob ein veränderter Wiederaufbau nicht doch genügend Qualitäten besitzt, um ihn mit all seinen Veränderungen, die ja auch Spuren seiner Geschichte sind, zu erhalten.
Interessanterweise ist es ja so, dass die nachfolgende Generation immer den Stil der vorherigen Zeit verschmäht. Im frühen 19. Jahrhundert konnte man nichts mit dem Barock anfangen, im späten 19. Jahrhundert mochte man den geradlinigen und strengen Klassizismus nicht. Schon in den 1920ern war der Historismus verpönt, was sich bis in die 70er Jahre hinein hielt, und heute finden die meisten den Stil der 50er und 60er potthässlich. Von daher finde ich es ganz gut, wenn über manche bedeutende Fünfziger-Jahre-Bauten (oder Fünfziger-Jahre-Wiederaufbauten) die Denkmalpfleger ihre schützende Hand legen, bevor sie alle umgestaltet oder abgerissen werden. Nur wie gesagt, man muss da Prioritäten setzen (ältere Bauten haben Vorrang vor Nachkriegsbauten, schützenswert sind auch nur besonders auffällige, ursprünglich erhaltene Bauten der 50er und 60er).
Natürlich ist das alles Geschmacks- und Auslegungssache, und ich glaube, das ist auch ein großes Problem innerhalb der Denkmalpfleger, dass es da von Person zu Person ziemlich divergierende Ansichten gibt, was sich natürlich in den praktischen denkmalpflegerischen Maßnahmen jedes Bundeslandes oder gar jedes Ortes unterschiedlich zeigt.