Komisch nur, dass auch in Süddeutschland die Qualität in den Stadtbildern abnimmt. Nicht im Sinne, dass nicht das Meiste wie geleckt aussieht, sondern im gestalterischen Sinne, im gesamtkonzeptionellen Sinne. Und im Sinne einer guten Pflege (für einen langen Erhalt). Also alles Faktoren, die ausmachen, ob ich eine Stadt langfristig eher negativ empfinde oder positiv. Ich würde behaupten die Probleme liegen leider tiefer, als ein (natürlich problematischer) Investitionsstau. In Süddeutschland wird und wurde viel investiert. Die Verschandelung und die Abrisse sind dennoch gegeben, der Ersatz nahezu durchgängig inferior. Das spricht für ein systematischeres Problem, als ein lokales Phänomen.
Es ist ja auch kein lokales Phänomen. Es schlägt nur visuell natürlich in Gegenden, die stärker zerstört waren und nach dem zwei Jahrzehnte währenden Wiederaufbauboom ab 1970 eigentlich wirtschaftlich nie wieder richtig auf die Füße gekommen sind, stärker durch. Dass gewisse Dinge im Westen 20 Jahre warten mussten, bis das gesamte Land die Einheit auch wirtschaftlich halbwegs verdaut hatte, war klar. Dass Deutschland also in der langen Stagnations- und Massenarbeitslosigkeitsphase ab 1992 bis ca. 2006 (in der aktuellen Nachschau seltsam verklärt zur guten alten Zeit), meinetwegen noch verlängert um die hier sonst kaum bemerkte Weltwirtschaftskrise ab 2007/2008 nicht viel investieren konnte in den Bestand - geschenkt.
Der Fehler liegt aus meiner Sicht ganz klar in der Wachstumsphase ab 2010, die bis zur Coronapandemie dauerte und in denen das Land über viele Jahre (2013-2019 etwa) Haushaltsüberschüsse registrierte. Diese Phase, in der man das Land infrastrukturell hätte fit machen müssen für die sich auch ohne Corona und Ukrainekrieg bereits klar abzeichnenden deutlich weniger gloriösen 2020er Jahre, in denen die Boomerjahrgänge en masse in Rente gehen und sich das bisherige, auf Globalisierung und sicherem Freihandel beruhende deutsche Wirtschaftsmodell neuerfinden muss - die wurde verplempert mit Schuldenbremse und schwarzen Nullen. Jetzt fallen uns die auseinanderfallende, jahrzehntelang auf Verschleiß gefahrene Infrastruktur zeitgleich mit einer extrem herausfordernden Polykrise zusammen auf die Füße bei gleichzeitig deutlich gestiegenen Zinsen.
Dass es in Bayern insgesamt noch besser aussieht als in NRW liegt daran, dass Bayern natürlich nicht noch zusätzlich einen solch herausfordernden Strukturwandel wie das Ruhrgebiet hinter sich bringen musste und auch zumindest die kommunalen und Landesinvestitionen auf höherem Niveau halten konnte. Wahrscheinlich wurde es auch einfach zumindest etwas besser regiert.
Newly ist aber natürlich auch zuzustimmen, dass man Gelsenkirchen weder 1966 noch 1986, noch 2006 in der Rückschau allzu stark glorifizieren sollte. Und ich folge so einigen britischen Youtubern, die Videos aus englischen Städten aufzeichnen und traue mich vorsichtig zu sagen, dass die oben genannte Polykrise sowie die Austeritätspolitik im UK seit etwa 2010 dort zu wesentlich schlimmeren optischen und sozialen Verwüstungen geführt hat als in irgendeiner Stadt in Deutschland. Wer mag, kann ja mal Grimsby oder Blackpool oder Weston super Mare googeln (im Prinzip jede britische Stadt mehr als 100 km nördlich und westlich von London).
Abschließend finde ich es auch gut, dass die EM nicht nur in 4 oder 5 ausgewählten und schick gemachten, hauptstadttauglichen Traumstädten stattfindet, sondern eben auch dort, wo der Fußball wirklich geliebt wird, in (ehemaligen) Arbeiter- und Industriestädten.