Das Kaiserreich im Rückblick

  • Also: östlich der heutigen Niederlande wurden im 16./ 17. / 18. Jahrhundert ebenfalls noch niederdeutsche Mundarten gesprochen. Darauf wollte ich hinaus.

    Es werden auch heute noch in einem großen Teil der östlichen Niederlande niederdeutsche Mundarten gesprochen. Diese heißen im Niederländischen "nedersaksisch", also niedersächsisch, da sie sich wie das Niederdeutsche aus dem Altsächsischen entwickelt haben. In klarer Abgrenzung hierzu werden im Rest der Niederlande niederfränkische Mundarten gesprochen, zu denen auch das heutige Standardniederländische gehört.

    Durch die Niederlande verläuft also noch heute eine Sprachgrenze, die niederdeutsch (<altsächsisch) von niederfränkisch (<altfränkisch) trennt. Niederländer an der Grenze zu Niedersachsen sprechen mit ihren deutschen Nachbarn noch heute häufig Dialekt, der in den Niederlanden sogar noch ein wenig lebendiger ist. Immer wieder gewinnen auch niederländische Kinder bei plattdeutschen Vorlesewettbewerben im Grenzgebiet.

    Die einzige übergeordnete Gemeinsamkeit des Niederdeutschen mit dem Niederländischen/-fränkischen ist die Nichtteilnahme an der sogenannten 2. oder hochdeutschen Lautverschiebung, bei der die Laute -t-, -p-, -k- mehr oder minder durchgreifend Richtung -s-, -f-, -ch- verschoben wurden. Beide Sprachen haben hier somit den gemeingermanischen Lautstand bewahrt (Water, Appel, maken statt Wasser, Apfel, machen). Dies führt dazu, dass auch heute noch öfter zu lesen ist, das Niederländische sei mehr oder minder ein Dialekt des Niederdeutschen, was zumindest sprachgeschichtlich nicht zutrifft, da wie gesagt das Niederländische ein fränkischer Dialekt ist, der näher mit dem Kölschen/niederrheinischen/ripuarischen Dialekt verwandt ist als dem aus dem altsächsischen (also niedersächsischen!, hat nichts mit den heutigen Sachsen zu tun) entstandenen Niederdeutsch.

    Die Grenze ist auch deshalb relativ scharf (wie auch zwischen dem Schwäbischen und den alemannischen Mundarten), weil das Niederfränkische zumindest tlw. an der neuhochdeutschen Diphthongierung (oder einem Parallelprozess, ähnlich wie das Englische mit der "Great Vowel Shift") teilgenommen hat, der die gemeingermanischen alten Langvokale -i-, -u- und -ü- diphthongiert hat. Deshalb heißt es im Niederländischen "mijn huis", Neuhochdeutschen "mein Haus" und im Alemannischen wie im Niederdeutschen heute noch "min Hus". Einzig bei der Verschiebung von -ü- zu -eu- hat das Niederländische nicht teilgenommen. "Feuer in meinem Haus" heißt also auf Niederländisch "vuur in mijn huis" (Achtung, ungebräuchliche Formulierung, es geht um den Lautstand) , auf Englisch "fire in my house" und nur noch im Alemannischen und Niederdeutschen undiphtongiert "Füür in min/mis/mi(m) Hus", obwohl mit dem Schottischen und dem Friesischen auch noch weiteren westgermanische Sprachen existieren, die nicht diphtongiert sind und in denen es entsprechend "me hus" oder "min hus" heißt.

    Entschuldigt den kleinen sprachgeschichtlichen Exkurs, aber bei diesem Thema kenne ich mich eben aus.

  • Dabei war dieser Vorgang einfach nur Teil eines jahrhundertelangen Vorgangs der Begriffseinengung des Wortes "deutsch".

    Sorry, aber alles, was du da schreibst, ist aus der Perspektive des Historikers einfach abwegig. Es ist doch nicht so, dass sich einfach irgendwie auf geheimnisvolle Weise die Bedeutung des Begriffs "deutsch" verengt hätte.

    Die Prozesse des Ausscherens gewisser Reichsteile aus dem Reich im Verlauf des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit haben sich jeweils aus ganz spezifischen politischen Konstellationen ergeben. Im Fall der Schweiz aus dem Widerstand einer Bauernrepublik (wie es sie auch in anderen Teilen Deutschlands im Mittelalter teilweise noch gab) gegen die spätmittelalterlichen Territorialisierungsbemühungen eines Landesherren. Der gehörte dann zufälligerweise einer Dynastie an, die ab dem späten Mittelalter regelmäßig die Kaiser stellte, was einen Verbleib im Reich unmöglich machte.
    Die Konstellation im Fall der Niederlande war, wie ich es schon ausgeführt habe, sehr ähnlich.

    Nachdem diese Gebilde dann eine Staatenbildung vollzogen hatten, hat sich langsam und über lange Zeiträume hinweg jeweils ein nationales Sonderbewußstsein herausgebildet, das vom deutschen unterschieden war. Das war kein linguistischer Prozess; das waren historische Prozesse.

    aber dessen integrative Kraft reichte eben damals schon nicht mehr für eine "großdeutsche Lösung" aller deutschsprachigen Völker Mitteleuropas

    Auch das hat wieder nichts mit einer fehlenden "integrativen Kraft" zu tun, sondern schlicht mit einer politischen Konstellation, die damals unüberwindlich war: Der deutsche Dualismus, gepaart mit dem Umstand, dass Österreich sich weit über seine deutschen Grenzen hinaus ausgedehnt hatte.

    Der Versuch, die Bedeutung des deutschen Nationalbewußtseins vor 1871 herunterzuspielen, hat ja hier schon fast fanatische Züge.

  • Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation war in seiner größten Ausdehnung ein Vielvölkerstaat, so schwer regierbar wie das Römische Reich.

    Das HRR schon, der deutsche Reichsteil innerhalb des HRR weitgehend (sprich: mit Ausnahme des frankophonen Teils Lothringens) nicht.

    brig blieben die Regionen, die "urdeutscher" Boden waren,

    Falls damit das deutsche Königreich vor der Ostsiedlung gemeint ist, stimmt es nicht. Denn dazu gehörten auch Lothringen, das Elsaß und Österreich.

    Ausdehnung des polnischen Königreiches unter den Piasten begründen.

    Die in dieser Form etwa 130 Jahre Bestand hatte, bevor Schlesien und Pommern dann erst faktisch unabhängig wurden und im Zuge der Ostsiedlung für mehr als 700 Jahre zunächst unter deutschen Einfluß kamen und dann bald auch Teil Deutschlands wurden.
    Dieses ganze Piastengedöns ist eine Propaganda-Erfindung der 50ger Jahre, mit der das kommunistische Regime in Polen die Verbrechen der Vertreibung und der Annexion Ostdeutschlands rechtfertigen wollte. Dass diese unsägliche Propaganda hier plötzlich auftaucht, finde ich schon befremdlich.

  • P.S.: Mit "Argumenten" à la "Piasten-Königreich" könnte die Bundesrepublik auch Anspruch auf Belgien, die Provence und die Toskana erheben....

  • „So wäre es interessant einmal zu untersuchen, warum bei durch dynastische Hausmachtpolitik bedingter ethnischer Überdehnung der Grenzen des Alten Reiches die späteren Bruchkanten nicht entlang der tatsächlichen Sprachgrenzen verliefen, sondern sehr häufig auch zu einem Wegbrechen angrenzender weitgehend Deutsch sprechender Regionen führte ?“

    Könnte es sein, daß die Politik dieser dem Aargau entwachsenen und mit Spanien, Ungarn sowie Südpolen aus dem Bereich des HRR herausgewachsenen Dynastie ungewollt zur Entfremdung der genannten Gebiete geführt hat ?

    Ich möchte aufbauend auf dem, was Tegula hier geschrieben hat:

    Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation war in seiner größten Ausdehnung ein Vielvölkerstaat, so schwer regierbar wie das Römische Reich. Dass sich da Partikularinteressen durchsetzen, die zu Abspaltungen führten, ist nicht verwunderlich (erst recht unter Glaubensspaltungen durch die Reformation): Österreich, Schweiz, Niederlande.

    noch anfügen, dass die Deutschen meiner Meinung nach noch nie ein sonderlich ausgeprägtes, dauerhaftes Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt haben, man hielt im Grunde nur dann großflächig zusammen, wenn man sich von außen bedroht sah; Beispiele wären die Kämpfe gegen die Ungarn, die Türken oder die Franzosen (vor allem gegen Napoleon). Kurzzeitig flammte so vielleicht ein leidenschaftliches (mitunter übertriebenes) Nationalgefühl auf, aber das war nie von langer Dauer: ansonsten lebte man in vielfacher, bis in die Kleinstaaterei gehender Zersplitterung , war in wechselhaften Allianzen mit- oder gegeneinander organisiert und oft genug auch untereinander zerkriegt. Dies lag vor allem in der Natur des organisatorisch sehr lockeren HRR begründet, in dem von Anfang an kein eindeutiges kulturelles Zentrum existierte, das für alle verbindlich gewesen wäre: es gab kein Paris, kein London, kein Rom. Das ist der große Unterschied in der kulturellen Entwicklung zu zentralisierteren Ländern wie Frankreich oder England, aber auch zu Italien, dass trotz seiner ebenfalls großen politischen Zersplitterung immer das einende Vorbild des großen antiken Roms besaß und seine Kultur somit immer auf diesen gemeinsamen Ursprung stellen konnte. Wien hätte zwar am ehesten die Rolle einer einenden Kapitale in Deutschland ausfüllen können, hat sich aber letztlich erst dann zu einer Stadt von wahrhaft europäischem Format entwickelt, als durch die Reformation die deutschen Länder schon unwiderruflich in zwei grundverschiedene Lager geteilt waren; außerdem war es zu sehr am Rand des deutschen Kulturraums gelegen, um wirklich auf zentrale Art kulturbestimmend sein zu können. Die Reformation und die Glaubenskriege gaben dem eh schon sehr lockeren Verbund des HRR dann auch noch den Rest und trieben einen großen Keil in die kulturelle Identität Deutschlands, so dass die Hoffnung auf eine natürlich zusammenwachsende nationale Einigung in meinen Augen eigentlich illusorisch ist. Zu lange Zeit stand man sich eher skeptisch gegenüber und war mehr in Konkurrenz zueinander, als dass sich ein tiefes Zusammengehörigkeitsgefühl hätte entwickeln können.

    Für mich ist diese kulturelle Verschiedenartigkeit mit ihren tiefsitzenden gegenseitigen Animositäten das Problem, welches die Deutsch-Nationalen gerne kleinreden und nicht wahrhaben wollen: die Deutschen haben sich einfach noch nie dauerhaft zueinander bekannt und eine wirklich gemeinsame nationale Kultur entwickelt. Von daher sind die Absplitterungstendenzen der am Rande des deutschen Kulturraums liegenden Gebiete nur zu natürlich: man hat sich dort halt eher an den umliegenden Kulturen orientiert und fand keinen großen Anreiz, sich zum Zentrum hin zu orientieren, dort war schlichtweg lange Zeit nichts, was so große Anziehungskraft entwickelt hätte.

    Die deutsche nationale Geschichte ist von Anfang an eine sehr schwierige und in meinen Augen nicht für einen Nationalstaat englischer oder französischer Prägung geeignet; einen solchen Nationalstaat nach so vielen Jahrhunderten der kulturellen Verschiedenartigkeiten und Animositäten herbeikonstruieren zu wollen, heißt viele über 1000 Jahre entwickelte regionale Besonderheiten und Befindlichkeiten zu nivellieren und im Endeffekt zu negieren. Aber gerade das hat Deutschland in kultureller Hinsicht doch so reich und besonders gemacht!

    Für mich wäre eine Fortsetzung des Deutschen Bundes die logischere und richtigere Konsequenz gewesen, obwohl ich natürlich nicht weiß, ob es funktioniert hätte.

    "In der Vergangenheit sind wir den andern Völkern weit voraus."

    Karl Kraus

  • die Deutschen haben sich einfach noch nie dauerhaft zueinander bekannt und eine wirklich gemeinsame nationale Kultur entwickelt.

    Aber gerade das hat Deutschland in kultureller Hinsicht doch so reich und besonders gemacht!

    Dass diese beiden Aussagen sich logisch widersprechen, ist dir aber schon klar. Die zweite setzt etwas voraus, was die erste gerade bestreitet.

  • Nein, weil ich einen Reichtum an "diversen" Regionalkulturen konstatiere, die sich aber nicht zu einer einheitlichen, gemeinsamen Nationalkultur vereinen bzw. sich teilweise grundsätzlich unterscheiden. Deutschland als kultureller Fleckerlteppich, aber nicht als homogene Nationalkultur. Der Unterschied zwischen protestantischer und katholischer Kultur sei hierbei nur als mächtigstes Beispiel genannt.

    "In der Vergangenheit sind wir den andern Völkern weit voraus."

    Karl Kraus

  • homogene Nationalkultur

    Die gibt es auch in Frankreich oder England nicht. Das ist kein deutsches Spezifikum.

    die sich aber nicht zu einer einheitlichen, gemeinsamen Nationalkultur vereinen

    Auch der süddeutsche Barock ist ein gemeinsames kulturelles Erbe ganz Deutschlands. Außerdem: Goethe, Kant, Hegel, Schiller, die deutsche Barockdichtung, die deutsche Mystik, Novalis, Eichendorff, Rilke, Thomas Mann, der deutsche Expressionismus: alles keine "gemeinsame Nationalkultur".
    Ich bitte euch, dieser Versuch, so etwas wie eine deutsche Kultur und Nationalität zu leugnen, nimmt ja schon fast wahnhfate Züge an.

  • Ich bitte euch, dieser Versuch, so etwas wie eine deutsche Kultur und Nationalität zu leugnen, nimmt ja schon fast wahnhfate Züge an

    Das kommt mir auch so vor.

    Der Fernsehsender 3sat strahlte in seiner Sendung „kulturzeit“ im Januar 2012 ein Interview mit dem russischen Regisseur Alexander Sokurov aus.

    Sokurov erhielt für seine im Jahr 2011 fertiggestellte Faustverfilmung den Goldenen Löwen der 68. Internationalen Filmfestspiele von Venedig.

    Obwohl Sokurov selbst nicht, bzw. nur rudimentär deutsch spricht, ließ er den Film in deutscher Sprache drehen.

    Im Gespräch mit 3sat gab der Regisseur erstaunliches von sich.

    (05:36) Ich liebe Deutschland, und komme gerne hierher. Aber die Deutschen müssen endlich damit aufhören, ihre nationale Kultur mit Füßen zu treten. Wenn die Deutschen das nicht schaffen, ist meine letzte Hoffnung für Europa dahin.

    Ich glaube, die Deutschen haben einfach noch nicht verstanden, welche ungeheure Bedeutung das deutsche Kulturerbe für sie selbst, und für die ganze Welt hat. Ich kann mir diese Missachtung nur so erklären: Deutschland hat es noch nicht vollständig kapiert, wie wichtig seine Kultur für die gesamte zivilisierte Welt ist.

    Ich habe das Gefühl, dass die Deutschen sich davor fürchten, über ihre nationale Kultur zu reden. Aber was ist Deutschland ohne seine Kultur, seine Kunst, seine Sprache? Was bleibt dann? Was ist das für ein Volk, das seiner eigenen Kultur den Rücken kehrt?

    Jede Region in Deutschland hat ihre eigene Auffassung von Kultur. Das ist gefährlich. Ich sehe weder im Fernsehen, noch im Museum, noch im Theater, die Liebe zur nationalen deutschen Kultur, so als hätten die Deutschen Angst davor. Aber wovor haben sie denn Angst?

    (Alexander Sokurov im Interview mit 3sat, 12.01.2012)

    ScreenShot 1: hier

    ScreenShot 2: hier

    "Wenn wir die ehemalige Schönheit der Stadt mit der heutigen Gemeinheit verrechnen, kommen wir, so die Bilanz, aufs direkteste in den Schwachsinn." (E.H.)

  • Die einzige übergeordnete Gemeinsamkeit des Niederdeutschen mit dem Niederländischen/-fränkischen ist

    Ein Auszug aus der niederländischen Wikipedia über "Nederduits" (Niederdeutsch):

    Het onderscheid Nederlands en (Neder-)Duits werd in vroeger eeuwen nog niet zo scherp gemaakt. Vóór de 19de eeuw was Nederduits synoniem met Nederlands.

    Freie Übersetzung von mir:

    Quote

    Die Unterscheidung zwischen Niederländisch und (Nieder-)Deutsch wurde in früheren Jahrhunderten nicht so stark gemacht. Vor dem 19. Jahrhundert war Niederdeutsch synonym mit Niederländisch (... wurde Niederdeutsch synonym für Niederländisch verwendet).

    Heute gibt es offenbar ein starkes Interesse den Unterschied größer herauszustellen als noch vor - sagen wir - 130 Jahren. Und vor gut 200 Jahren wurde dieser Unterscheid noch überhaupt nicht gemacht.

    "Wenn wir die ehemalige Schönheit der Stadt mit der heutigen Gemeinheit verrechnen, kommen wir, so die Bilanz, aufs direkteste in den Schwachsinn." (E.H.)

  • Die in dieser Form etwa 130 Jahre Bestand hatte, bevor Schlesien und Pommern dann erst faktisch unabhängig wurden und im Zuge der Ostsiedlung für mehr als 700 Jahre zunächst unter deutschen Einfluß kamen und dann bald auch Teil Deutschlands wurden.
    Dieses ganze Piastengedöns ist eine Propaganda-Erfindung der 50ger Jahre, mit der das kommunistische Regime in Polen die Verbrechen der Vertreibung und der Annexion Ostdeutschlands rechtfertigen wollte. Dass diese unsägliche Propaganda hier plötzlich auftaucht, finde ich schon befremdlich.

    Zunächst einmal ist das weder Gedöns, noch Propaganda, noch befremdlich, sondern allgemeine Lehre an den Universitäten und der Fachliteratur, unter anderem am Institut für Osteuropäische Geschichte in Kiel, wo ich mit Schwerpunkt polnische Geschichte studiert habe.

    Die Piasten haben für die Staatsbildung Polens die gleiche Stellung wie die Ottonen für Deutschland. Dass das piastische Königreich nach 1138 in Herzogtümer zerfiel, ändert zunächst an der Oder als Grenze zwischen polnischer und deutscher Landesherrschaft nichts. Erst in der Mitte des 13. Jh änderte sich das. Diese Odergrenze hatte das gesamte Hochmittelalter hindurch fast 300 Jahre bestand. Das sind erst einmal die historischen Fakten.

    Ich schreibe dies lediglich als Erwiderung auf die von Pagentorn aufgeworfene Frage nach den heutigen Grenzen Deutschlands. Sie dient dazu, besser zu verstehen, warum man sich 1945 für die Oderlinie als Westgrenze Polens entschieden hat. Ich werte diese Entscheidung nicht, sondern versuche sie zu erklären. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

    Ansonsten empfehle ich diese Bibliographie zur Geschichte Polens: https://hds.hebis.de/herder/Search/…g:Bibliographie
    Da wird jeder fündig.

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  • Ich bitte euch, dieser Versuch, so etwas wie eine deutsche Kultur und Nationalität zu leugnen, nimmt ja schon fast wahnhafte Züge an.

    Dem begegne ich immer wieder. Auch im Studium wurde es so selbst von als konservativ geltenden Professoren vermittelt, dass der deutsche Nationalstaat letztlich ein Irrweg war. Im Grunde spiegelt sich darin nur die seelische Verfassung der Bundesrepublik. Sie möchten sich eben so gerne auflösen, in einem europäischen Staat aufgehen, dabei in möglichst viele Regionen aussplittern, die heute so etwas wie EU-Verwaltungsfunktionsareale darstellen würden. Nur diese engstirnigen chauvinistischen Nachbarn wollen bei der großen Auflösung noch nicht mitmachen. Diese Polen, diese Ungarn, diese Brexit-Briten, dies Le-Pen-Franzosen.... schrecklich...

    Und bei der Kultur geht es weiter. Ich erinnere mich noch an das türkische Lokal in Frankfurt. Dort hing ein großes Plakat, das die eine deutsche Kultur spielerisch leugnete. Es war zu Anfangszeiten der Propagierung einer "multikulturellen Gesellschaft" in bestimmten Kreisen recht beliebt. (Siehe hier) Keiner der deutschen Gäste protestierte dagegen. Ich mied das Lokal, stellte mir aber vor, ähnliches würde wider die Existenz einer türkischen Kultur in einem deutschen Lokal hängen ("Dein Gott ist arabisch, deine Schrift ist lateinisch..." usw.). Da wäre aber was los gewesen... :lachen:

    Also, das alles magst Du wahnhaft nennen, es ist aber nur der "bundesdeutsche Konsens". Das habe ich früher auch nicht wahrhaben wollen, musste es aber über viele Jahre schmerzhaft erkennen. Das wird sich nur noch durch große Schockerlebnisse ändern, denke ich.

  • Sorry, aber alles, was du da schreibst, ist aus der Perspektive des Historikers einfach abwegig.

    Gibt es nur einen Historiker und der bist du? "Geschichtsfälschung" - "wahnhaft" - "fanatisch" - ich finde deine Wortwahl etwas eigenartig.

    Gerade über Nation und Nationalkultur wurde und wird viel diskutiert. Beiträge wie die von Leonhard sind typisch für die Selbstvergewisserung einer Nation. So etwas Besonderes sind die Deutschen in dem Punkt auch gar nicht. Der tschechische nationale Diskurs ist überaus umfangreich und eigentümlich. Auch der russische nationale Diskurs hat allerlei Besonderheiten zu bieten. Man könnte weitere Völker Europas nennen.

    Im polnischen Geschichtsdiskurs hat die Bezugnahme auf das Piastenreich von vor tausend Jahren eine gewisse Bedeutung für die geistige Aneignung der Oder-Neiße-Grenze. Es gibt bei den Westslawen ein Bewusstsein dafür, dass ihr Siedlungsgebiet im 10. Jahrhundert bis an die Elbe-Saale-Linie und nördlich davon bis nach Ostholstein reichte. tegula rezipierte in seiner Äußerung eine slawische Perspektive auf die Geschichte. Die Grenzziehung von 1945 ergab sich natürlich aus den politischen Konstellationen am Ende des Zweiten Weltkrieges. Das ist klar. Man könnte vielleicht sagen, dass sich die Oder-Neiße-Linie als naturräumliche Grenzlinie in Mitteleuropa am Ende des 10. Jahrhunderts angeboten hatte - und 1945 erneut, nachdem die Verschiebung der polnisch-deutschen Grenze weit nach Westen im Grundsatz beschlossen war.

    Nachdem diese Gebilde dann eine Staatenbildung vollzogen hatten, hat sich langsam und über lange Zeiträume hinweg jeweils ein nationales Sonderbewußstsein herausgebildet, das vom deutschen unterschieden war. Das war kein linguistischer Prozess; das waren historische Prozesse.

    Sprachentwicklung ist auch ein historischer Prozess. Bezogen auf die Niederlande ist die Entwicklung einer niederländischen Standardsprache im 16./17. Jahrhundert zu erwähnen. Der niederländische Sprachraum wurde nicht von einer deutschen Standardsprache überdacht.

    Interessant übrigens auch, dass die niederländische und die flämische Malerei in der Kunstgeschichte nicht zur deutschen Malerei gerechnet werden. Und das schon beginnend bei Jan van Eyck.

  • Interessant übrigens auch, dass die niederländische und die flämische Malerei in der Kunstgeschichte nicht zur deutschen Malerei gerechnet werden. Und das schon beginnend bei Jan van Eyck.

    Das ist richtig. Die "Altniederländische Malerei" ist eine eigene Terminologie in der Kunstgeschichte des 15. Jahrhunderts, die mit Namen wie Robert Campin, Jan van Eyck, Dierick Bouts, Rogier van der Weyden oder Hans Memling verbunden ist. Bezeichnenderweise sind damit aber nicht die nordniederländischen Provinzen umrissen, sondern tatsächlich nur Flandern, also flämische Malerei auf dem Staatsgebiet des heutigen Belgien. Das Goldene Zeitalter in den nördlichen Niederlanden erfolge - wie wir alle wissen - im 17. Jahrhundert.

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  • Das ist der große Unterschied in der kulturellen Entwicklung zu zentralisierteren Ländern wie Frankreich oder England, aber auch zu Italien, dass trotz seiner ebenfalls großen politischen Zersplitterung immer das einende Vorbild des großen antiken Roms besaß und seine Kultur somit immer auf diesen gemeinsamen Ursprung stellen konnte.

    In Italien soll es historisch mehr Zusammengehörigkeitsgefühl gegeben haben als in Deutschland? Das halte ich für eine sehr gewagte These. Gerade in Italien identifizierte man sich (abgesehen von wenigen Idealisten wie beispielsweise Dante, die erkannten, wie sehr diese Uneinigkeit Italien schwächte) besonders mit seiner Region bzw. seiner Stadt, in noch deutlich ausgeprägterer Form, als es in Deutschland der Fall war. Ich erinnere an den berühmten Spruch aus dem Risorgimento: „Wir haben Italien geschaffen, jetzt müssen wir Italiener schaffen!“ Auch heute noch gibt es doch wahrscheinlich in keinem großen europäischen Land (abgesehen von Spanien, wo es aber eher an bestimmten Punkten konzentriert ist) so starke regionalistisch-sezessionistische Tendenzen wie in Italien. Übrigens ist auch die Homogenität Frankreichs ein Produkt vor allem des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. In den einzelnen Regionen Frankreichs gab es bis weit ins 19. Jahrhundert hinein starke Lokalidentitäten, die sich in keiner Weise von den Lokalidentitäten Deutschlands unterschieden. Das kann man gut in Eugen Webers "Peasants into Frenchmen: The Modernization of Rural France" nachlesen. Im Sprachgebrauch der Menschen des damaligen Südfrankreichs war mit "Frankreich" häufig sogar lediglich das Gebiet nördlich der Loire gemeint. Frankreich war politisch natürlich ein geeinter Staat - daraus muss aber nicht folgen, dass die Menschen auch geistig geeint waren. Vielleicht waren die Lokalidentitäten in Frankreich sogar noch separatistischer als in Deutschland, denn es gab ja den gemeinsamen Staat, von dem man sich abgrenzen musste, um das Eigene zu rechtfertigen. In Deutschland existierten Nationalidentität und Lokalidentität nebeneinander bzw. miteinander, ohne einander ein Widerspruch zu sein. In zentralisierten Staaten dagegen ist die Nationalidentität unweigerlich mit der Staatsmacht verknüpft, damit politisch aufgeladen, und so weigerten sich zum Beispiel lange die Menschen in Okzitanien, in Lothringen, in der Normandie etc., die französische Nationalidentität anzunehmen.

  • Aber bitte meine Herren, was regen S' Ihnen denn so auf? Es ist doch nur eine Diskussion über Deutschland...

    Aber im Ernst: ich hab leider nicht viel Zeit, aber ich möchte klarstellen, dass ich mitnichten bestreiten wollte, dass es nicht auch viele verbindende kulturelle Elemente in Deutschland gibt, sie sind meiner Meinung nach nur nicht so stark und logisch, dass man deswegen unbedingt einen Nationalstaat englischer oder französischer Prägung daraus hätte machen müssen. Und schon gleich gar nicht wollte ich behaupten, dass es keine deutsche Hochkultur gäbe. Ich hab vorhin, auch wieder aus Zeitmangel, stark verkürzt formuliert und hab mich deswegen nicht ganz richtig ausgedrückt, ich bitte um Verzeihung.

    Zum Rest schreib ich was, wenn ich wieder mehr Zeit hab.

    "In der Vergangenheit sind wir den andern Völkern weit voraus."

    Karl Kraus

  • Nein, weil ich einen Reichtum an "diversen" Regionalkulturen konstatiere, die sich aber nicht zu einer einheitlichen, gemeinsamen Nationalkultur vereinen bzw. sich teilweise grundsätzlich unterscheiden. Deutschland als kultureller Fleckerlteppich, aber nicht als homogene Nationalkultur.

    Inwiefern ist denn die nationale Kultur in Frankreich homogener? Südfrankreich ist - was Kultur und Lebenswandel anbelangt - Südeuropa, Nordfrankreich wirkt praktisch nordeuropäisch. Wenn, dann hat Frankreich doch mehr regionale Heterogenität aufzuweisen als Deutschland. Sprachlich gesehen historisch übrigens auch: Es gibt einen Bericht Jean Racines über eine Reise nach Südfrankreich. Da meint er, dass er (natürlich bewusst zugespitzt) die Dialekte des Südens nicht besser verstünde als Moskowitisch (also Russisch). Auch beschreibt er, dass die Bewohnern Okzitaniens es abstritten, Franzosen zu sein. Auch in Italien: inwiefern soll denn das sehr mediterrane Süditalien, wo starke griechische, spanische Einflüsse wirkten, Norditalien, das historisch und kulturell praktisch ein Teil Mitteleuropa war, so ähnlich sein? In Spanien auch dieselbe regionale Vielfalt. Nationen sind niemals monolithisch - Deutschland ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel.

    Hier übrigens einmal zwei Komödien, die die regionalen Identitäten in Frankreich bzw. Italien behandeln:

    https://de.wikipedia.org/wiki/Willkomme…Sch%E2%80%99tis

    https://de.wikipedia.org/wiki/Willkommen_im_S%C3%BCden

    Zumindest scheint die Erfahrung, die der Südfranzose bzw. Süditaliener macht, wenn er in den Norden seines Landes geht, sich nicht allzu sehr von der Erfahrung zu unterscheiden, die Leonhard haben wird, wenn er den Weißwurstäquator überschreitet und das kalte Preußenland betritt.

  • Nationen sind niemals monolithisch - Deutschland ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel.

    Das hängt von der Größe der Nation ab. Die estnische Nation ist zum Beispiel sehr homogen.


    Zu den folgenden Äußerungen präsentierte Pagentorn eine Reihe von Wappen, darunter das des Königreichs Böhmen.

    Wenn man sich die politische Karte Europas ansieht, dann fällt auf, daß im Grunde lediglich das von Bismarck begründete Staatswesen von einem Saum von Staaten umgeben ist, von deren jeweiligen Territorien ein Großteil das Potential gehabt hätte, bei der von Heinzer beschriebenen ‚Verengung’ des Begriffs ‚deutsch’ dennoch Teil des deutschen Nationalstaates zu werden.

    Und interessanterweise führen die meisten dieser ‚Saumstaaten’ bis heute in ihren Flaggen oder Wappen die Farben des alten Reiches (Rot und Weiß) und geben sich damit als das zu erkennen, was sie recht eigentlich einst waren: dessen ‚Marken’.

    Fast allen diesen Saumgebieten ist gemeinsam, daß sie für entscheidende Perioden ihrer Geschichte vom Hause Habsburg regiert wurden.

    Böhmen war kein "Saumstaat", kein "Saumgebiet" und keine "Mark" des Alten Reiches. Es handelt sich um eine slawische Staatsbildung mit dem Zentrum Prag. Das Wappen Böhmens zeigt seit dem 13. Jahrhundert einen silbernen Löwen auf Rot. Polen - ebenfalls eine slawische Staatsbildung des 10. Jahrhunderts - nutzt die gleiche Farbkombination. Dort ist es ein silberner Adler auf Rot.

    Böhmen hatte immer eine tschechische Bevölkerungsmehrheit. Es war nie ein Teil von Deutschland. Es hat seine inneren Angelegenheiten selbst geregelt. Böhmen entsandte keine Truppen zum Reichsheer. Es unterstand nicht dem Reichskammergericht. Es hatte ein eigenes Adelsrecht usw. Die Habsburger standen für eine Germanisierungspolitik (vor allem nach 1620). In deren Folge wurde das Tschechische aus Politik und Verwaltung durch das Deutsche verdrängt. Ein Gefühl der Zugehörigkeit zu Deutschland ergab sich daraus nicht. Die tschechische Nationalbewegung lehnte es im 19. Jahrhundert ab, an einem deutschen Nationalstaatsprojekt teilzunehmen.

    Die Tschechen wurden auch nicht, wie du an anderer Stelle vermutet hast, von einer auswärtigen Macht gegen die Deutschen aufgestachelt. Tschechen sind selbständig denkende und handelnde Menschen. In deinen Äußerungen, lieber Pagentorn, kommen immer wieder Ignoranz und Geringschätzung gegenüber dem tschechischen Volk zum Ausdruck. Dir ist wahrscheinlich gar nicht bewusst, wie das auf Tschechen wirkt. Du befindest dich damit in der schlechten Gesellschaft anderer deutscher Nationalisten.

  • Sorry, aber alles, was du da schreibst, ist aus der Perspektive des Historikers einfach abwegig.


    Nachdem diese Gebilde dann eine Staatenbildung vollzogen hatten, hat sich langsam und über lange Zeiträume hinweg jeweils ein nationales Sonderbewußstsein herausgebildet, das vom deutschen unterschieden war. Das war kein linguistischer Prozess; das waren historische Prozesse.

    Der Versuch, die Bedeutung des deutschen Nationalbewußtseins vor 1871 herunterzuspielen, hat ja hier schon fast fanatische Züge.

    Seltsam emotionale Antwort auf eine lediglich andere Perspektive der Dinge. Ich habe Dir doch gar nicht grundsätzlich widersprochen, sondern nur die sprachgeschichtliche Komponente in die Diskussion eingeführt. Da kann man eben ein "deutsch" aus dem 17. Jhdt. eben nicht mit einem heutigen "deutsch" gleichsetzen.

    Im Übrigen stimme ich Leonhard zu, dass ich das Bedauern des Scheiterns einer pangermanischen, oder zumindest wirklich großdeutschen Lösung (also ein Reich für alle kontinentalwestgermanische Sprachen sprechenden Menschen) explizit nicht teile. Die Fliehkräfte waren einfach viel zu groß. Ich erinnere mich sogar hier in diesem Forum an ernsthaft geäußertes Bedauern, dass Bayern im Zuge der Reichsgründung quasi "betuppt" worden sei und eigentlich doch viel besser zu Österreich gepasst hätte oder gleich ganz selbständig geblieben wäre. Solche Diskussionen hätten wir nun permanent mit einem von woher auch immer regierten Großdeutschen Reich.

    Ich halte das Deutschland in seiner heutigen Form schon für eine recht gut passende Angelegenheit in Bezug auf Größe und Macht innerhalb Europas und weine einer instabilen, aber nominell größeren und mächtigeren alternativen Version nicht nach. Für all das gibt es erfreulicherweise die Europäische Union, die ein Leben und Arbeiten und einen regen und unbürokratischen Verkehr und Austausch zwischen allen genannten, sich heute und/oder früher als "deutsch" empfindenden Landstrichen Mitteleuropas möglich macht. Niederländer kaufen Häuser auf der deutschen Seite der Grenze, weil es billiger ist und schicken ihre Kinder auf deutsche Schulen, Elsässer ziehen auf die deutsche Seite des Rheins und arbeiten in Straßburg, eine Grenze zwischen Bayern und Österreich ist fast nur an den andersfarbigen Verkehrsschildern zu erkennen, auch zwischen der Schweiz, Frankreich und Deutschland herrscht im Dreiländereck dank der Teilnahme der Schweiz an sehr vielen europäischen Verträgen die gleiche Situation einer vollkommen ineinander verschmolzenen Region.

    Abgesehen davon vertreten die Niederlande, Österreich und Deutschland oft eine sehr ähnliche Position innerhalb der EU, so dass auch hier auf suprastaatlicher Ebene eine sehr enge und vertrauensvolle Kooperation herrscht, die all die Träumereien von einem Superreich von Wien bis Amsterdam wohl in der Realität näher gebracht hat, als es nationale Politik jemals gekonnt hätte.