Das Kaiserreich im Rückblick

  • Pagentorn: Bitte mach weiter.

    "Wenn wir die ehemalige Schönheit der Stadt mit der heutigen Gemeinheit verrechnen, kommen wir, so die Bilanz, aufs direkteste in den Schwachsinn." (E.H.)

  • Seit ca. eineinhalb Jahren hat sich dies in dem Maße geändert, in dem zu meinem großen Bedauern ein Klima der Unduldsamkeit, Rechthaberei und des Oberlehrertums immer weiter um sich griff.

    ... so muß ich mir eingestehen, daß ich letztendlich mit meinem Ansinnen gescheitert bin.

    Du bist nicht gescheitert. Du musst auch stets an die vielen Leser denken, die hier nicht registriert sind. Deine o.g. Kritik am Gebaren einiger Forumer kann ich grundsätzlich nachvollziehen, andererseits ist sowas aber auch nichts Ungewöhnliches. Dieses Forum ist ein Spiegel der Gesellschaft, höchst unterschiedliche Standpunkte kommen hier zusammen, die kontrovers aber leider auch oft auch viel zu bitter, böse, polemisch und rechthaberisch vorgetragen werden. Nimm das alles nicht so persönlich und schreibe hier weiter, deine Beiträge bereichern das Forum! Steh einfach über den Leuten die dir hier vor's Schienenbein treten.

  • Pagentorn bitte bleib! Lass Dir doch den Spaß nicht verderben. Das Kaiserreich hat eben im Mainstream ein ultra schlechtes Image (Militarismus, Machtstreben....) Deshalb fand ich erfrischend, mal etwas anderes zu lesen, auch wenn ich nicht jeden Beitrag/Hypothese verstanden habe. Mir hat die Kaiserreichparty gefallen, trotz Bedenkenträger :wink:

    Nicht böse sein, wenn ich den oder anderen Beitrag zensiere. Aber man kommt sonst vom Hundertste ins Tausendste.

    Beauty matters!

  • Und die polnisch-sprechenden Allensteiner zogen es - in absoluter Mehrheit - vor in Deutschland zu verbleiben und das ist auch in doppelter Hinsicht bemerkenswert, da das Deutsche Reich 1920 am Boden lag.

    Es ist weniger bemerkenswert, wenn man nicht alles nur durch die nationale Brille sieht, auch die Religion hatte damals einen hohen Stellenwert. Die polnischsprachige Bevölkerung in Masuren, d.h. in den Abstimmungsbezirken Alleinstein und Marienwerder war zum größten Teil evangelisch und wollte nicht zu einem Staat wie der Republik Polen gehören, in der die katholische Kirche einen so dominanten Einfluss hatte.

    Obwohl der russische Geheimdienst das Leben unter russischer Herrschaft in den heitersten Farben malte und an den Panslawismus erinnerte, ging von den Sorben/Wenden niemand auf den Leim.

    Zum Teil spielte auch hier die Religion ein Rolle. Einem gläubigen evangelischen Wenden oder katholischen Sorben war Russland auch schon durch seine russisch-orthodoxe Staatskirche suspekt.

  • Lieber Pagentorn,

    es würde mich aufrichtig freuen, wenn du bliebest. Ich denke, dass ich da für viele Leser deiner Beiträge spreche, wenn ich dir mitteile, dass ich diese stets mit großem Interesse gelesen habe. In vielen Bereichen teile ich auch deine Auffassungen. Dass du für deine Überzeugungen und mit deiner Meinung andererseits teilweise auch auf Widerspruch stößt, das kann in der heutigen Zeit gar nicht anders sein. Darüber solltest du stehen und dir die von dir als Schmähungen empfundenen und auch mit Schärfe vorgetragenen anderen Positionen, nicht gar zu persönlich zu Herzen nehmen. Vielmehr versuchen, darüber zu stehen

    Im Taubertal, also im Fränkischen, gibt es dafür einen kernigen Spruch:

    Viel Köpf', viel Sinn',

    viel Ärsch', viel Winn'

    Hochdeutsch:

    Viele Köpfe, viele Sinne,

    viele Ärsche, viele Winde.

    Oder aber mit dem kräftigen Spruch des Götz von Berlichingen, der einst von der Burg Krautheim an der Jagst herabgerufen wurde, den ich hier nicht zitieren möchte, da er als allgemein bekannt gilt, wenn es auch einige Abwandlungen davon geben mag. Und wenn man ab und zu mal von Herzen lachen kann, dann ist das gut, denn das Lachen ist gesund. Es ist dann alles nur halb so schwer.

    In diesem Sinne, lieber Pagentorn, lege dir möglichst ein "dickes Fell" zu und bleibe uns hier erhalten.

  • ..., auch die Religion hatte damals einen hohen Stellenwert.

    Das ist mir durchaus bekannt und ich erwartete auch diesen Einwand.

    Allerdings wenn die Verachtung/Unterdrückung der polnischen Minderheit im Deutschen Reich so ausgeprägt und gewaltig war, wie es hie und da zu lesen ist und wie es ja auch hier von manchen vertreten wird, dann ist es doch überraschend (und zwar zunächst einmal vollkommen wertfrei) dass die polnisch-sprechenden Bewohner nicht die Gelegenheit beim Schopfe packten und für einen Anschluss an Polen votierten, sondern insbesondere im Abstimmungsgebiet Allenstein mit überwältigender Mehrheit für einen Verbleib im Reich stimmten.

    Also entweder war :

    A) die Unterdrückung im Deutschen Reich nicht so ausgeprägt wie es gemeinhin dargestellt wird

    oder aber

    B) die polnischen Preußen fürchteten eine noch größere Drangsalierung unter polnisch-katholischer Herrschaft.

    Aber klar, wenn man auf solche Auffälligkeiten/Widersprüche hinweist, dann sieht man für dich "alles nur durch die nationale Brille".


    Neben der Religion werden noch andere Beweggründe eine Rolle gespielt haben. Die polnischen Preußen wussten aus erster Hand was für ein Staatswesen das Deutsche Reich war und welche Errungenschaften bis 1914 erreicht wurden.

    Auch die im 1. Weltkrieg erfolgte Ostpreußenhilfe mag einen Einfluss gehabt haben, die Ostpreußen polnischer Zunge ideell an das Deutsche Reich zu binden.

    Nach dem Einfall russischer Armeen im Jahre 1914 waren in Ostpreußen 39 Städte und über 1900 Ortschaften zerstört, 40.000 Gebäude verbrannt und weitere 60.000 beschädigt, 135.000 Pferde und über 250.000 Stück Rindvieh verloren – ein Gesamtschaden von mehr als 1,5 Mrd. Mark [...]

    Nach fünfmonatiger Werbe- und Sammeltätigkeit verfügte die Münchener Ostpreußenhilfe über etwa 450.000 Mark, mit denen 833 Zimmereinrichtungen finanziert wurden. Daneben wurden 40 Eisenbahnwaggons mit gebrauchter Kleidung sowie gebrauchtes Mobiliar nach Ostpreußen gebracht.

    61 derartige Hilfsvereine hatten sich deutschlandweit in dieser Zeit zur „Ostpreußenhilfe“ zusammengeschlossen und die Patenschaft über einen kriegszerstörten Landkreis oder eine Stadt übernommen. Patenstädte waren beispielsweise Köln (für Neidenburg), Leipzig (für Hohenstein/Ostpr), Mannheim (für die Stadt Memel) oder Berlin – gemeinsam mit Wien – für die Stadt Ortelsburg. Der ungarische Staat engagierte sich beim Wiederaufbau des Kreises Gerdauen. Die Architektur im Siedlungsbau orientierte sich dabei an der klassischen Moderne und am Heimatschutzstil.

    "Wenn wir die ehemalige Schönheit der Stadt mit der heutigen Gemeinheit verrechnen, kommen wir, so die Bilanz, aufs direkteste in den Schwachsinn." (E.H.)

  • Also entweder war :

    A) die Unterdrückung im Deutschen Reich nicht so ausgeprägt wie es gemeinhin dargestellt wird

    oder aber

    B) die polnischen Preußen fürchteten eine noch größere Drangsalierung unter polnisch-katholischer Herrschaft.

    Oder das eine schließt das andere nicht aus.

    Natürlich gab es auch eine Unterdrückung der polnischen Kultur im Kaiserreich (Wenn z.B. polnisch als Unterrichtssprache verboten wurde, also Kinder auch in rein polnischsprachigen Gebieten nicht in ihrer Muttersprache lernen oder studieren durften.)

    Um festzustellen, ob diese Unterdrückung "ausgeprägter" war, als sie "gemeinhin dargestellt wird", kann man sich allein schon durch die gesetzlichen Regelungen leicht ein Bild machen - wenn man denn will.

    Es gab u.a. auch einschränkende Vorschriften zum Gebrauch des Polnischen als Geschäftssprache, Einschränkung der Versammlungsfreiheit, bei der Beschäftigung im Staatsdienst usw. usw.

    Das ist mir durchaus bekannt und ich erwartete auch diesen Einwand.

    Es war kein Einwand, sondern ein wichtiger Fakt zur Ergänzung.

    Wenn er dir bekannt ist und du "den Einwand" schon erwartest hast, warum schreibst du es dann nicht von dir aus dazu?

    Offensichtlich hast du nur eine bestimmte Botschaft ("Unterdrückung der polnischen Minderheit war gar nicht so schlimm") als Ziel und bist an einer vielschichtigen, realen Darstellung gar nicht interessiert.

    Aber klar, wenn man auf solche Auffälligkeiten/Widersprüche hinweist, dann sieht man für dich "alles nur durch die nationale Brille".

    Du kannst gern auf alle möglichen "Auffälligkeiten" hinweisen. Nur wenn du bewusst stets andere, dir nicht genehme Fakten weglässt, und dich selbst noch über einen (vollkommen neutralen) ergänzenden Nachtrag echauffierst, dann siehst du tatsächlich alles nur durch die nationale Brille.

  • Ich habe jetzt die Daten zur Volksabstimmung im Gebiet Allenstein im Jahr 1920 von Wikipedia übernommen (hier) und in untenstehender Tabelle zusammengefasst. Darüber hinaus habe ich diese Daten in blauer Farbe noch ein wenig aufbereitet, um das außerordentlich erstaunliche Votum der polnischen Muttersprachler hervorzuheben.

    volksabstimmung-1920-2-1.png


    Anmerkung: Bei meiner kleinen Aufbereitung der Daten nahm ich der Einfachheit halber an, dass die im Gesamtergebnis Zustande gekommenen 2,1% für einen Beitritt zu Polen zu 100% von polnisch-sprechenden Bürgern des Gebietes Allenstein abgegeben wurden.

    Das bedeutet im Umkehrschluss, dass über 95% (!) der polnisch-sprechenden Bürger des Gebietes Allenstein für einen Verbleib im Deutschen Reich votierten und sich gegen ein Zusammengehen mit Polen aussprachen.

    Ich denke die Zahlen sprechen klar für sich.

    "Wenn wir die ehemalige Schönheit der Stadt mit der heutigen Gemeinheit verrechnen, kommen wir, so die Bilanz, aufs direkteste in den Schwachsinn." (E.H.)

  • Ich denke die Zahlen sprechen klar für sich.

    Die Zahlen sagen natürlich nichts über die Ursachen des Abstimmungsverhaltens und die Motive der polnischsprechenden Bevölkerung aus - allein darum ging es ja in den obigen Beiträgen. Insofern sprechen deswegen natürlich auch die Zahlen nicht für sich.

    Trotzdem danke für die Grafik.

  • Im angeblich so toleranten Preußen hatte man es ja nicht nur als Pole, sondern auch als Katholik (oder auch Jude, wie oben schon bemerkt) nicht einfach. Wenn man nur eines von beiden war (also katholischer Rheinländer oder evangelischer Masure), war es vielleicht noch erträglich, aber wenn beide Diskriminierungsfaktoren zusammenkamen...

  • Da fällt immer so viel Diskussionsstoff an, dass es einem des Antwortens zu viel wird...

    Somit nur ein paar Gedanken...

    Lustig fand ich, dass unlängst der (mittlerweile scheinbar gelöschte) Vorwurf an einen Diskutanten auftauchte, er gebrauche das Kaiserreich zur Kritik an der Gegenwart. So ähnlich hatte ich das vor einiger Zeit formuliert und wurde dafür, meiner Erinnerung nach, vom jetzigen Vorwurferteiler scharf angegangen. Persönlichkeitsspaltung?

    Dann kurz zur Kriminalität. Wie es im Kaiserreich war, weiß ich nicht. Aber heute sollte man bedenken, dass die so genannte Kriminalitätsstatistik nur eine Polizeiarbeitsstatistik ist. D.h. die Dunkelziffer ist enorm. Ich kenne z.B. einen Bekannten eines Freundes (ich selbst habe ihn 2, 3 mal getroffen), der mal nachts auf der Straße überfallen wurde, wobei ihm die Uhr (eventuell auch mehr) geraubt wurde. Angezeigt hat er das nie, da er meinte, er könne aufgrund seines alkoholisierten Zustands ohnehin nur eine vage Täterbeschreibung geben, und die Polizei würde ohnehin niemanden finden. Als mir mal von einem, offenbar unter Drogen stehenden, Passanten nach einem Fußballspiel im langsamen Vorbeifahren die Fahrertür meines Autos eingetreten wurde (ich dachte erst, ich hätte den angefahren, weil der plötzlich wie ein Zombie in meine Fahrerseite reinrannte), traf ich kurz darauf auf eine Polizeikontrolle und zeigte meine zerbeulte Tür. Die sagte mir: "Der Täter ist ohnehin weg. Sie können das natürlich auf dem Revier anzeigen. Aber das ist doch nur ein Fall für die Statistik." Dann tut man es sich als Normalbürger nicht an, für Nichts eine Stunde auf dem Revier zu sitzen. Und die Polizisten freuen sich, da weniger Schreibkram. Und die Polizeipräsidenten freuen sich, weil sie statistische Kriminalitätsrückgänge verkünden können. So sieht die Realität aus.

    Ehrlich gesagt denke ich, dass wir in er Beurteilung des Kaiserreiches insoweit gar nicht soweit auseinander sind.

    Das kann natürlich sein. Ich habe mir darüber Gedanken gemacht, aber erschöpfend kann ich das hier ohnehin nicht darlegen. Ich empfinde die Kaiserzeit sicherlich als ästhetischere Zeit. Die Baukunst, die Bildhauerei, Malerei spricht mich viel mehr an, als die Gegenwart. Auch halte ich die Kombination aus demokratischen, aristokratischen und monarchischen Elementen für zumindest für Deutschland besser geeignet als eine rein republikanische Verfassung, zumal das heute ohnehin in Richtung postdemokratische Oligarchie läuft. Dieser Dreiklang stellt eine Verbindung zu unserer Vergangenheit, zu unseren Ursprüngen her. Insofern bin ich auch heute noch für die Einführung einer Monarchie. Der Bundespräsident ist auch nur ein indirekt gewählter Typ, insofern kann man auch gleich einen König oder Kaiser ernennen. So lange der nicht Frank-Walther I. heißt.

    Ich verstehe die Elemente heute nur etwas anders. Bzw. sie müssten neu definiert und entwickelt werden. Den Monarch verstehe ich als spirituelle Kraft, wie die mittelalterlichen Kaiser als Arm Gottes. Vergleichbar dem Dalai Lama. Oder von mir aus Ajatollah Ali Chamenei. Heute müsste ein Kaiser eine über den einzelnen Religionsgruppen und Konfessionen stehende rein spirituelle Integrationskraft sein, um die reale Gesellschaft abbilden zu können. Aristokratie ist dagegen eher eine Haltung, eine Personenauswahl nach klaren, gesellschaftlich akzeptierten Prinzipien (z.B. mönchische Enthaltsamkeit, absoluter Konsumverzicht, Bildung, Mut, Demut), die aber von der Verfassung institutionalisiert wird. Über Demokratie müssten wir nichts erklären. Sie müsste aber frei von Geld, Lobbyismus, Oligarchen-Einflussnahme sein.

    Also, lange Rede, kurzer Sinn: Der Dreiklang der alten Reichsverfassung zeigt für mich Ansätze, die für die Zukunft aufgegriffen werden könnten.

    Bei der Beurteilung sehe ich zusätzlich positiv beim alten Kaiserreich die ungeheuere innovative Kraft hinsichtlich sinnvoller Erfindungen, der Verbesserung der Lebensstandards. Zudem zum Teil das positive Selbstvertrauen dieser Ära, das mir auch von Zeitzeugen geschildert wurde. Man schaue ja auch nur auf die äußerlich und innerlich zerrissenen Jahrzehnte, die folgten. Außerdem lasse ich mir nicht von Kulturmarxisten, deren Handwerk die Zersetzung ist, die Geschichte meines Landes pauschal in den Dreck ziehen. Kaiser Wilhelm- und Bismarck-Standbilder zu bekämpfen und sich gleichzeitig für Straßenbenennungen nach Rosa Luxemburg, Kommunisten und SPD-Bonzen einzusetzen... ohne mich :zwinkern:.

    Auf der negativen Bilanz stehen andere Aspekte. Dabei ist es schwierig seine damalige Haltung zu formulieren. Denn es hängt stets viel davon ab, in welche Verhältnisse man geboren wurde, wie man geprägt wurde, welche jeweiligen Erfahrungen man gemacht hat. Gehe ich von mir heute aus, gehe ich von meinem charakterlichen Kern aus, so hätte mich wohl damals die Militarisierung gestört. Allerdings verstehe ich, dass in einer solchen Zeit mit ebenfalls hochgerüsteten Nachbarn eine effektive Verteidigung notwendig war. Dennoch, ich war ja z.B. nie beim Militär. Und einer der wenigen Freunde von mir, die bei der Bundeswehr waren, sagte mal, dass er sich mich dort am allerwenigsten vorstellen könne. Ich wäre vermutlich extrem angeeckt. Insofern wäre ich vielleicht ein Gegner der Militarisierung im Kaiserreich geworden. Obgleich ich viele Uniformen schick finde. Ebenso die Prüderie. Aber das geht ja bis in die Jetztzeit, wo viele Leute viel traditionellere Moralvorstellungen vertreten als ich. Gleichwohl gab es ja im Kaiserreich erste Hippies, und zwar in der Reformbewegung, die ich sehr spannend finde. Viele heutige Gedanken, die gerade auch im "grünen" Milieu Anklang finden (z.B. Vegetarismus, FKK), stammen ja ebenfalls aus der Kaiserzeit. Sie wurden dort geduldet. Ebenso wie kritische Presse und Kultur. Auch Heinrich Manns "Der Untertan" (ein Buch, das ich immer als diffamierend empfand, heute aber etwas anders bewerte) konnte zumindest als Vorabdruck im Kaiserreich entstehen. Das zeugt von einer gewissen Toleranz und Gedankenfreiheit, die heute zunehmend schmilzt. In den 80er Jahren waren noch Diskussionen möglich, heute gehen gleich die Rollladen runter. Das fände ich noch nicht so schlimm, denn ich habe auch keine Lust mehr auf Diskussionen mit verfestigten Meinungsmustern. Aber es geht dann sehr schnell in Richtung Aggression, Denunziation und Existenzvernichtung, und zwar nur von einer Seite (die andere hätte dazu ohnehin keine Macht).

    Wir wissen noch nicht, wohin die BRD driftet. Möglichenfalls wird eine solche Diskussion also in 50 Jahren komplett anders ausfallen.

  • Im angeblich so toleranten Preußen hatte man es ja nicht nur als Pole, sondern auch als Katholik (oder auch Jude, wie oben schon bemerkt) nicht einfach.

    Noch so ein Topos, der jeder Grundlage entbehrt.

    Die jüdische Bevölkerung war im Kaiserreich verhältnismäßig gut integriert, viel besser als im republikanischen Frankreich. Es dürfte im damaligen Europa wenige Staaten gegeben haben, in denen man als Mensch jüdischen Glaubens besser leben konnte als in Preußen-Deutschland. Die Zahl derer, die als Künstler, Intellektuelle oder Unternehmer Karriere machten, ist Legion.

    Man lese hier:

    "Wer sich um das Jahr 1900 fragt, wo in Mittel- und Westeuropa die jeweilige jüdische Minderheit am meisten gefährdet war, musste automatisch auf Frankreich kommen. Demgegenüber mochte die Situation in Deutschland als geradezu entspannt erscheinen, waren doch die Juden im wilhelminischen Kaiserreich überwiegend assimiliert – und emanzipiert ohnehin" ("Die Welt" vom 2.3.2017).

    Oder hier:

    "12.000 jüdische Soldaten fielen für Kaiser Wilhelm. Sie fühlten sich als deutsche Patrioten und nicht als Opfer von Antisemitismus: Neue Studien zeigen, dass die jüdischen Soldaten des Kaiserreichs viel besser integriert waren, als man lange meinte ("Die Welt" vom 3.7.2013).

    Das heißt natürlich nicht, dass es im Kaiserreich keinen Antisemitismus gab. Aber in der Politik spielte er so gut wie keine Rolle.

  • Ich habe mir darüber Gedanken gemacht, aber erschöpfend kann ich das hier ohnehin nicht darleg

    Aber über diese Punkte kann man zumindest diskutieren. In Deinen Ausführungen gehst Du aber im wesentlichen darauf ein, was vom Kaiserreich aus Deiner Sicht heute zu übernehmen wäre. Da bin ich teils anderer Auffassung. was die Bewertung des Kaiserreiches angeht, kann ich vielem Zustimmen, zumal man auch beachten muss, dass manches was wir heute als nicht mehr zeitgemäß ansehen, vor 150 Jahren durchaus fortschrittlich war und das Lösungsansätze die heute ungeeignet erscheinen zur Zeit des Kaiserreiches die angemessenen waren.

    Was mir an der Gesellschaft des Kaiserreiches nicht gefällt ist in der Tat das, was wir heute als Militarismus bezeichnen. Sicher war es so, dass aus Gründen der äußeren Sicherheit ein Staat eine Armee haben musste (und auch heute noch muss). Wie wir aus unserer eigenen zeit wissen kann ständige Aufrüstung aller Staaten aber in eine Spirale führen, die irgendwann aufgelöst werden muss (und das war dann der I Weltkrieg).Was mit jedoch noch Problematischer erscheint ist Durchdringung der gesamten Gesellschaft mit militärischen Elementen. Auch dies mag seinerzeit auf viel Zustimmung gestoßen sein, wünsche ich mir aber für heute nicht.

    Ob das Kaiserreich toleranter war, als wir heute wage ich zu bezweifeln. Ich denke schon dass heute jede Art von Meinung verbreitet werden darf und kann. Das man bei einer Meinungsäußerung der Gefahr unterliegt, dass andere einem widersprechen, ist der Freiheit immanent.

  • Aber über diese Punkte kann man zumindest diskutieren. In Deinen Ausführungen gehst Du aber im wesentlichen darauf ein, was vom Kaiserreich aus Deiner Sicht heute zu übernehmen wäre.

    Dazu zitiere ich Heimdall

    Ich verstehe die Elemente heute nur etwas anders. Bzw. sie müssten neu definiert und entwickelt werden

    Ich sehe auch das Kaiserreich als Ideengeber, die man weiterentwickeln könnte. Natürlich könnte man den Staat, so wie er damals war, nicht auf die BRD aufpfropfen.

    Aber man könnte diese positive Grundhaltung aufgreifen, wie auch immer, anstatt diese Epoche als Wurzel allen Bösen zu sehen. Wobei es auch böse Elemente gab.

    Das sind doch - allein schon von der Umsetzung - vollkommen utopische Vorstellungen und Anforderungen.

    Wer soll die mitbringen? Etwa ein tatsächlich im Zölibat lebender katholischer Priester, Nichtraucher mit Alkoholabstinenz. Dazu noch Mut und Demut...wohl klingende, unbestimmte Begriffe, über die es in der Gesellschaft völlig verschiedene Vorstellungen gibt.

    Also ich habe Heimdalls Ausführungen nicht als zu Ende gedachten Vorstellungen verstanden, die man jetzt sofort konkret umsetzen könnte.

    Ich habe auch den Wunsch von mehr "adelige Seelen" in unserer Gesellschaft, Zweifler, Lichtsucher ;)

    Nein, das kann man in Deutschland heute eben nicht mehr. Man riskiert seinen Job und seine Karriere, wenn man das tut und darf dann ggf. von Hartz4 leben. Das hat mit "Widersprechen" nichts zu tun. Ich kann, ehrlich gesagt, diesen Müll nicht mehr hören: "Wir haben Meinungsfreiheit. Man muss halt damit rechnen, dass andere einem widersprechen."
    Das ist pure Ideologie. Die Realität sieht so aus, dass einem nicht widersprochen wird, sondern dass man seinen Job, seine soziale und berufliche Existenz verliert.

    Da ich Philon persönlich kenne, muss ich ihm schmerzlich Recht geben. Ich arbeite in der IT und kann mir meine Meinungsfreiheit erlauben. In anderen Bereichen geht es leider nicht mehr. Ich habe es damals mitbekommen, die E-Mails gelesen und weiß was Philon meint. Und es ging damals nicht um krasse Ansichten. Natürlich kann man sich freuen, dass es einen selbst nicht betrifft, aber man trägt es mit und es belastet.

    Beauty matters!


  • Dazu kann ich nochmal meinen kürzlich gelöschter Beitrag zur Urlaubszeit anbringen...als Beispiel wie es Juden im Kaiserreich erging...


    "Seit den 1870er Jahren wuchs in Deutschland die Zahl der Kur- und Badeorte an, die sich als “judenfrei” definierten, mit einem antisemitischen Image kokettierten und in ihren Prospekten kundtaten, dass ihnen der Besuch “jüdischer”, “nichtchristlicher”, “se-mitischer”, “israelitischer” oder “mosaischer” Gäste nicht ge-nehm sei. Auch einzelne Hotels und Pensionen machten in An-zeigen keinen Hehl daraus, dass sie auf jüdische Gäste keinen Wert legten. “Juden und Lungenkranke Eintritt verboten” war da bisweilen in brutaler Offenheit zu lesen, bzw. “Judenfreies” oder “Judenreines Haus”. Kurorte versandten Prospekte mit dem Ver-merk: “Für jüdische Empfänger ungültig”, “Israeliten ausge-schlossen” oder “Israeliten suchen den Kurort in der Regel nicht auf”. Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens stellte bereits im Jahre 1905 resigniert fest: “Wir haben uns längst mit der beschämenden Tatsache abgefunden, daß es zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Lande der Dichter und Denker eine stattliche Reihe von Bade- und Kurorten gibt, die den Grundsatz öffentlich verkünden, daß ihnen jüdischer Besuch nicht willkom-men ist”.Blickt man auf die im „Israelitischen Familienblatt“ veröffentlichten Listen „antisemitischer Erholungsorte“, dann umfassten diese schon vor dem Ersten Weltkrieg mehrere Dutzend Namen. Allein an Nord- und Ostsee definierten sich zahlreiche Seebäder als antisemitisch."


    aus: Frank Bajohr „Unser Hotel ist judenfrei“ Alltagsantisemitismus in Bade- und Kurorten im 19. und 20. Jahrhundert

    ....

    "12.000 jüdische Soldaten fielen für Kaiser Wilhelm. Sie fühlten sich als deutsche Patrioten und nicht als Opfer von Antisemitismus: Neue Studien zeigen, dass die jüdischen Soldaten des Kaiserreichs viel besser integriert waren, als man lange meinte ("Die Welt" vom 3.7.2013).

    Das heißt natürlich nicht, dass es im Kaiserreich keinen Antisemitismus gab. Aber in der Politik spielte er so gut wie keine Rolle.


    Dazu Auszüge aus der einer Arbeit der wissenschaftlichen Dienste des Bundestages von ..

    "Judenfeindschaft und Antisemitismus bei Kaiser Wilhelm II"

    https://www.bundestag.de/resource/blob/…07-pdf-data.pdf

    Die in Deutschland insbesondere seit den Stein-Hardenbergschen Reformen und in Folge der Revolution von 1848 schrittweise fortschreitende bürgerliche Emanzipation der deutschen Juden setzte sich auch im Kaiserreich fort. Allerdings blieb den jüdischen Bürgern die vollständige formale Gleichberechtigung versagt. Innerhalb seiner eigenen Sphäre gab der Staat seine Neutralität praktisch auf und benachteiligte die jüdischen Deutschen. Formelle wie informelle Schranken versperrten ihnen den Zugang u.a. zu den Hof-und Regierungsämtern, zur höheren Verwaltung, dem diplomatischen Korps, der akademischen Welt oder dem Offiziersamt. Die Reichsverfassung garantierte zwar die Gleichberechtigung der jüdischen Bürger, beließ aber weitgehende Kompetenzen bei den Ländern. In Preußen zum Beispiel berief man sich bis zum Jahr 1918 auf die Verfassung von 1850, welche jüdische Bürger von der höheren Verwaltung und dem Offiziersamt ausschloss.

    ....

    Seit Ende Ende der 1870er Jahre steigerten sich in Teilen der Gesellschaft des Kaiserreiches die nach wie vor vorhandenen Vorurteile und Aggressionen gegen Juden zu einem rassistisch geprägten Antisemitismus, der in seiner letzten Konsequenz darau abzielte, die "Semiten" und damit die Juden physisch zu vernichten. Journalisten wie Wilhelm Marr (1819-1904), Universitätsprofessoren wie Heinrich von Treitschke (1834-1896) oder Geistliche wie der Hof- und (Berliner) Domprediger Adolf Stöcker (1835-1919) waren wichtige geistige Wegbereiter eines Antisemitismus, der auch zu einem politischen Faktor wurde und sich im Verlauf des Kaiserreichs zu einer organisierten Massenbewegung entwickelte.

    Stöckers im Jahr 1878 gegründete "Christlich-Soziale Arbeiterpartei" war die erste antisemitische Partei im Kaiserreich, der andere antisemitisch eingestellte Parteien folgten, die - wenn auch in geringer Stärke - in verschiedene Länderparlamente wie auch in den Reichstag mit eigenen Abgeordneten einzogen. Bedeutende Tageszeitungen des Kaiserreiches wie die konservative Kreuzzeitung oder die katholisch orientierte "Germania" führten seit Mitte der 1870er Jahre zusammen mit Antisemiten Kampagnen aus Feindschaft gegen den "jüdischen Liberalismus"....

    Wilhelm II äußerte sich in seinem Leben wiederholt antisemetisch, so z.B. gegenüber seinem Großvater:

    "O lieber Großpapa, es ist empörend wenn man beobachtet wie in unserem christlichen, deutschen, gut preußischen Lande das Judenthum in der schamlosesten, frechsten Weise sich erkühnt, alles verdrehend und corrumpirend sich an solche Männer zu wagen und sie zu stürzen sucht."


    Ein weiteres Beispiel für den Umgang Wilhelm II. mit dem Thema Juden und Antisemitismus war das Verhältnis des Kaisers zum völkisch-nationalen Schriftsteller und Kulturphilosophen Houston Stewart Chamberlain. Um die Jahrhundertwende pflegte er mit ihm eine langjährige Korresponden, und über das im Jahr 1901 erschienene Hauptwerk des antisemitischen

    Schriftstellers ..."Die Grundlagen des XIX. Jahrhunderts" äußerte er sich begeistert und machte es zur Pflichtlektüre bei der Oberlehrerausbildung bzw. an preußischen Lehrerseminaren.

    Schließlich ist für den Zeitraum der Regierungszeit von Wilhelm II.eine antisemitische Äußerung dokumentiert, die er bei einem Besuch in Großbritannien gegenüber dem damaligen Außenminister Sir Edward Grey fallen ließ: „Es gibt viel zu viele Juden in meinem Land. Sie müssten ausgemerzt werden."


    Der Antisemitismus nahm insgesamt in den rund vier Jahrzehnten von der Reichsgründung bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges in Staat und Gesellschaft stark zu. Zwar gehörten Ausschreitungen gegen jüdische Bürger-wie zum Beispiel 1881 im hinterpommerschen Neustettin oder 1900 im westpreußischen Konitz –nicht zum Alltäglichen, aber der Antisemitismus gewann erheblichen Einfluss bei vielen politischen und gesellschaftlichen Organisationen im Kaiserreich und spielte eine wichtige Funktion im Denken des national gesinnten Bürgertums. Er wurde im gesellschaftlichen Leben zur sozialen Norm.

    ....

    EDIT Philon: Ich habe mal Schriftgröße und Schriftart vereinheitlicht. Durch die ständigen Wechsel in Schriftart und Schriftgröße von Absatz zu Absatz war das wirklich sehr schwer zu lesen.

  • Moderationshinweis:
    Ich habe mal die Diskussion zum Thema Meinungsfreiheit abgetrennt und verschoben, da und soweit sie nichts mehr mit dem Thema Kaiserreich zu tun hatte (was auch mit meine Schuld war, aber das Thema betrifft mich halt persönlich).

  • Ich hätte eine These, die natürlich auch grundfalsch sein kann, die sich etwas vom Diskurs zum politischen System abscheidet und sich der Frage widmet, warum in der Zeit zwischen 1850 und 1919 Deutschland ökonomisch/innovativ voranging. Es wäre in meinen Augen denkbar, dass wirtschaftliche Prosperität, basierend auf einem hohen Niveau an Innovation, allein darauf beruht, von Disparität geprägte Räume zusammenzuschließen und zu Standardisieren, und damit Hemmnisse im Ideenaustausch und in der Größe der Märkte abbaut.

    Wäre die These korrekt, dann hieße das, dass es nur eine logische Konsequenz war, dass Deutschland im Rahmen einer Globalisierung und informationellen Revolution irgendwann an seine Grenzen stößt und seine besondere Position verliert. Es würde umgekehrt heißen, dass man weniger aus der Kaiserzeit für heute ableiten kann als vielleicht erhofft und die Diskussion um Staatsform und Politik ins Leere läuft.

  • ... sich der Frage widmet, warum in der Zeit zwischen 1850 und 1919 Deutschland ökonomisch/innovativ voranging. Es wäre in meinen Augen denkbar, dass wirtschaftliche Prosperität, basierend auf einem hohen Niveau an Innovation, allein darauf beruht, von Disparität geprägte Räume zusammenzuschließen und zu Standardisieren

    Deine These halte ich für nicht stichhaltig. Die Einheit Italiens wurde ungefähr zur selben Zeit umgesetzt, Italien erreichte allerdings keineswegs die (innovative) Strahlkraft des Deutschen Reiches. Es ist also nicht nur eine Frage von Standardisierung und Normierung, also nicht allein materieller Parameter.

    Ohnehin hätte sich auch das Kaiserreich bei Fortbestand weiter entwickelt. Gleichwohl bin ich kein Anhänger des "Globalismus" unserer Zeit und sehe in der forcierten Globalisierung viele Verwerfungen. Das sollte aber nicht Diskussionsstand hier sein.

    "Wenn wir die ehemalige Schönheit der Stadt mit der heutigen Gemeinheit verrechnen, kommen wir, so die Bilanz, aufs direkteste in den Schwachsinn." (E.H.)

  • Ich hätte eine These, die natürlich auch grundfalsch sein kann, die sich etwas vom Diskurs zum politischen System abscheidet und sich der Frage widmet, warum in der Zeit zwischen 1850 und 1919 Deutschland ökonomisch/innovativ voranging. Es wäre in meinen Augen denkbar, dass wirtschaftliche Prosperität, basierend auf einem hohen Niveau an Innovation, allein darauf beruht, von Disparität geprägte Räume zusammenzuschließen und zu Standardisieren, und damit Hemmnisse im Ideenaustausch und in der Größe der Märkte abbaut.

    Wäre die These korrekt, dann hieße das, dass es nur eine logische Konsequenz war, dass Deutschland im Rahmen einer Globalisierung und informationellen Revolution irgendwann an seine Grenzen stößt und seine besondere Position verliert. Es würde umgekehrt heißen, dass man weniger aus der Kaiserzeit für heute ableiten kann als vielleicht erhofft und die Diskussion um Staatsform und Politik ins Leere läuft.

    Klingt mir zu monolithisch als Erklärung - Du hast aber natürlich Recht, dass der Wegfall von Zöllen und eine gemeinsame Regulierung in einem großen Gebiet Mitteleuropas ein massives Wachstumsprogramm war. Es war eine Mischung aus vergleichsweise kluger Wirtschafts- und Sozialpolitik, (noch) nicht so fest im Sattel sitzenden Eliten (vergleiche UK - dort begann zur gleichen Zeit der bis heute währende schleichende Niedergang vom reichsten zum ärmsten Land Westeuropas) und einer enormen demografischen Expansion, die natürlich konsumfördernd war und Investitionen erzwang. Es gibt heute nicht mal mehr in Afrika mehr als ein, zwei chronisch krisengeschüttelte Länder, die auf die Geburtenraten des Deutschen Reichs in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts kommen.

    Das Bildungs- und Universitätssystem war innerhalb Europas wohl eines der offensten, auch wenn natürlich Standesdünkel aus heutiger Sicht noch deutlich stärker vertreten waren als damals. Insgesamt profitierte das Deutsche Reich vom Nimbus des neugegründeten Landes, viele Strukturen mussten neu geschaffen werden und waren frei von dem Ballast, den andere europäische Länder mit kontinuierlicherer Entwicklung mit sich herumschleppten. Einen ähnlichen Effekt gab es im Westen auch in den Nachkriegsjahrzehnten, das meiste war zwangsläufig neu, die Produktivität sowohl in der Industrie als auch in der Verwaltung höher als in den Ländern, deren Geschichte weniger disruptiv verlaufen war.

    Letztlich ist Deutschland seit der Gründung des Deutschen Reichs und trotz einer extrem unruhigen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer wieder auf die Füße gefallen, weil es eine gut ausgebildete Bevölkerung hat und zumindest einigermaßen soziale Durchlässigkeit. Anders als die Niedergangspropheten hier und anderwo behaupten, sehe ich das größte Problem, wenn man das so nennen will, auch im Jahre 2021 darin, dass Deutschland wie vorhergesagt wieder sehr stark geworden ist im europäischen Kontext. Nach dem schweren Anpassungsschock der Wiedervereinigung steht es nach zwei schweren Jahrzehnten mit hoher struktureller Arbeitslosigkeit und stagnierenden Reallöhnen wieder sehr gut da, auch wenn manche hier vom Gegenteil überzeugt sind.