• Noch eine kleine Bilderserie, die ich im Rundlingsdorf Satemin im Wendland gemacht habe. Dort sind wir vor einigen Wochen für ein paar Tage im Urlaub gewesen und ich bin sofort großer Fan geworden. Das Wendland liegt zusammen mit seinen Nachbarlandschaften Prignitz und Altmark im dünnstbesiedelten Teil Deutschlands und im größten Gebiet ohne Autobahnversorgung (auch wenn sich das nun langsam ändern wird durch den Bau der Autobahnen 14 und 39).

    Auf jeden Fall weist dieser zu Niedersachsen gehörende Landstrich einen ganz eigentümlichen Zauber auf, der -im Westen sonst vielleicht nur noch in Ostholstein und in Bezug auf Ortsnamen Nordostbayern- durch seine slawischen Siedlungsnamen und die dünne Besiedlung schon etwas vom "Wilden Osten" hat in seiner von mir romantisierten Form. Trotz der üblichen Probleme wie Abwanderung, Überalterung und Strukturschwäche, die viele dezentral gelegene Landschaften in Ost und West mittlerweile haben, und die auch vorm Wendland nicht haltmachen, haben sich augenscheinlich doch viele lebendige Dorfgemeinschaften erhalten, tlw. sicher auch dank dem Tourismus und der Tatsache geschuldet, dass sich viele Künstler in den schönen Dörfern niedergelassen haben (die ersten "Entdecker" des Wendlands waren noch zu Zeiten der deutschen Teilung interessanterweise Westberliner, die hier schon in den 60er Jahren begannen, alte Bauernhäusern durch Kauf vorm Abriss zu retten), so dass eigentlich überall etwas zu entdecken und zu sehen ist. Wie auch immer man dazu steht, hat auch der Widerstand gegen das Atommüllager in Gorleben diesen Landstrich stark zusammengeschweißt, dies war kein importierter Widerstand, sondern kam auch aus dem Wendland selbst, wie man an den wirklich allgegenwärtigen großen "X"-en überall erkennen kann.

    Bis ins 18. Jahrhundert und damit abgesehen vom immer noch lebendigen Sorbisch länger als irgendwo sonst auf der heutigen Staatsfläche Deutschlands hat sich eine westslawische Sprache erhalten, heute genannt "drawänopolabisch", früher "wendisch". Interessant hierzu noch folgender fun fact: Noch zu Zeiten Martin Luthers haben sich Priester und Verwaltungsbeamte darüber aufgeregt, dass in den Dörfern um Wittenberg herum viele Bauern "windisch" sprachen und gar kein deutsch. Die slawische Besiedlungsgeschichte und die Geschichte dieser jahrhundertealten slawisch-germanischen Kontaktzone im heutigen Nord- und Ostdeutschland ist immer noch sehr schlecht erforscht.

    Nur in dieser Grenzzone zwischen deutschsprachigen und slawischsprachigen Menschen entstanden Rundlingsdörfer. Diese sind -anders als früher oft vermutet- gar nicht eindeutig eine "slawische Siedlungsform", denn es gibt sie wie gesagt eigentlich nur in dieser Grenzzone etwa von der Ostsee bei Lübeck über Wendland, Altmark, Ostthüringen, Tschechien über Österreich bis nach Slowenien, also von See zu See entlang der alten Sprachgrenze, sozusagen. Weiter östlich, also tiefer im slawischen Europa, gibt es sie nicht. Fast überall sind diese Dörfer mittlerweile massiv überformt worden und gar nicht oder kaum noch im Ortsbild zu erkennen. (Fast) nur im Wendland haben sich vollständig erhaltene, "saubere" Rundlinge erhalten. Ihre Ortsnamen alleine klingen schon so herrlich fremd, "Krummasel", "Tolstefanz", "Meuchefitz", "Salderatzen", "Diahren", "Klein Witzeetze" und "Groß Witzeetze" usw. Natürlich auch viele "klassischer" slawisch klingende Ortsnamen auf -ow und -in.

    Jetzt habe ich ganz viel geschrieben, und es folgen nur ein paar dürre Handyfotos, naja. Zunächst mal "Schreyahn" aus der Luft, ein weiterer fast perfekt erhaltener Rundling:

    Dergestalt gibt es in der Gegend wirklich viele dieser Dörfer, die sich v.a. in der Region westlich der Kreisstadt Lüchow Richtung des Höhenzugs Drawehn wirklich in hoher Dichte befinden, bestimmt alleine 25 mehr oder minder gut erhaltene Rundlinge, die oft nur durch feldwegartige Straßen miteinander verbunden sind, befinden sich in diesem recht kleinen Gebiet:

    Wir waren u.a. in Satemin, einem der bekanntesten, weil größten erhaltenen Rundlinge, der Mitte des 19. Jhdts. komplett neu erbaut wurde nach einem Feuer. Dies hat zur Folge, dass es etwas an historischer Tiefe fehlt, zum anderen die Rundform des Dorfs sich gar nicht gut auf ein Foto bannen lässt. Bebaut sind die Rundlinge durchweg mit niederdeutschen Hallenhäusern:

    Der riesige Dorfanger, wie typisch für echte Rundlinge ohne Kirche:

    Eine -wie ich finde- sehr interessante Gegend. Und ich habe eine seltsame, mir weder durch Familiengeschichte noch sonst irgendwie erklärliche Sehnsucht nach dem europäischen Osten, die schon hier auf eine ganz und gar unabenteuerliche Art und Weise leicht gestillt wird, warum auch immer.

  • "Eine -wie ich finde- sehr interessante Gegend. Und ich habe eine seltsame, mir weder durch Familiengeschichte noch sonst irgendwie erklärliche Sehnsucht nach dem europäischen Osten, die schon hier auf eine ganz und gar unabenteuerliche Art und Weise leicht gestillt wird, warum auch immer."

    Geht mir ganz genauso, wenn auch mir hinterpommerschen Familien-Hintergrund. Auf einer Deutschland-"Erfahrung" mit dem Fahrrad war ich vom Wendland, der Elbtalaue, der Prignitz, der Altmark und dem Havelland höchst eingenommen und berührt. Da klang etwas an und durch, das an - zwar auch hier - vergangene Zeiten erinnerte, aber hier noch sehr viel erlebbarer und spürbarer ist, als andernorts.

    „Groß ist die Erinnerung, die Orten innewohnt“ - Cicero

  • Und ich habe eine seltsame, mir weder durch Familiengeschichte noch sonst irgendwie erklärliche Sehnsucht nach dem europäischen Osten, die schon hier auf eine ganz und gar unabenteuerliche Art und Weise leicht gestillt wird, warum auch immer.

    Ja, das ist so ein Gefühlsding. Entweder es klingt da etwas in einem an oder eben nicht. Kann man nicht unbedingt erklären, muss man auch nicht. Ich würde es am ehesten mit deiner norddeutschen Herkunft in Verbindung bringen.

    Die auf deinen schönen Bildern zu sehenden Häuser aus Satemin sind aber eigentlich nicht typisch für den europäischen Osten. Die Slawen kennen den Fachwerkbau nicht. Wir hatten an anderer Stelle ja mal über mögliche Gemeinsamkeiten zwischen den slawischen Völkern diskutiert. Ein Aspekt, der sie alle vereint, ist das Fehlen einer eigenen Fachwerkbaukunst. Aus slawischer Sicht sind Fachwerkhäuser etwas Deutsches. In Polen trifft man sie nur in ehemals deutschen Gebieten. Und die russische Sprache musste das Wort "Fachwerk" aus dem Deutschen entlehnen: fachwerkowyje doma = Fachwerkhäuser. Auf die seltsame Idee, Holzhäuser mit großen Löchern zu bauen, die man mit irgendeinem anderen Baumaterial wieder zustopft, wären die Russen nie gekommen.

  • Ja, bebaut sind die Rundlingsdörfer mit niedersächsischen Hallenhäusern. Auch die Siedlungsform des Rundlings ist ja nicht slawisch, anders als früher oft behauptet. Sie ist in den "richtig" slawischen Gebieten unbekannt, sondern ein Kennzeichen der Kontaktzone zwischen Deutschen und Slawen, es gibt sie in einem schmalen Streifen von der Ostsee bis (fast) ans Mittelmeer in Slowenien, auch in Ostthüringen zum Beispiel gibt es einige (ehemalige) Rundlinge.

    Ihre Entstehung scheint eher Teil der "Ostsiedlung" gewesen zu sein, neue (deutsche) Herren drangen in slawisch besiedelte Gebiete vor und gaben den vorher anders und freier siedelnden Bewohnern Pachtgrundstücke zum Bewohnen und Bewirtschaften, anscheinend in dieser seltsamen "Tortenform", durch die sich dann die Rundlingsdörfer bildeten, erbaut aber in der Tat mit rein "deutschen" Methoden.

    Nach meinen (oberflächlichen) Recherchen ist über diesen Prozess der Entstehung aber noch nicht sehr viel bekannt. Interessant ist, dass man auf wikipedia eine Liste von (ehemaligen und meist überformten) Rundlingsdörfern auch in Tschechien, Österreich, Slowenien findet, und wenn man sich die dann bei GoogleMaps anschaut, kann man die alte Struktur manchmal noch erkennen. Zugute kam dem Wendland bei dieser Geschichte eben seine vollkommene Abgeschiedenheit und wirtschaftliche Rückständigkeit, so dass sich die Dörfer hier fast komplett erhalten konnten.

    Den Zauber dieser Regionen mit slawisch-deutscher Geschichte machen -neben der oft vergleichsweise dünnen Besiedelung- für mich auch die fremden Ortsnamen aus. Ich habe das schonmal mit der Situation im Elsass verglichen, die für die heutigen Bewohner dort ähnlich sein muss. Sie leben erkennbar in einem Gebiet, in die Sprache der Ortsgründer eine andere war als die eigene (wenn man von der schrumpfenden Zahl an Elsässischsprechern absieht). Als Niedersachse hat man eine Art inneren Kompass für Ortsnamen der eigenen Region und kann viele Namen mit Kenntnissen des regionalen Dialekts noch selbst ergründen, dann weiß man, dass ein "Holtensen" mal ein "Holthusen" war und einfach "Holzhausen" heißt, ein "Wibbecke" muss nach einem Gewässer benannt sein, obwohl ich "Wib-" nicht entziffern kann, einen "Lütgenrode" hat wahrscheinlich eine Entsprechung in einem benachbarten "Grotenrode/Großenrode" etc. (alles Beispiele aus der Region Göttingen). Ähnliches gilt für benachbarte Regionen, also diese Regeln gelten -mit anderen dialektalen Einflüssen, es gibt natürlich südlich von Kassel keine "-becks" mehr, sondern nur noch "-bachs"- auch in (Nord)-Hessen oder im angrenzenden Westfalen.

    Aber in ehemals von anderen sprachlichen Gruppen besiedelten Gegenden gelten sie eben nicht. Das gilt auch für weite Teile Süd- und Südwestdeutschlands mit seinem keltischen und römischen Ortsnamensubstrat (ich kann also weder "Leipzig" noch "Trier" selbstständig entziffern, während "Hannover" und "Hamburg" als Deutsch- und Niederdeutschsprecher für mich kein Problem sind). Natürlich gilt das nicht immer, was das "Lüne-" in Lüneburg heißt, weiß ich auch nicht spontan und "Göttingen" selbst erschließt sich auch erst nach Lektüre eines Artikels über die Ortsnamenherkunft. Trotzdem sind mir die Register der Möglichkeiten niedersächsischer Ortsnamen bekannt und lassen sich in weiten Teilen selbst erklären. In Gegenden mit slawischen Ortsnamen fühle ich mich einfach fremd, ich kann die Ortsnamen nicht "lesen", wie ich das gewohnt bin - das trägt vielleicht zu dieser Faszination bei.