Zur Situation in Leipzig:
Ein aufregender Erfahrungsbericht durch eine zerissene Stadt
Ich studiere seit 4 Jahren in Leipzig und wohne in einem schönen Viertel im Süden Leipzigs, der Südvorstadt. Ich habe euch sehr interessiert zugehört und möchte allen, die nicht aus Leipzig kommen, nun einmal schildern, wie ich die Situation und das Leben in der Stadt empfinde:
Es ist wahr: Leipzig bietet zum einen Grauen und Faszination gleichzeitig. Manchmal Tür an Tür. Und es ist auch wahr: Leipzig hat (meines Wissens nach) zumindest vier fantastische und grundsanierte Viertel zu bieten: Die Südvorstadt, das Viertel rund um den Waldplatz, Musikerviertel und das meiner Meinung nach schönste Viertel am grössten innerstädtischen Park Deutschlands: dem Waldstrassenviertel.
Die (wichtig: zuhauf sehr sehr stolzen) Menschen hier in Leipzig kommen aus allen Schichten, natürlich gibt es auch viele Arbeitslose und Obdachlose (wo gibts sie nicht) aber schön ist eben, dass man auch viele Schwarze trifft, Japaner, Italiener, Spanier, viele westdeutsche Zugereisten und meist alle Studenten. Leipzig hat seit vielen Jahren einen unglaublichen Zustrom an Studenten, die von anderen gehört haben, dass es sich hier zu leben lohnt, obgleich des schlechten Rufes des "Ostens".
Aber Leipzig hat ein grosses Problem: Sie ist zu gross. Die Stadt wurde im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, zur wichtigsten Stadt Deutschlands: hier gab es alle grossen Verlage. Viele Industriezweige gründeten Firmen zuerst in dieser Stadt, Leipzig hatte die einzige Messe Deutschlands und wuchs mit Frankfurt und Berlin gleichauf schnell an die Ein-Millionen-Grenze heran.
Bis der Krieg kam. Die Amerikaner hatten ihre Grenze zu Russland hinter Leipzig (das heisst Leipzig wäre westdeutsches Gebiet geworden, wenn die Amerikaner nicht Gebiete mit Russland getausch hätten). Dann DDR - architektonischer Verfall und Wegzug vieler Menschen. Eine Stadt gebaut für knapp 900.000 Menschen beherbegt jetzt nurnoch 500.000 Menschen. Meiner Meinung mit fast katastrophalen Folgen, da das Geld nicht so schnell reinkommt wie für Sanierung leestehender Häuser ausgegeben werden kann.
In den letzten 4 Jahren ist mir eines klar geworden: Leipzig und seine Einwohner haben immernoch das gleiche Blut in sich wie vor 100 Jahren: Sie wollen die Besten sein, können es aber heute einfach nicht mehr glauben, dass sie es nicht mehr sind. Eingestehen wollen und können sie es sich nicht (irgendwo macht das ja auch die Herzlichkeit dieser Stadt aus). Deshalb versucht die Politik mit gigantischen Massnahmen Aufmerksamkeit zu bekommen (Stichwort Olympia), nicht nur deutschlandweit, nein: gleich weltweit (vor 100 Jahren kannte jeder zweite Ausländer die Stadt Leipzig). Aber irgendwie greift es nicht so, wie man sich das vorgestellt hat.
Der Leipziger Oberbürgermeister will seinen Menschen eine Perspektive geben, er ist freundlich, herzlich und sehr verliebt in die Stadt (Für sie hat er einen für ihn reservierten Ministerposten abgelehnt). Würde es nach ihm gehen, wär die Stadt sofort grundrestauriert. Aber der Stadt fehlt einfach das Geld (man bedenke was 400.000 Einwohner mehr für die Stadtkasse ausmachen würden).
Sie versucht Investoren zu holen, was teilweise auch gelingt (Porsche, BMW, DHL) baut gleichzeitig aber viel zu grosse Immobillien um einen späteren Nutzen daraus zu ziehen (Flughafen - hier wird übrigens gerade ein HollywoodFilm gedreht, der Leipziger Flughafen stellt den zu unmodernen Berliner Flughafen dar -, Stadion, Uni, erster Freizeitpark Ostdeutschlands - übrigens inmitten einer wirklich schönen Seenlandschaft ganz im Süden Leipzigs - City-Tunnel, mit 4 riesigen unterirdischen Haltestellen, für die extra ein europaweiter Architekturwettbewerb ausgelobt wurde).
Man versucht anscheinend durch solche Aktionen der Abwanderung entgegenzuwirken und mehr Menschen für Leipzig zu gewinnen. Gelingt ja auch, ansatzweise aber anscheinend nicht schnell genug. Das Geld fehlt immernoch und es wird nicht saniert, da ein saniertes aber leerstehendes Haus nur mehr Kosten verursacht. Irgendwo tut mir Leipzig leid, es gibt immernoch zu viele Menschen, die Leipzig als hässliche Plattenbetonwüste sehen und nie im Leben daran denken würden, einmal hier vorbeizuschauen. Und wenn sie dann kommen und drei Platten in der Innenstadt sehen sofort schreien: "SIEHSTE!"
Leipzig bräuchte überregionale Unterstützung, viele Leipziger haben andere Sorgen als 400 einsturzgefährdete Gründerzeithäuser zu retten (pro Jahr kommen nochmal 400 dazu, insgesamt sollen mehr als 12.000 Häuser betroffen sein).
Man müsste einen riesigen Verein gründen aus dem so schon jeder einen kleinen Betrag spendet und vorallem auf die Misere deutschlandweit aufmerksam macht! Deutschland war vor 100 Jahren, das wohl schönste Land überhaupt, die architektonischen Meisterleistungen sind doch zu sehen! Auf Fotoschauen, Plakaten, dokumentierenden Kalendern. In Leipzig steht noch ein Grossteil davon herum und es macht mich traurig, dass viele Leipziger sich nicht verantwortlich fühlen.
Der Oberbürgermeister versucht alles: Selbst die Strassenzüge waren früher königlich hergerichtet! In der Innenstadt gab es 6 km freien Flusslauf, direkt in der Innenstadt. Das wird nach und nach (vorallem durch einen kleinen Leipziger Verein "Neue Ufer" unterstützt) wieder ausgegraben und neu angelegt. Dies verschlingt aber Millionen und ich bin mir sicher, dass sich die Stadt fragt, wer das alles finanzieren soll, wenn doch keiner Geld hat (schliesslich geht eine Komplettsanierung nach Originalzustand inklusive Stuck an den Decken der Wohnungen in die Millionen - für ein Haus!).
Beim Durchlesen eurer Beiträge konnte ich ganz kurz mal einen kleinen Funken revolutionärer Energie spüren, der Funke um letzendlich etwas Grosses zu bewegen.
Hier geht es nicht nur um eine kleine Grossstadt, die einfach vor zuvielen Aufgaben steht (Man vergleiche es mit einem prunkvollen schwergewichtigen Kaiser, der durch zuviel Stress 200 Kilo abgenommen hat, dem die Haut schlaff und ekelerregend herunterhängt und der doch so gerne wieder dick sein möchte, es von alleine aber nicht schafft soviel zu essen
). Hier geht es um das letzte Stück zusammenhängende Geschichte Deutschlands, eventuell sogar Europas, die uns alle beschäftigt, den einen mehr den anderen weniger. Viele interessiert das NULL aber ich weiss, dass ich hier eventuell Gleichgesinnte finden kann, die mit mir die gleiche Trauer und vielleicht auch den gleichen Mut teilen.
In diesem Sinne, ein verliebter Leipziger Student mit seinem ersten Post!


