Berliner Wohnsiedlungen bis 1945

  • Prima, ein sehr schöner Strang. Ich drücke ausnahmsweise keine Daumen oder Herzchen, sondern schreibe diese zwei Sätze.

  • Abgesehen von den gründerzeitlichen Quartieren sind die Wohnsiedlungen der Weimarer Zeit für viele Teile Berlins prägend, vor allem natürlich in den am Ende der Gründerzeit noch unbebauten Gebieten etwa auf halbem Weg zwischen den dörflichen Kernen. Die meisten dieser wenig spektakulären Wohnanlagen wurden von den damals noch recht jungen kommunalen Wohnbaugesellschaften und Baugenossenschaften erbaut, wodurch anders als bis dahin auch ohne kapitalkräftige Bauherren und Anteilseigner viel Wohnraum geschaffen werden konnte. Insbesondere für die untere und mittlere Mittelschicht der Stadtgesellschaft entstanden so qualitativ hochwertige Wohnungen mit guter Anbindung an den damals noch stark expandierenden schienengebundenen Nahverkehr.

    Heute sind es meist ruhige, durchaus gepflegte Wohnquartiere. Die meisten Wohnsiedlungen der Weimarer Zeit stehen in Berlin unter Denkmalschutz.

    Heute möchte ich einen recht durchschnittlichen Vertreter dieser Wohnsiedlungen vorstellen, die Wohnanlage "Blanke Helle" in Tempelhof, errichtet 1929-1931 durch die landeseigene Deutsche Gesellschaft zur Förderung des Wohnungsbaues, kurz Degewo. Die Architekten waren Erich Glas und Hans Jessen. Nach Kriegsschäden wurde die Siedlung 1949-54 wiederaufgebaut, 2012-13 komplettsaniert. Denkmalschutz besteht seit 1995.

    Die Siedlung umschließt den erstaunlich tief gelegenen eiszeitlichen Toteispfuhl Blanke Helle halbkreisförmig:

    Die etwas eigenartige Stierskulptur entstand 1934-36 nach Entwürfen des Bildhauers Paul Mersmann. Weitere interessante Informationen über den Platz, die Skulptur und die Wohnanlage bei Wikipedia.

    Durch die Bäume sieht man den 5-geschossigen südwestlichen Kopfbau der Wohnanlage:

    Die vielfach geteilten bauzeitlichen Fenster wirken trotz des Fehlens jeglichen Bauschmucks angenehm. Die senkrechten Fensterbänder zur Belichtung der Treppenhäuser gliedern die breiten Hausfronten und mindern die Monotonie. Damals verstand man es noch, solche Treppenhaus-Fensterbänder nicht nur beliebig wie einen Keil in die Fassade zu rammen. Vielmehr wirkt das Gesamtbild der Fassadenelemente aus Fenstern, Loggien, Balkonen und den Eingängen durchdacht auf eine ästhetisch befriedigende Gesamtwirkung hin komponiert. Auch die Architekten jeglicher Alltagsarchitektur hatten das in der damaligen Zeit offensichtlich noch gelernt.

    Zwei typische, schlichte Hauseingänge im Stil des Neuen Bauens:

    Eingestellte Bilder sind, falls nicht anders angegeben, von mir

  • Ansicht bei StreetView

    Eintrag in Denkmaldatenbank

    Ruhige Neben- und Querstraßen prägen das Bild:


    Sicherlich boten Wohnsiedlungen dieser Art nicht mehr die vielfältige Durchmischung und Belebtheit innerstädtischer Gründerzeitquartiere, aber das war damals natürlich auch nicht intendiert. Dennoch wurde die Blockstruktur der Stadt im Prinzip fortgeführt.

    Wohnsiedlungen dieser Art scheinen die "richtige" Größe und Unterteilung der Hausgemeinschaften zu haben. Sie sind nie soziale Brennpunkte der Stadt gewesen. Vielleicht hat es mit dem Gleichgewicht aus privater Rückzugsmöglichkeit und nachbarschaftlicher Beachtung und Rücksichtnahme zu tun, die diese Wohnanlagen bieten und die sie im Grunde noch mit ihren gründerzeitlichen Vorläufern gemein haben. Dies ist ein architektursoziologischer Aspekt des Städtebaus, von dem man hoffen sollte, dass er auch beim Wohnsiedlungsbau der Gegenwart und Zukunft Beachtung findet.

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  • Snork 13. März 2022 um 22:25

    Hat den Titel des Themas von „Berliner Wohnsiedlungen bis 1945 (Galerie)“ zu „Berliner Wohnsiedlungen bis 1945“ geändert.
  • Die zwischen 1905 und 1913 entstandene Bebauung um den Rüdesheimer Platz im Rheingauviertel in Wilmersdorf ist beispielhaft für ein in einheitlichem Stil gestaltetes spätgründerzeitliches Bauensemble, das den städtischen Raum vollgültig erweitert und sich nicht, wie später die Wohnsiedlungen der Weimarer Zeit, bereits teilweise vom Straßenraum abwendet. Die Häuser wurden von der Terraingesellschaft Berlin-Südwesten in einheitlichem Stil nach dem Vorbild einer englischen Gartenstadt erbaut (Architekt Paul Jatzow) und haben den Krieg weitgehend unbeschädigt überstanden. Heute ist die Gegend um den Rüdesheimer Platz ein beliebter Kiez mit hohem Identifikationswert und ein hervorragendes Beispiel gelungener integrativer Stadtentwicklung. Die New York Times zählte die Rüdesheimer Straße und den Platz 2015 zu den 12 besten Straßen in Europa.

    Eintrag Denkmaldatenbank

    StreetView

    Nordseite des Platzes:

    In den Jahren ab 1910 war es in Berlin bereits üblich, Stuckdekor nur noch sparsam zu verwenden. Der Vergleich mit historischen Fotografien zeigt, dass die Fassaden nicht entstuckt worden sind.

    Südseite:

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  • Gut angepasster Neubau an der nördlichen Ecke zur Rüdesheimer Straße:

    An der Nordseite des Platzes steht die Häuserzeile leicht erhöht hinter Vorgärten, was den geschlossenen Charakter der Platzanlage noch verstärkt:

    Hierher transloziertes historisches Toilettenhäuschen:

    Der Siegfriedbrunnen, 1911 von Emil Cauer d. J.:

    Relief an einer Hausfassade:

    Ein typischer Giebel mit Blendfachwerk und holzverschalter Spitze:

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  • Manche Wohnsiedlungen nimmt man kaum als solche wahr, andere sind wie eine eigene Welt. Zu letzteren zählt wohl die vom Siemens-Konzern nach Plänen des leitenden Hausarchitekten Hans Hertlein in den 1920er Jahren in mehreren Abschnitten erbaute Wohnsiedlung im Bereich der Rieppel- und Rapsstraße (StreetView). Die Wohnsiedlungen der Siemensstadt, die ich noch eingehender vorstellen werde, wurden ab Anfang des 20. Jahrhunderts für die Mitarbeiter der benachbarten Siemenswerke erbaut und stehen unter Denkmalschutz (Denkmaldatenbank).

    Die Wohnanlagen im Bereich der Rieppel- und Rapsstraße wurden im Stil der "guten alten Zeit" um 1800 errichtet, die in der Weimarer Zeit noch von vielen Architekten als vorbildhaft angesehen wurde. Hinzu kam der aus England stammende Gedanke der Gartenstadt, der ein idyllisches und gesundes Leben im Grünen als Ideal ansah.

    Mir persönlich hat diese Wohnanlage besser gefallen als die benachbarten, schon überwiegend der zeitgleich sich etablierenden Moderne zuzurechnenden Wohnanlagen des UNESCO-Bereichs Großsiedlung Siemensstadt.

    Platzartige Aufweitung der Rieppelstraße mit den beidseitigen Hertlein-Bauten:

    Die Fensterläden tragen sicherlich ganz wesentlich zum freundlichen Charakter der Anlage bei:

    Baujahr 1929:

    Die Eckbauten wurden durch Erker betont:

    St. Florian:

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  • Um die Ecke dann die Bauten der Harriesstraße, die einen etwas anderen Charakter haben. Hier wurden Fensterläden nur in den Erdgeschossen angebracht:

    Ehrenhof mit Genoveva-Brunnen:

    Recht sparsam verwendete, keramische Reliefs:

    Dieser Bauteil ist etwas älter als jener in der Rieppelstraße:

    Blick durch den Torbogen rechts im oberen Bild:

    Typisch für den Stil der konservativeren Wohnsiedlungen der Weimarer Zeit waren die etwas kunstvoller gestalteten Rahmungen der Eingangstüren:

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  • Wirklich extrem schöne, individuell und mit Liebe gestaltete Siedlungen. Irre, was in Berlin so alles "rumsteht" und das kein Tourist je sieht.

  • Durch den im vorherigen Beitrag im vorletzten Bild erkennbaren Torbogen geht es in die leicht gewunden verlaufende Rapsstraße, wo sich vor den ein- bis zweigeschossigen Häusern gepflegte Vorgärten finden. Eine kleine, romantisch wirkende Welt für sich.

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  • Die eigentliche Großsiedlung Siemensstadt wurde zwischen 1929 und 1931 nach Entwürfen verschiedener Architekten erbaut und befindet sich bereits im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf, wenn auch nur wenige 100 m südöstlich der oben gezeigten Wohnsiedlung von Hans Hertlein. Näheres zu den verschiedenen Bauabschnitten der von der UNESCO seit 2008 zum Welterbe gerechneten sechs Wohnsiedlungen der Berliner Moderne findet sich exemplarisch in dieser Quelle.

    Von ChrisFessel - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=79844824

    Bauzeilen von Walter Gropius:

    Dass auch die Architekten des Neuen Bauens der Weimarer Zeit noch eine klassische Architektenausbildung erhalten hatten, merkt man durchaus. Von den Bauabschnitten der Großsiedlung Siemensstadt sind seine Häuser äußerlich am eindeutigsten der Bauhausmoderne zuzuordnen, aber auch sie zeigen noch eine Eleganz und Stimmigkeit der Proportionen, die ab 1945 weitgehend verloren gegangen ist. Als Illustration für diese eher intuitive Meinung nun noch ein Foto eines typischen Baus der 1970er Jahre, das den Unterschied zeigen soll:

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  • Ich vermag hier keinen Unterschied festzustellen. Das eine wirkt mehr aus der Zeit gefallen, weil es nicht die heute noch angesagten Farb- und Materialschemas aufweist. Mehr erkenne ich nicht. :wie:

  • Ich vermag hier keinen Unterschied festzustellen. Das eine wirkt mehr aus der Zeit gefallen, weil es nicht die heute noch angesagten Farb- und Materialschemas aufweist. Mehr erkenne ich nicht.

    Qualitätsunterschiede, die Fragen der Kunstauffassung betreffen, sind (leider) nun mal schwer zu begründen. Wie soll man unwiderleglich begründen, dass ein echtes Bild von Rembrandt eben doch eine höhere ästhetische Qualität hat als das eines weniger begabten oder schlechter ausgebildeten Nachahmers? Da versagt leider die Sprache. Hinzu kommt, dass auch Geschmäcker verschieden sind, schon die Geschmacksbildung bei jedem Menschen sehr unterschiedliche Tiefen aufweisen kann. Das alles ist ja auch wesentlicher Teil des Dilemmas, in dem wir uns mit unseren baukulturellen Idealvorstellungen befinden.

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  • Den Bauhausmodernismus finde ich bis auf wenige Einzelfälle auch völlig überbewertet.
    Aus der Zeit gibt es wahrlich interessantere und qualitativ anspruchsvollere modernistische Architektur.

    Von Art Deco, über Expressionismus, Streamline-Moderne, Amsterdamer Schule, Kubismus, Organic, bis Konstruktivismus.

    Einer der Hauptgründe, warum das Bauhaus so berühmt und bei den Bau-Eliten beliebt wurde: weil es den idealen ideologischen Unterbau für möglichst abgespeckte, schnell und billig zu errichtende Neubauten lieferte. Die meisten anderen Modelle der Zeit erforderten mehr Hirnschmalz und Gestaltungsfreude.

  • Qualitätsunterschiede, die Fragen der Kunstauffassung betreffen, sind (leider) nun mal schwer zu begründen. Wie soll man unwiderleglich begründen, dass ein echtes Bild von Rembrandt eben doch eine höhere ästhetische Qualität hat als das eines weniger begabten oder schlechter ausgebildeten Nachahmers? Da versagt leider die Sprache. Hinzu kommt, dass auch Geschmäcker verschieden sind, schon die Geschmacksbildung bei jedem Menschen sehr unterschiedliche Tiefen aufweisen kann. Das alles ist ja auch wesentlicher Teil des Dilemmas, in dem wir uns mit unseren baukulturellen Idealvorstellungen befinden.

    Ich bräuchte es gar nicht unwiderleglich, aber Du hast ja den Vergleich nicht zufällig gemacht zwischen diesen beiden Bauten. Da muss sich doch erklären lassen, was nun bei zweiterem Bau misslungener ist als bei ersterem. Ums mal plakativ zu machen, hier wäre für mich der Kontrast an Qualität offenkundig:

    w1200_h630_x1094_y845_wolbero1-2b84cccc365d23ec.jpg

    Oder etwas weiter weg vom Vergleichsobjekt:

    c543c267b2be3ce58d8ab1fac3692d9b.jpg

    Mit diesen Beispielen könnte ich schon objektiv erklären, was da vielleicht noch besser war bei den Gropius Entwürfen. Bei Deinem Vergleich kann ich das nicht, daher meine Nachfrage.

  • Da muss sich doch erklären lassen, was nun bei zweiterem Bau misslungener ist als bei ersterem.

    Ich fürchte, das ist nicht wirklich möglich. Es betrifft letztlich Fragen der Bewusstseinsbildung, die sich leider bis heute nicht wissenschaftlich erklären oder objektivieren lassen. Hier gibt es nur Empfindungen und Erfahrungswerte, deskriptive statistische Werte, die die Architekturpsychologie zu erfassen versucht. Aber keine objektiven Maßstäbe. Eigentlich jeder Mensch empfindet unmittelbar, was für ihn schön ist, und was weniger schön. Nur, ehrlich gesagt, objektivieren lässt sich das nicht. Eine altbekannte Problemstellung der Philosophie.

    Nur hält mich das alles nicht davon ab, hier den Forumsbesuchern meine Eindrücke und subjektiven Einschätzungen mitzuteilen, in der Hoffnung, dass dies auf fruchtbaren Boden fällt.

    In der Großsiedlung der Moderne in Siemensstadt gibt es meines Erachtens durchaus Unterschiede in der "künstlerischen Qualität" einzelner Baubereiche. Bei einigen Baublöcken bzw. Architekten scheint die Beachtung der Gesamtwirkung zum öffentlichen Raum hin eine größere Rolle gespielt haben als bei anderen.

    Hans Scharoun mit seinem "Panzerkreuzer", 1929-30:

    Die Fassadenfarben müssten mal wieder aufgefrischt werden...

    Auch dem "Langen Jammer" von Otto Bartning kann man eine gewisse Schönheit in der Gesamtansicht nicht absprechen, trotz der schwierigen Bauaufgabe:

    Dem stehen die Zeilen-Baublöcke von Hugo Häring gegenüber, die nach meinem Eindruck schon etwas plump gestapelt wirken. Sie nehmen dabei die sich in den Nachkriegsjahrzehnten ausbreitende Gleichgültigkeit der Architekten im Hinblick auf die ästhetische Gesamtkomposition ihrer Bauwerke vorweg:

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  • Ich fürchte, das ist nicht wirklich möglich. Es betrifft letztlich Fragen der Bewusstseinsbildung, die sich leider bis heute nicht wissenschaftlich erklären oder objektivieren lassen. Hier gibt es nur Empfindungen und Erfahrungswerte, deskriptive statistische Werte, die die Architekturpsychologie zu erfassen versucht. Aber keine objektiven Maßstäbe. Eigentlich jeder Mensch empfindet unmittelbar, was für ihn schön ist, und was weniger schön. Nur, ehrlich gesagt, objektivieren lässt sich das nicht. Eine altbekannte Problemstellung der Philosophie.

    Normalerweise wird bei so einem Problem ein statistisches Verfahren herangezogen, wie Du es glaube ich zumindest anschneidest. Ich wäre daher zutiefst überrascht, wenn man nicht statistisch klare Qualitätskriterien festmachen könnte. Meiner Vermutung nach ist das höchstens bisher nicht erfolgt, weil das eine hohe Finanzierung voraussetzen würde, die es wohl grundsätzlich bei der Erforschung in diesen Themenfeldern kaum gibt.

    Aber man kann auch ohne Forschung zumindest extrem grobe Pflöcke einschlagen, welche in etwa so gehen: Über die Innenräume der Moderne gibt es eigentlich kaum Diskurs. Jeder mag helle Räume, praktische Nutzbarkeit (z.B. Fenster, putzaufwandsarme Oberflächen,...), schönen Ausblick ggf. ins Grün, Barrierefreiheit, Größe und Weite, ... , alles Errungenschaften der modernen Gestaltung.

    Aber über die Fassaden gibt es einen riesigen Diskurs. Nun ist das eine Innen/Privat, das andere Außen/Öffentlich. Aber das ist zu einfach. Denn es gibt den latenten Wunsch, auch im Innern in Altbauten diese modernen Errungenschaften zu verwirklichen, soweit eben möglich. D.h. es herrscht dort eine relative Einigkeit über die Vorzüge der Gestaltung, selbst wenn sogar die Substanz eigentlich etwas anderes vorgibt. Die Vorzüge sind bei modernen Fassaden nicht Grundkonsens. Damit vermute ich, dass es hier bereits eine massengeschmackliche Disparität gibt, zwischen dem aktuellen Fassadenstandard und älteren Fassadenvorstellungen.

    Arbeiten Wir Uns hier weiter: Warum könnten alte Fassaden menschliche Grundwahrnehmungen vermutlich befriedigen? Auch hier wieder ein Indizienprozess: Die Natur als der ursprüngliche Lebensraum ist immer noch präsent. Jeder kennt die urmenschliche Art sich von Wasser angezogen zu fühlen, als Zufallsbeispiel. Alte Fassadengestaltung könnte mehr diesen Ansprüchen genügen, weil sie greifbarer ist, weil sie eingängig ist, weil sie anatomisch begründete Schönheitsaspekte aufnimmt, wie Symmetrie, weil sie ,,gefühliger" ist. Nicht umsonst heißt es hier Architektur für den Menschen.

    Die Attribute müssten und können sich auch an objektiven Merkmalen festmachen lassen.

    Ich habe bereits Symmetrie genannt, ein erwiesenermaßen sehr starker Reiz in Uns Menschen. Aber auch z.B. das Verhältnis zwischen den Materialien, vornehmlich das tragender (auch simulierter) Elemente und nicht tragender Elemente. Dann haben Wir auch ein ausgesprochen gutes Gefühl für Farben nach Wärme und Kälte. Zuletzt vielleicht noch das Sicherheitsgefühl, das geprägt ist von einer gewissen Einschließung, wie es z.B. vorkragende Fassaden tun. Das sind jetzt alles Ebenen, die eher gleicher sind bei den meisten Menschen. Der Schönheitsdiskurs hat aber viele Themen die dann doch individuell sind, hautpsächlich die Frage des Zuviels. Ab wann ist es Reizüberflutung z.B. Aber umgekehrt scheint es eine Mehrheitsmeinung zu geben, was zu wenig Reiz ist. Das fühlt sich dann unangenehm an, und scheint relativ vergleichbar zwischen Menschen.

    Also was sind die Pflöcke:

    - Unzufriedenes Gefühl mit heutiger Fassadengestaltung, aber zu wenig Leidensdruck

    - Alte Außengestaltungsformen orientieren sich stärker am menschlichen Wohlbefinden

    - Maßstäbe sind: Symmetrie, Ausgeglichenheit, Stabilität, Würdigkeit, Schutz, eher abweisend oder umschließend, Reizarmut

    Viele moderne Fassaden wirken instabil, sind eigentlich immer unsymmetrisch, haben kaum Würde u.a. durch die hässliche Form der Alterung (man zeige mir ein schönes nicht saniertes gealtertes modernes Gebäude), bieten optisch kaum Schutz, durch die Kastenform ohne Dach, sind abweisend, durch die Farben Weiß, Graustufen, bläuliches Glas, sehr reizarm durch die Großflächigkeit, industrielle Standardisierung und Minimalismus.

    Soweit einig mit den objektiven Maßstäben einer gelungenen Gestaltung?

    Noch ein kleiner Exkurs:

    Warum wird nun dann nicht einfach neu so gebaut, wenn es doch das Beste ist? Zuerst würde ich sagen, weil heute vorwiegend großdimensioniert gebaut wird, und die Moderne war die Antwort darauf (s. z.B. Entwicklung von Hochhäusern). Weil die Standardisierung und damit die Baukosten eng mit einer modernen Bauweise verknüpft ist. Auch, weil Wir in einer Gesellschaft leben, die die Gegenwart verherrlicht, die Zukunft und die Vergangenheit geringschätzt. Das schafft Anreize ,,zeitgemäß" zu bauen, bloß nicht auch nur ansatzweise ,,altbacken", aber auch nicht zu zukunftsbewusst (ob die Häuser schnell altern interessiert kaum). Dann haben Wir immernoch einen Altbaubestand, der all jene Menschen bindet, die eventuell auch noch traditioneller gebaut hätten. Umgekehrt gibt es viele Gesellschaftsgruppen, die nie von traditionellen Wohnformen geprägt wurden bzw. nur (meist von der Innennutzung her) die Nachteile erfahren haben, und damit kategorisch traditionelle Formensprache ablehnen. Ein letzter gewichtiger wäre wohl auch Mangel an Exposition, man ignoriert den Missstand, mit viel Auto und Blick aufs Handy ist die Architektur kaum relevant.

    Es gibt sicher noch viele weitere Gründe.

  • Jeder mag helle Räume, praktische Nutzbarkeit (z.B. Fenster, putzaufwandsarme Oberflächen,...), schönen Ausblick ggf. ins Grün, Barrierefreiheit, Größe und Weite, ... , alles Errungenschaften der modernen Gestaltung.

    Das alles gab es auch schon vor der modernen Gestaltung. Allerdings hat die Moderne (eigentlich ging das aber bereits mit der Gartenstadt-/Reformarchitektur los) das dann in den modernen Massenwohnungsbau zu übertragen. Doch diese Errungenschaften sind auch schal. Denn z.B. werden gründerzeitliche Gebäude mit hohen Decken in der Regel stets den gedrungenen, ökonomisch effizienteren Niedrigdeckenbauten der Moderne vorgezogen. Die Proportionalität ist eben menschengerechter.

  • Chamfort hat aber recht, dass die Renaissance der Popularität des Altbaus mit der gegenüber "außen" etwas verzögerten Revolution der Innenarchitektur einherging. Gründerzeitbauten wurde erst dann wieder in breitem Ausmaß populär, wie die konstruktionsbedingten Probleme (zugige Fenster, Unheizbarkeit bei hohen Decken, oft düsteres Interior, Ochsenblut auf den Böden) technologisch und gestalterisch lösbar wurden. Man unterschätzt glaube ich gerne, dass der Wohnkomfort v.a. in den Arbeitervierteln damals sehr bescheiden war in Gründerzeitvierteln, hinzu kam mangelnde Belichtung in den Hinterhöfen. Der Impetus, das alles hinter sich zu lassen und heller, lichter, grüner, komfortabler zu bauen, war aus der damaligen Warte absolut nachvollziehbar. Erst mit der technologischen Lösung vieler immanenter "Altbauprobleme" in den letzten 50 Jahren konnten diese Gebäude für die breite Masse wieder auf einen gestalterisch und wohnkomfortmäßig zeitgemäßen Stand gebracht werden.

    In der Zwischenphase wurde -wenn Abriss nicht in Frage kam- versucht, den Altbau auf "neu" zu trimmen, z.B. durch ungegliederte, neue Plastikfenster, neue, flache Heizkörper, dem Ausbau der alten Türen und Einbau von schlichten neuen, dem fürchterlichen Abhängen der Decken (das dann oft auch den Rückbau/die Verhängung der Fensteroberlichter zur Folge hatte) usw. Erst mit dem Erreichen der Moderne auch im Innenbereich konnte dieses Problem zunehmend schonend gelöst werden, die Dielen wurden abgezogen und offen gelassen (absolute Ausnahme in der ersten Hälfte des 20. Jhdts.), die Wände und Türen weiß gestrichen/Farbe nur als Akzent eingesetzt, die Möbel schlanker und heller/antike Stücke eher gezielte Blickfänge, die alten Türen wieder aus dem Keller geholt und eingebaut, die schönen Stuckdecken über den Holzpaneelen, die im Eigenbau als Zwischendecke eingezogen waren, wieder rausgeholt, das Oberlicht hatte nun wieder eine entsprechende Funktion.

    Ich muss für mich sagen, dass ich bei der Einrichtung ganz klar Modernist bin, also Erhalt oder Wiederherstellung aller immobilen Gestaltungselemente wie Stuck und Türen ja, aber die Eichenschrankwand und der rotbraune Perser auf dunkelbraungebeiztem Holzboden können raus.

  • Aber das beschreibt doch oft Geschmäcker. Zum Beispiel der Begriff "Düsterers Interieur". Manche Leute mögen das, andere nicht. Die Eichenschrankwand hat damit dann gar nichts zu tun. Sie ist ein Produkt der 1960er/70er Jahre und hat es in klassischen Gründerzeitwohnungen nie gegeben. Ebensowenig wie - jedenfalls für die ärmeren Haushalte - der Perserteppich. Mancher mag Ochsenblut-Farbe, mancher nicht. Und die "Unheizbarkeit" führt wieder weg von der Ästhethik und hin zum finanziellen Nutzen.

    Es wird immer wieder unterschätzt, welchen Einfluss Vorbilder und Medien haben. Manches uns heute als "düster" erscheinende Interieur war der Versuch, den Wohnstil damaliger (adeliger und großbürgerlicher) Eliten nachzuleben. Man betrachte sich z.B. einen Wohnraum auf der Burg Hohenzollern, der auch nicht leergeräumt und weiß war. Sieht man sich die Bilder von "Villa1895"s Haus an, erhält man einen Eindruck dieses Wohnstils. Und dieser wird auch heute noch von manchen Leuten gerne gelebt. Bestimmte Wohnstile werden eben auch heute in Medien als Wohnvorbilder der Eliten transportiert. Und zwar heruntergebrochen bis zu diversen Popstars, die die Träume der Unterschicht präsentieren.

    Ob bei HipHop-Stars...

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    (noch vergleichsweise "opulent")

    Oder in bekannten Spielfilmen wie "Runner Runner" mit Stars a la Justin Timberlake...

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    ...bis zu Subgenre-Streifen wie "Revenge"

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    Und diese Wohninterieurs, die als den Eliten nahe stehender Wohntraum präsentiert werden, bedient Ikea auf der massentauglichen Ebene. So sehen dann eben auch die bundesdeutschen Wohnzimmer aus: Die weiße Wand mit vielleicht einem großen Druck oder abstrakten Bild. Der mega-große Flatscreen. Die weiße oder graue Fernsehcouch in L-Form. Der schlichte Esstisch mit 4-6 nüchternen Stühlen. Vieleicht noch ein Astgesteck in einer einfarbigen rechteckigen Vase.

    Dass bestimmte "moderne" Wohnprinzipien, wie Belichtung (Gründerzeitwohnungen haben oft größere Fenster als solche der Zwischenkriegszeit, deren Wohnungen mit ihren kleinen Fensterchen ich immer als weit düsterer empfand) und Belüftung und Ausblick ins Grüne nach den Erfahrungen der Gründerzeit (die allerdings auch ganz andere Probleme zu lösen hatte, denn man sehe sich an, wie die Städte in kürzester Zeit gewachsen sind) ein wichtige und richtige Rolle spielten, hatte dann mit der "Moderne" im Sinne des Modernismus gar nicht so viel hinsichtlich der Urheberschaft zu tun. Ich schrieb ja bereits, dass über diese Dinge bereits in der Reformbewegung ab 1900 diskutiert wurde, inklusive Gartenstadtidee, Reformarchitektur usw.