Bremen - Ortsteil Neustadt

  • Sehr geehrter Heimdall,


    der Bauschmuck in dieser Ausprägung und Machart ist in Bremen an vielen Gebäuden aus der Zeit zu finden.

    Meine - unten noch näher auszuführende - Vermutung ist, daß die enge Zusammenarbeit der seinerzeitigen Bauverwaltung mit einem ganz bestimmten (aus Leipzig gebürtigem aber in Bremen heimisch gewordenen ) Bildhauer für diese Häufigkeit des Vorkommens verantwortlich sein könnte...

  • Abbildung 16

    Relief am westlichen Kopfbau am Nordende der Straße.

    Kniende weibliche Figur vor Konche mit Kornähre um die Hüften, Vase und Schale in den Händen und vier Sternen im Umfeld


  • Aspekte einer Ikonographie der Ingelheimer Straße


    Die in den Giebeln der Straße immer wiederkehrenden Motive von Komet, Taube und Blume, unter deren Schirm (Giebel und First) man die Häuser stellte, könnten ein Vereis auf den Stern von Bethlehem (Komet), Maria (die Blume als Rose gedeutet) und Christus (die Taube des Friedens) sein.


    Diese allgemein christliche Unterschutzstellung der Straße bildet den Rahmen für das ikonographisch eindeutig wichtigste Element : Die Zentralanlage.


    Dabei wollen wir das schönste Gebäude der Straße – das auf der Ostseite gelegene - vorerst außer acht lassen und uns auf das Haus an der Westseite konzentrieren. Die drei Reliefs dürften nämlich die entscheidendste Botschaft des ganzen Bildprogramms der Straße transportieren:


    Unter christlichen Vorzeichen sind Löwe und Taube rasch gedeutet: Jesus, als der ‚Löwe von Juda’ und seine ‚Friedensbotschaft’ (die Taube). Was hat aber der Seefahrer in der Mitte damit zu tun ? Möglicherweise soll er einen Missionar darstellen, der die frohe Botschaft vom Herrn und Heiland über die Meere zu neuen Ufern trägt ?


    An diesem Punkt nun kommt die Stadt ins Spiel, deren Name die Straße trägt: Ingelheim.


    In der berühmten dortigen Kaiserpfalz hielt im Jahre 826 der Sohn Karls des Großen, Kaiser Ludwig der Fromme, eine Bischofssynode ab, die einen gewissen ‚Angar’ beauftragte, eine Gruppen von Missionaren nach Dänemark zu führen…


    Bingo !!! :trommeln:


    Vorausgesetzt diese Theorie ließe sich durch Quellenstudium verifizieren, dann könnte man nur den Hut vor den seinerzeitigen Planern von Straße und Bildprogamm ziehen. Denn es zeugte schon von einem hohen Grad an Feinsinnigkeit, daß sie gerade dasjenige Element aus der Geschichte der durch die Benennung geehrten Stadt herausgesucht hätten, welches Ingelheim im frühen 9. Jahrhundert tatsächlich mit Bremen in Verbindung gebracht hatte…

    Diese Gabe einer derart höchstindividuellen Einwurzelung eines Bauprojektes am konkreten Ort seiner Ausführung scheint leider heute absolut verloren gegangen zu sein.


    Und nun wird es zum – vorläufigen - Abschluß für heute wirklich etwas ‚esoterisch’: Liebe Mitforisten erinnern Sie sich noch an meine Worte vom Nazgul und dessen Wirkung auf Frodos Sinne eingangs dieses Themenbeitrages ? Nun, möglicherweise hat der Ansgar der Zentralanlage die gleiche Wirkung auf mich gehabt…



  • Ansgar vor Kaiser Ludwig dem Frommen in Ingelheim


    ... den Missionsauftrag entgegennehmend.



    (Fresko aus der Ansgar-Kapelle in Birka)

  • Arbeitshypothese: Ansgar auf dem Weg von Ingelheim nach Dänemark



    Ich bitte - um mit den Worten Karl Poppers zu sprechen - die geehrten Mitforisten um 'Falsifizierung' .


    Denn ich möchte nicht, daß es am Ende noch heißt , ich würde überall in manischer Weise nur noch Ansgar erblicken... %-):gehtsnoch::wink:

  • Doppelt hält besser !


    Beim Vergleich des aktuellen Fotos des westlichen Teile der Zentralanalge mit einem Bild aus den 1930er Jahren, springt die hier angewandte elegante Lösung des Problems von ansonsten potentiell oft recht trist und kahl wirkenden Giebelwänden bei Endhäusern von Reihenhauszeilen direkt ins Auge: Der raffinierte Erker am Südende der Westseite der nördlichen Straßenhälfte. Dessen Wirkung wird in der Gegenwart allerdings durch den seit den 30er Jahren stattlich emporgewachsenen und viel zur Beschaulichkeit der Straße beitragenden Baum etwas in den Hintergrund gedrängt.


    Ein besonderes ‚Schmankerl’ des historischen Fotos ist zudem die ‚Entdeckung’, daß – sozusagen - in Ergänzung zu dem mutmaßlichen Ansgar-Relief am westlichen Gebäude der Zentralanlage, etwas ganz Spezielles im Hintergrund über den Dachfirsten emporragt: Jawohl, der Turmhelm von Anschari ! Möglicherweise ist das Relief seinerzeit gerade so positioniert worden, um diese Perspektive auf ‚Ansgar im Doppelpack’ zu ermöglichen ? Wer weiß…


    Abbildung 01

    Zwischen den beiden Ansichten liegen rund 90 Jahre.



    Abbildung 02

    Pfeil : Ansgar-Relief; Kreis: Turmhelm von St. Ansagrii.


  • Die Bauplastik der Ingelheimer Straße : Ein Werk von Rudolf Gangloff ?


    Das Bauensemble der Ingelheimer Straße wurde in den Jahren 1925 bis 1927 vom ‚Gemeinnützigen Bremer Bauverein’ nach Entwürfen, die der Architekt Wilhelm Jänicke gemeinsam mit dem städtischen Wohnungsbauamt konzipiert hatte, errichtet.


    Über den Urheber der expressionistisch inspirierte Bauplastik der Straße findet sich in der Literatur hingegen leider kein expliziter Hinweis; lediglich die folgende kursorische Beschreibung des Befundes: „Die Dekoration der Fassaden erfolgt mit den ‚visionären Architekturen’ der gläsernen Kette (B. Taut): Muscheln, Kristalle und Knospen, die auf fundamentale Konstruktionsformen der Natur zurückgehen.“ (Quelle: Architektenkammer der Freien Hansestadt Bremen [Hrsg.]: Architektur in Bremen und Bremerhaven; Worpswede 1988: Worpsweder Verlag, S. 107). Diese nicht unbedingt mit den – oben vorgestellten - fotografisch erhobenen Daten zum Bauschmuck in Einklang zu bringende Aussage, hilft bei der Identifizierung des Künstlers nicht wirklich weiter.


    Der optische Abgleich mit urhebermäßig gesicherten Werken des Bremer Bildhauers Rudolf Gangloff führt hingegen zu der belastbaren Vermutung, daß die Bauplastik in der Ingelheimer Straße aus der Hand dieses Künstlers stammt (siehe unten).


    Rudolf Gangloff wurde am 21.02.1878 in Leipzig geboren. Er kam um 1903 nach Bremen, um unter Leitung des Architekten Johann Georg Poppe am neuen Ratsgestühl (Bremen – Altstadt – Ratsgestühl von 1903 ) als Holzschnitzer mitzuwirken. Er erhielt Aufträge zur Erstellung von historischen Innenstadtmodellen für das Focke Museum und später auch für ein derartiges Modell in der Böttcherstraße, deren Schöpfer, Ludwig Roselius, ein Freund und Gönner Gangloffs war. Aufgrund guter Beziehungen zum Bremer Bauhof (dem Hochbauamt) und zur Beamten Baugesellschaft Bremen erhielt Gangloff von dort zahlreiche Aufträge für ‚Kunst am Bau’, z.B. für Fensterlaibungen in der Schubertstraße und dem Adler am Postamt 5 gegenüber vom Hauptbahnhof. Nach eigener Aussage, wurde Gangloff vom Werk Barlachs stark beeinflusst. Inwieweit er auch der in der Literatur angesprochenen ‚gläsernen Kette’ Tauts nahestand, wäre noch zu prüfen. Von 1913 bis zu seinem Tode im Jahre 1967 wohnte er im Hause Illerstraße Nr. 8 (im Ortsteil Neustadt) dessen Erker zur Straße er mit Skulpturen seiner Familienangehörigen schmückte.


    Abbildung 01

    Grundlage des Vergleichs: Von Rudolf Gangloff geschaffene Tür.



    Abbildung 02

    Der liegende Hirsch: links auf der Tür, rechts am östlichen Gebäude der Zentralanlage.



    Abbildung 03

    Das Segelschiff: links auf der Tür, rechts am westlichen Gebäude der Zentralanlage. Man beachte die in beiden Fällen vorliegende eigentümlich charakteristische, gezackte Form des Wimpels am Mast.



    Abbildung 04

    Die aufsteigende Taube: links auf der Tür, rechts auf den Giebelvasen in der Straße. Die Machart ist sehr ähnlich, insbesondere die leicht geschwungene Form des Vogelkörpers.



    Abbildung 05

    Weintraube mit dem typischen ‚Gangloff-Blatt’: links auf der Tür, rechts am östlichen Gebäude der Zentralanlage.



    Abbildung 06

    ‚Weser Kurier’-Artikel über Rudolf Gangloff (dort fälschlicherweise mit dem Vornamen 'Ferdinand' versehen) vom 21.02.1953.




    Nun, liebe Forumskollegen: Ist diese Theorie belastbar ?

  • Unser geschätzter Forumsfreund Heinzer hatte schon am 19.03.2017 sehr schöne Bilder aus der Ingelheimer Straße im Galeriebereich hochgeladen. Anbei der Link dazu:


    RE: Bremen - Neustadt (Galerie)


    Einschlägig in dem Beitrag sind die Bilder 4 bis 8. Insbesondere Bild 8 gibt einen weiteren guten Eindruck vom Erscheinungsbild der Zentralanlage.

  • Die ‚Wunder’ der Ingelheimer Straße


    Mir ist es nun doch noch gelungen, ein passables Foto der zweiten (aktuell ja leider größtenteils zugewachsenen) Stelen-Variante aufzutreiben. Anhand dessen kann man das von Rudolf Gangloff Geschaffene recht gut erkennen: Eine Frau, welche ein Einhorn am Horn hält. Im Hintergrund ein großes, deutlich geädertes Blatt. Beim Motiv ‚Dame mit Einhorn’ denkt man natürlich schnell an den berühmten gleichnamigen sechsteiligen Wandbehang des Hôtel de Cluny im Pariser Quartier Latin. In diesem Gobelin-Zyklus stehen Dame und Einhorn – gemäß der christlichen Ikonographie – für Maria und Jesus. Das Einhorn, welches seinen Kopf im Schoß der Maria ausruht versinnbildlicht das Wunder der Inkarnation der Gottheit in Marien. Und blickt das Einhorn auf der Stele Gangloffs nicht in den Schoß der Dame ?


    Wenn mit diesem Kunstwerk also auf das ‚Wunder’ der Jungfrauengeburt angespielt werden soll, so ergibt sich in logischer Konsequenz die Deutung der zweiten Stelen-Variante als Darstellung des Wein-Wunders bei der Hochzeit von Kana (Trauben: für den Wein; die zwei Putten und die Querflöte : für die Hochzeitsfeier; die Taube : für die Kraft des Heiligen Geistes, die aus dem Wasser Wein werden ließ).


    Vor diesem Hintergrund wäre die Deutung der ungewöhnlichen ‚Urne’ nun geradezu zwingend: Geburtswunder (Jungfrauengeburt) und erstes eigenes Wunder Jesu (Weinwunder von Kana) werden vollendet in dem Opferwunder, mit dem der Tod überwunden wurde: Somit könnte die Urne den Kelch des Heils, den Gral darstellen…


    Meine Güte, die Bedeutung der Friedrich-Ebert-Straße zum Flughafen verblasst aber deutlich neben dieser ‚heilsgeschichtlichen’ Rolle der Ingelheimer Straße …

    Die Such nach dem Gral kann somit eingestellt werden: Er befindet sich in der Ingelheimer Straße in Bremen ! :engel:;)


    P.S.: Und ich Naivling dachte zunächst, die feiernden Putten auf der ersten Stelen-Variante wären ganz einfach nur als Hommage an den guten Ingelheimer Wein gedacht. Weit gefehlt !!!


    P.P.S. : Wäre die Deutung des geäderten Blattes auf der zweiten Stelen-Variante als – Sinnbild der ‚Wurzel Jesse’ zu weit hergeholt ?


    Abbildung 01

    Stele - Wunder der ‚Jungfrauengeburt’.




    Abbildung 02

    Einer der Gobelins aus der Reihe ‚Die Dame mit dem Einhorn’ im Hôtel de Cluny.




    Abbildung 03

    Stele - ‚Weinwunder von Kana’.




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    Abbildung 04

    Wunder der Besiegung des Todes: Der Gral.



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    So - und nun werden mich die verehrten Mitforisten für komplett übergeschnappt halten...%-)

  • Bin im Urlaub, deshalb grade abgetaucht und nur mit Handy, aber hier muss ich doch mal wieder meine Hochachtung aussprechen, was Sie hier an Inhalt raushauen, lieber Pagentorn, beeindruckend. Ein kurzer, fast aus dem Ärmel geschüttelter Ritt durch die einmalige Ingelheimer Straße mit soviel Fachwissen, Assoziationen und interessanten Querverknüpfungen, so etwas können hier nicht viele.


    Werde mich auch inhaltlich nochmal äußern, wenn ich wieder zu Hause bin.

  • Eine protestantische ‚Heilige Mutter Kirche’


    Das Relief am westlichen Kopfbau am Nordende der Straße (dem mit dem ‚Hauch eines Dozentenhauses in Harvad’) hätte sich meiner Deutung sicher auf längere Zeit entzogen, wenn mir nicht per Zufall eine Illustration aus einem Psalter unter die Augen gekommen wäre, der im 11. Jahrhundert im Stammkloster der Benediktiner auf dem Montecassino entstanden ist.

    Diese Illustration zeigt die ‚Mater Ecclesiae’ (die ‚heilige Mutter Kirche’) zusammen mit ihren beiden Gliedern: links dem Klerus (der Geistlichkeit) und rechts dem Populus (dem Kirchenvolk, den Laien).

    Die Frontalansicht der beiden Figuren, ihre Armhaltungen, ihre Stellung unter einem Bogen und auch die Position der vier Lichtquellen (auf dem Relief Sterne, auf dem Psalter Hängeampeln), lassen die Vermutung zu, daß sich Gangloff zumindest von ähnlichen Darstellungen der ‚Mutter Kirche’ inspirieren ließ und Teile davon in das Relief einfließen ließ.

    Wenn wir einmal von einer tatsächlichen Vorbildwirkung derartiger ‚Mater Ecclesiae’-Darstellungen ausgehen, dann kommt den Elementen die von Gangloff nicht übernommen bzw. vom ihm hinzugefügt wurden eine besonderer Aussagekraft zu. So verzichtet das Relief auf die explizite Darstellung von Klerus und Laien, ersetzt diese aber durch die Hinzufügung der von den Händen der ‚Mutter Kirche’ gehaltenen Elemente Kelch (links) und Brotlaib (rechts). Die Zuordnung entspricht zwar noch der vorreformatorischen Tradition (Kelch-Klerus; Brot-Laien), aber dadurch, daß die beiden Gruppen im Relief nicht mehr auftauchen werden Brot und Wein nun für alle Christen verfügbar. Wir haben es hier somit mit einer evangelischen ‚Mater-Ecclesia’ zu tun, die das Abendmahl in ‚beiderlei Gestalt’ spendet.

    Die große, die Hüften der Figur umgebende Kornähre, die im Psalter nicht vorhanden ist, könnte schließlich der ‚überfällige’ Hinweis auf den ‚Leib Christi’, das Brot, sein, nachdem dem ‚Blut des Herrn’, dem Wein, andernorts in der Straße schon mehrfach bildhauerisch gehuldigt wurde.


  • Reliefs am östlichen Gebäude der Zentralanlage

    Teil 1: Der ewige Kampf zwischen Gut und Böse


    Nun steht nur noch die Dechiffrierung des Bauschmucks am östlichen Gebäude der Zentralanlage aus. In den beiden unteren, länglichen Reliefs wird die Dichotomie von Gut und Böse thematisiert. Dabei bilden Eichhörnchen und Katze (so schwer es mir als Freund der possierlichen, in meinem Garten gern gesehenen Nager und als Katzenliebhaber fällt, dies zu schreiben) den Part der ‚Finsternis’. Dem Eichhörnchen wurde nämlich nachgesagt, daß es durch seine Drolligkeit, die Aufmerksamkeit der Gläubigen vom Gottesdienst ablenke und sich dadurch als Tier des Teufels zu erkennen gäbe. Und Katzen sind leider – viel zu lange – bekanntermaßen als Sinnbild alles Dämonischen und Hexerischen angesehen worden. Taube und Hahn stehen demgegenüber für das ‚Licht’. Bei der Taube denkt man natürlich unmittelbar an den Heiligen Geist und das Symbol des Friedens. Aber auch an Noahs Taube sei erinnert, die den ersehnten Zweig als Nachricht, daß die Wasser zurückgehen, zur Arche bringt. Und läßt nicht auch Gangloff seine Taube hier einen Zweig im Schnabel halten ?! Der Hahn schließlich ist das Symbol für Wachsamkeit und Treue, der die Christen daran erinnert mit Christus verbunden zu bleiben und ihn nicht zu verraten (man denke an den Jesus verleugnenden Petrus und den dreimal krähenden Hahn).


    Neben den vier großen Tieren selber, ist ebenfalls noch wichtig, zu beachten, welche Attribute ihnen zugeordnet sind. So sind Taube und Hahn mit Weintraube bzw. Kleeblatt durch positive Dinge charakterisiert, während Eichhörnchen und Katze mit einer undefinierbaren – wahrscheinlich für Menschen giftigen – Nuß bzw.einer Maus negativ konnotierte Dinge in ihren Fängen halten. Hier steht wohl der Bibelspruch „An ihren Früchten sollt Ihr sie erkennen“ im Hintergrund.


    Die beiden länglichen Reliefs illustrieren somit das Hineingestelltsein des Menschen in die Welt und die unablässig an ihn herangetragene Anforderung, sich für das Gute oder Böse zu entscheiden.


    Abbildung

    (Zur Erinnerung mein Foto vom letzten Samstag)


  • Reliefs am östlichen Gebäude der Zentralanlage

    Teil 2: Mit den Reformatoren zu den Quellen des Glaubens


    Das nördliche, der beiden oberen Reliefs zeigt einen Hirschen. Der Hirsch symbolisiert den Gott suchenden Menschen. Die Seele des Menschen sehnt sich nach Gott, so wie der Hirsch nach erquickendem Wasser dürstet (siehe dazu Psalm 42,2). Nicht selten wird der Hirsch daher an den ‚Wassern des Lebens’ dargestellt. Folglich bildet Gangloff ihn hier über Wellen ab. Er läßt den Hirsch außerdem zu einem Stern hinüberblicken, der – in diesem Kontext - für Gott steht.

    Auf dem südlichen, der beiden oberen Reliefs erblicken wir zwei Schwäne die auf Wellen in Richtung eines Rebstocks mit reicher Frucht schwimmen. Der letztere ist – im Zusammenschau mit dem übrigen plastischen Bauschmuck der Straße - leicht als Wurzel Jesse, Rebstock des Herrn und Kelch des Heils, also Christus zu deuten. Die beiden Schwäne hingegen sind da nicht ganz so einfach zu entschlüsseln. Der einzelne Schwan, wird ausgehend von einer Prophetie des Jan Hus, als Symbol für Martin Luther gesehen. Und diese Deutung würde hier bestens passen: Ein Schwan, der zur Quelle des Glaubens, zum Kelch des Heils, Jesus Christus schwimmt: sozusagen gut protestantisch ‚ad fontes’ und ‚sola scriptura’ ! Aber hier sind es zwei Schwäne: Dies könnte ein verklausulierter Hinweis Gangloffs auf die zweifache Reformation in Bremen sein: Ab 1522 die lutherische und ab Ende des 16. Jahrhunderts die reformierte (calvinistische). Gerade die calvinistische Prägung Bremens , wird es dem Lutheraner Gangloff (er war ja gebürtiger Sachse) oft nicht ganz leicht gemacht haben...


    Abbildung 01

    (Zur Erinnerung mein Foto vom letzten Samstag)



    Abbildung 02

    'Luther mit dem Schwan'. Gemälde in der Kirche von Strümpfelbach im Remstal. (Foto von Ecelan.)


  • Zusammenfassung:


    Die Ingelheimer Straße enthält ein – trotz bescheidenem Umfangs – recht eindrucksstarkes ikonographisches Programm: Der Weg führt vom Beginn der Heilsgeschichte (Komet, Maria und Jesus in den Giebel der ‚einfachen’ Häuser) über die Verbreitung der frohen Botschaft durch Missionare (Ansgar) und den ständigen Kampf des einzelnen Christen gegen das Böse und um den rechten Glauben (Zentralanlage), zur Gemeinschaft des Kirchenvolkes unter dem Schutz der ‚Mater Ecclesiae’.


    Daß Gangloff, der sicherlich kein besonders frömmelnder Mann war – immerhin arbeitete er auch in großem Umfang für gewerkschaftliche Bauvorhaben – Mitte der 20er Jahre ein solches Bildprogramm entwarf, ist schon bemerkenswert. Vielleicht wirkte tatsächlich noch der Impetus des berühmten von S.M. stammenden, auf die Arbeiterschaft bezogenen Diktum nach ‚Ich will, daß meinem Volk die Religion erhalten werde’. Wie dem auch sei, die Straße und ihr Bildprogramm atmet auf jeden Fall den Geist des ‚Berliner Kirchenbauvereins’ und hätte bestimmt auch inhaltlich das volle Einverständnis von dessen hoher Patronin I.M. Kaiserin Auguste Viktoria gefunden, wenn diese nicht bereits 1921 verstorben wäre. :koenig:

  • Ich frage mich, ob bei dem Ende Dezember 2019 hier im Forum vorgestellten Bauschmuck der Kunstgewerbeschule am Wandrahm (in der Bahnhofsvorstadt) möglicherweise auch die Hand Gangloffs zu erahnen ist. Es gibt schon stilistisch große Ähnlichkeiten und Einiges am Wandrahm könnte schon eine Vorstufe der ausgeprägteren und etwas abstrakteren Handschrift in der Ingelheimer Straße sein.


    RE: Bremen - Bahnhofsvorstadt


    Nun, zur Klärung wäre Aktenstudium im Staatsarchiv erforderlich. Also, wer die Zeit dafür hat...


    P.S.: Jenseits des ja schon verifizierten Adlers am Postamt 5 (gegenüber vom Hauptbahnhof), könnten auch viele Teile des sonstigen Bauschmucks an diesem Gebäude von Gangloff stammen; natürlich auch die Spolien, die seit den späten 80er Jahren (nach Abriß des östlichen Flügels) in einer wilden Deponie hinter dem Neustadtsbahnhof lagern, wie findorffer herausgefunden hat.

  • Illerstraße Nr. 8 : Das Wohnhaus von Rudolf Gangloff


    Da wir nun schon recht umfangreich eines seiner - sehr mutmaßlichen - Werke (den Bauschmuck in der Ingelheimer Straße) betrachtet haben, halte ich es für durchaus angebracht, hier noch kurz das Haus vorzustellen, in dem der Bildhauer Rudolf Gangloff viele Jahrzehnte seines Lebens verbrachte. Am Erker zur Straße hin hat er seine Frau, seine fünf Kinder und sich selber in sehr ausdrucksstarken Plastiken verewigt.

    (Bis auf die Luftbilder wurden alle folgenden Fotos von mir am 31.07.2020 aufgenommen.)


    Abbildung 01

    Luftbild der Illerstraße zur Illustration ihrer Lage innerhalb des Ortsteils 'Neustadt', zwischen Lahnstraße und Pappelstraße.



    Abbildung 02

    Luftbild der Illerstraße, welches erkennen läßt, daß die Illerstraße nur ostseitig bebaut ist. Die Westseite bilden die rückwärtigen Gärten der Delmestraße.



    Abbildung 03

    Luftbild des Hauses Gangloff und seiner näheren Umgebung.



    Abbildung 04

    Die Ostseite der Illerstraße aus Richtung Süd (von der Einmündung in die Pappelstraße aus betrachtet).



    Abbildung 05

    Das Gangloffhaus - Nr. 8, in der Bildmitte - von Süden betrachtet.



    Abbildung 06

    Ansicht des Gangloff Hauses von Norden.



    Abbildung 07

    Das Gangloff Haus von der Lahnstraße aus gesehen.


  • Abbildung 08

    Frontalansicht von Haus und Erker.


    Abbildung 09

    Erker, Schrägansicht von Norden



    Abbildung 10

    Erker von Nord.



    Abbildung 11

    Erker von Süd.




    Abbildung 12

    Erker frontal.


  • Abbildung 12

    Linke Flankenfigur 'Mutter' (Frau Gangloff) mit Kind im Arm, als Sinnbild für ihre behütende Rolle.


    Abbildung 13

    Rechte Flankenfigur 'Vater' (Selbstbildnis Rudolf Gangloff) mit Kornähre über der Schulter, als Sinnbild für seine ernährende Rolle.


    Abbildung 14

    Linke Mittelstrebe. Kinder: Die ängstliche 'Händefalterin' und der 'Fingerfertige' (stehend über Haus und Turm aus Bauklötzen), evtl. mit Segelboot-Modell ?


    Abbildung 15

    Rechte Mittelstrebe. Kinder: Der 'Apfelbeißer' mit Ball und die 'Nasebohrerin' mit Puppe.


  • Interessant wie immer! Ärgerlich bleiben die vollkommen unpassenden Fenster in diesem Haus und v.a. in der Ingelheimer Straße. Eine solch schöne Straße, und dann haben vielleicht noch ein Viertel der Häuser die originalen (oder an das Original angelehnten) Sprossenfenster, Fensterläden und aufwendig gestalteten Haustüren. Gerade für die Ingelheimer Straße, über deren bauhistorische Bedeutung durchaus auch die Bewohner Bescheid wissen, wundert mich das sehr. Möglicherweise sind aber doch noch mehr Häuser in "Altbesitz" und die Eigentümerwechsel, die mittlerweile häufig (aber immer noch viel zu selten) zu einer Korrektur dieser Missstände führt, noch nicht vollzogen.


    P.S.: Auf den Luftbildern in vielen Ihrer Beiträge sieht man herrlich die vollkommen erhaltene gründerzeitliche Struktur des Orts- und weiter Teile des Stadtteils Neustadt, hinzu kommt die sehr bremische Form der Reihenhausbebauung mit erhöhter Bebauung der Ecken mit typischen Gründerzeitmietshäusern. Diese Grundstruktur ist in sehr vielen Bremer Stadtteilen noch gut erhalten, aber wohl nirgends so eindrücklich und mit dem rechteckigen Straßengrundriss wie in der Neustadt.