Das Kaiserreich im Rückblick

  • Aus ethnisch-nationaler Sicht hast Du sicherlich Recht, "Rastrelli". Obgleich es aus dieser Sicht damals in der Tendenz lag, "Irredenta"-Gebiete in das Staatsgebiet einzugliedern. Z.B. von italienischer Seite, wo es nicht nur Bestrebungen hinsichtlich Istrien und der dalmatinischen Küste gab, sondern auch der italienischen Schweiz. Es wäre also zumindest die Forderung einer Angliederung der Deutsch-Schweiz denkbar gewesen.

    Zudem aber gab es damals durchaus noch das (meist dynastisch begründete) Reichs-Denken. Länder wie Russland, Österreich-Ungarn, Frankreich, später auch Polen oder die Tschechoslowakei umfassten auch Gebiete mit anderen Volksgruppen. Da Bismarck eher kein volklich denkender Nationalist war, sondern ein monarchischer Konservativer wären also weitergehende Ansprüche, z.B. auf das Baltikum, denkbar gewesen. Bismarck indes verzichtete bewusst auf territoriales Wachstum des neuen Staates.

  • Die Niederlage von 1870/71 war für die französische Gesellschaft eine tiefe narzisstische Kränkung und seither hat das Land systematisch und unversöhnlich auf einen Revanchekrieg hingearbeitet. Ich sehe in ihm den Hauptverantwortlichen für den Ersten Weltkrieg.

    Die Niederlage von 1918 war für die deutsche Gesellschaft eine tiefe Kränkung, und spätestens seit 1933 hat Deutschland systematisch und unversöhnlich auf einen Revanchekrieg hingearbeitet. Ich sehe in ihm den Hauptverantwortlichen für den Zweiten Weltkrieg.

    Selbst wenn das Reich Elsaß-Lothringen zurückgegeben hätte, wäre Frankreich langfristig wohl erst zufrieden gewesen, wenn es das gesamte linksrheinische Gebiet bekommen hätte. Das Expansionsbedürfnis dieser Nation war über Jahrhunderte hinweg unersättlich, was nicht zuletzt die Eroberungskriege Napoleons I. und die Eroberungsgelüste Napoleons III. beweisen.

    Wie kommst du darauf? Frankreich hat doch Elsass-Lothringen zurückerhalten, danach aber nicht das linksrheinische Deutschland annektiert. Lediglich das kleine Saargebiet wurde nach beiden Weltkriegen für einige Jahre unter französische Verwaltung gestellt. Unter den Bedingungen des Nationalismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wäre eine Annexion größerer deutscher Gebiete für Frankreich langfristig nicht beherrschbar gewesen. Napoleon I. konnte das mit seinem revolutionären Impetus Anfang des 19. Jahrhunderts noch versuchen, aber auch er musste zwangsläufig scheitern. Herrschaft braucht ein Mindestmaß an Legitimität und Berücksichtigung der Interessen anderer Mächte.

    Parallel zum Frankreich zwischen 1871 und 1919 gab es in Deutschland nach 1919 das Bedürfnis, sich Südschlesien, Teile Westpreußens und das Memelland zurückzuholen. Und vielleicht hätte Frankreich sich nach 1941 - einen neuerlichen Sieg Deutschlands vorausgesetzt - mit dem Verlust von Elsaß-Lothringen ebenso abgefunden wie die BRD nach der neuerlichen Niederlage 1945 mit dem Verlust der Ostgebiete.

    Hier ziehst du auch mal eine Parallele. Deutschland und Frankreich waren einander ähnlicher, als sie glaubten. Auf arte sah ich mal eine Doku, in der dem französischen Militär die Hauptverantwortung für die monströse Materialschlacht 1916 vor Verdun gegeben wurde.

    " Südschlesien" ist als Regionalbezeichnung ungebräuchlich. Was meinst du damit? Deine Überlegung zu 1941 ist rein hypothetisch. Voraussetzung wäre gewesen, dass sich Deutschland begrenzte Ziele gesetzt hätte, aber das NS-Regime kannte kein Maß.

    Was ich mich schon immer gefragt habe: Was wäre eigentlich geschehen, wenn man Belgien geteilt hätte: Flandern an die Niederlande, Wallonien als Kompensation für Elsaß-Lothringen an Frankreich?

    Warum fragst du dich nicht, was die Belgier dazu gesagt hätten? Deutschland hätte also als Kompensation das Gebiet eines Staates anbieten sollen, den es gar nicht beherrschte. Mit einem europäischen Königreich konnte man damals nicht so willkürlich umspringen.

  • Unsern Schülern wurde demgegenüber Jahrzehnte später beigebracht, die Abtrennung Ostdeutschlands klaglos zu akzeptieren.

    Was sollte man auch sonst machen? In Polen einmarschieren?

    Es ist schon so, daß von vielen Seiten immer wieder an unserem territorialem Bestand geknabbert wurde und wir dies letztlich immer hingenommen haben.

    Der Verzicht scheint wohl ein 'Meister aus Deutschland' zu sein..

    Übermorgen ist der 22. Juni. Dann jährt sich der deutsche Überfall auf die Sowjetunion zum 80. Mal.

    "Der Tod ist ein Meister aus Deutschland" schrieb Paul Celan in dem Gedicht "Todesfuge".

    Merkst du nicht, wie peinlich deine Allusion ist? Celans Todesfuge abzuwandeln, um Deutschland als Opfer darzustellen! Darauf muss man erstmal kommen. Aber vermutlich offenbart sich hier nur ein Bildungsdefizit.

    Das weinerliche Selbstmitleid deutscher Nationalisten war mir schon immer zuwider.

  • S.M. Kaiser Wilhelm II. hat während seiner mehr als fünfundzwanzigjährigen Friedensherrschaft....

    „Kommt Ihr vor den Feind, so wird er geschlagen, Pardon wird nicht gegeben; Gefangene nicht gemacht. Wer euch in die Hände fällt, sei in Eurer Hand. Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in der Überlieferung gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutschland in China in einer solchen Weise bestätigt werden, daß niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen.“ —

    Wilhelm II. aus der so genannten Hunnenrede bei der Verabschiedung des deutschen Expeditionscorps nach China in Bremerhaven am 27. Juli 1900,

  • „Kommt Ihr vor den Feind, so wird er geschlagen, Pardon wird nicht gegeben; Gefangene nicht gemacht. Wer euch in die Hände fällt, sei in Eurer Hand. Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in der Überlieferung gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutschland in China in einer solchen Weise bestätigt werden, daß niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen.“ —

    Wilhelm II. aus der so genannten Hunnenrede bei der Verabschiedung des deutschen Expeditionscorps nach China in Bremerhaven am 27. Juli 1900,

    Dazu gehört aber das damalige Umfeld. Im Kolonialkrieg wurde allseitig kein Pardon gegeben. Hinzu kam:

    "Ein Teil der moralischen Entrüstung des Kaisers geht möglicherweise auch auf die Mitte Juli zunächst in der britischen Daily Mail und später in der deutschen und internationalen Presse verbreitete, mit grausigen Details ausgeschmückte Falschmeldung zurück, das Pekinger Gesandtschaftsviertel sei erstürmt und ausnahmslos alle Ausländer seien umgebracht worden. (wiki)

  • In meinen Augen kann es nicht Sinn eines Diskussionsforums sein, immer und immer wieder die schon vorher feststehenden Standard-Ansichten und den ‚Kanon des Offiziösen’ in Endlosschleife zu wiederholen. Auf solchen Plattformen sollte vielmehr die Möglichkeit bestehen, vorhandene Faktenlagen auch einmal gegen den Strich zu bürsten und anhand neuer Fragestellungen neue Erkenntnisse zu gewinnen.

    So wäre es interessant einmal zu untersuchen, warum bei durch dynastische Hausmachtpolitik bedingter ethnischer Überdehnung der Grenzen des Alten Reiches die späteren Bruchkanten nicht entlang der tatsächlichen Sprachgrenzen verliefen, sondern sehr häufig auch zu einem Wegbrechen angrenzender weitgehend Deutsch sprechender Regionen führte ?

    Was im Übrigen am Hinweis auf die fehlende Kongruenz der Grenzen des Alten Reiches mit denen des Deutschen Kaiserreiches ‚nationalistisch’ sein soll, erschließt sich mir nicht. Zumal sich im Vergleich mit dem – gerade auch vor dem Hintergrund der jeweiligen Bevölkerungszahl - erstaunlichen Landhunger, den Russen in Nordasien, Angelsachsen in Übersee sowie Franzosen und Polen in Mitteleuropa entwickelten, der territoriale Besitzstand selbst des Alten Reiches bescheiden ausnahm.

  • Elbegeist Ja, das ist doch interessant, dass die Franzosen für die Niederlage der Österreicher bei Königgrätz Rache nehmen wollten.

    Rastrelli : Obwohl das 19. und frühe 20. Jh. das Zeitalter des Nationalismus waren, zielten doch mehrere Staaten auf die Sprachgrenzen überschreitende Annexionen hin: Russland und die Kakanien Richtung Balkan, Frankreich Richtung Rheingrenze (Napoleon III., den Du übergangen hast), Dänemark durch die Angliederung Schleswig und Holsteins, Italien nach 1919 durch die Annexion Südtirols und Frankreich 1919 durch die "Rückführung" von Elsaß-Lothringen. Das Bismarckreich besaß neben Nordschlewig als nichtdeutsche Gebiete v.a. die polnisch besiedelten Teile Westpreußens, die es aber schlecht an Russland abgeben konnte (es ist auch fraglich, ob das die Situation der dort lebenden Polen verbessert hätte).

    Insofern ist die Tatsache, dass Bismarck das Reich für saturiert hielt, schon bemerkenswert.

    P.S. Das mit Belgien war ein Gedankenspiel, das sich an den machtpolitischen Usancen der damaligen Machtpolitik orientierte. Das Land ist ein Kunststaat. Es hätte mich daher schon interessiert, was z.B. die Wallonen bevorzugt hätten: trotz nationaler Streitigkeiten mit den Flamen zusammenzuleben, einen eigenen Staat zu bilden oder sich Frankreich anzuschließen. Im übrigen wurden auch die Elsässer und die Lothringer 1919 nicht gefragt. Dass die Bevölkerung überwiegend frankophil war, halte ich für einen französischen Mythos.

    Wer einer Halbwahrheit eine weitere Halbwahrheit hinzufügt, schafft keine ganze Wahrheit, sondern eine ganze Lüge.

  • Zitat von Pagentorn In meinen Augen kann es nicht Sinn eines Diskussionsforums sein, immer und immer wieder die schon vorher feststehenden Standard-Ansichten ... in Endlosschleife zu wiederholen.

    Warum machst du es dann?

    Man beachte die Auslassung im Zitat !

  • Elbegeist Ja, das ist doch interessant, dass die Franzosen für die Niederlage der Österreicher bei Königgrätz Rache nehmen wollten.

    "Die Schlacht gilt als einer der Wegbereiter für die Deutsche Reichsgründung 1871. In mehreren Sprachen wird die Schlacht nach dem Dorf Sadowa benannt, insbesondere in Frankreich, wo sie als politische Niederlage wahrgenommen wurde und der Ruf „Rache für Sadowa!“ aufkam." (wiki)

  • "Die Schlacht gilt als einer der Wegbereiter für die Deutsche Reichsgründung 1871. In mehreren Sprachen wird die Schlacht nach dem Dorf Sadowa benannt, insbesondere in Frankreich, wo sie als politische Niederlage wahrgenommen wurde und der Ruf „Rache für Sadowa!“ aufkam." (wiki)

    Ja, ich weiß. Aber das ist doch das Interessante: Napoleon III. rechnete mit einer Niederlage Preußens. Sein Plan war, anschließend das geschwächte Preußen zu unterstützen (Stichwort Rückgabe Schlesiens an Österreich) und sich die durch Abtretung der preußischen Rheinprovinz entlohnen lassen. Der Sieg der Preußen machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Man sann also auf Rache, weil man sich nicht unrechtmäßig bereichern konnte.

    Statt die Gebiete, die Napoleon I. erobert und wieder verloren hatte, zu wiederbekommen, musste Frankreich 1871 auch noch das unter Ludwig XIV. annektierte Elsaß zurückgeben. Das war schon bitter....

    Wer einer Halbwahrheit eine weitere Halbwahrheit hinzufügt, schafft keine ganze Wahrheit, sondern eine ganze Lüge.

  • In meinen Augen kann es nicht Sinn eines Diskussionsforums sein, immer und immer wieder die schon vorher feststehenden Standard-Ansichten und den ‚Kanon des Offiziösen’ in Endlosschleife zu wiederholen. Auf solchen Plattformen sollte vielmehr die Möglichkeit bestehen, vorhandene Faktenlagen auch einmal gegen den Strich zu bürsten und anhand neuer Fragestellungen neue Erkenntnisse zu gewinnen.

    Warum setzt du dich nicht einfach mit dem auseinander, was Rastrelli zu deinen Beiträgen geschrieben hat?

    Da war keinerlei Endlosschleife dabei. Allerdings bedarf es dafür eines Mindestmaßes an Selbstreflexion.

    Bei der Betrachtung der Geschichte durch eine nationalistische Brille von "neuen Erkenntnissen" zu schreiben ist mehr als skurril. Diese Art der einseitigen Betrachtung historischer Ereignisse gab es vor Jahrzehnten.

  • Warum setzt du dich nicht einfach mit dem auseinander, was Rastrelli zu deinen Beiträgen geschrieben hat?

    Da war keinerlei Endlosschleife dabei. Allerdings bedarf es dafür eines Mindestmaßes an Selbstreflexion.

    Bei der Betrachtung der Geschichte durch eine nationalistische Brille von "neuen Erkenntnissen" zu schreiben ist mehr als skurril. Diese Art der einseitigen Betrachtung historischer Ereignisse gab es vor Jahrzehnten.

    Seit 1945 hatten wir die Geschichte durch eine rote Brille zu betrachten. Es ist an der Zeit, die Gläser durch ungefärbte zu ersetzen. Zwischenfarben sind zulässig. Nur rot dürfen sie nicht wieder sein.

  • Bei der Betrachtung der Geschichte durch eine nationalistische Brille von "neuen Erkenntnissen" zu schreiben ist mehr als skurril. Diese Art der einseitigen Betrachtung historischer Ereignisse gab es vor Jahrzehnten.

    Bei der Betrachtung der Geschichte durch eine ideologische Brille (von "neuen Erkenntnissen" zu schreiben) ist ebenso skurril. Diese Art der einseitigen Betrachtung historischer Ereignisse (gab es vor Jahrzehnten) gibt es heute wieder.

  • S.M. Kaiser Wilhelm II. hat während seiner mehr als fünfundzwanzigjährigen Friedensherrschaft...

    „Kommt Ihr vor den Feind, so wird er geschlagen, Pardon wird nicht gegeben; Gefangene nicht gemacht. Wer euch in die Hände fällt, sei in Eurer Hand. Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in der Überlieferung gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutschland in China in einer solchen Weise bestätigt werden, daß niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen.“ —

    Wilhelm II. aus der so genannten Hunnenrede bei der Verabschiedung des deutschen Expeditionscorps nach China in Bremerhaven am 27. Juli 1900,

    Dazu gehört aber das damalige Umfeld. Im Kolonialkrieg wurde allseitig kein Pardon gegeben. Hinzu kam:

    "Ein Teil der moralischen Entrüstung des Kaisers geht möglicherweise auch auf die Mitte Juli zunächst in der britischen Daily Mail und später in der deutschen und internationalen Presse verbreitete, mit grausigen Details ausgeschmückte Falschmeldung zurück, das Pekinger Gesandtschaftsviertel sei erstürmt und ausnahmslos alle Ausländer seien umgebracht worden. (wiki)

    Ein solcher Aufruf - faktisch zum Morden - durch ein Staatsoberhaupt war auch für die damalige Zeit sehr ungewöhnlich.

    Es zeigt einen Einblick in den ambivalenten Charakter und die Gedankenwelt des Kaisers, u.a. auch sich die Hunnen - die bekanntlich blutrünstig in Angriffskriegen über andere Völker herfielen - zum Vorbild zu nehmen.

    Dafür trägt auch niemand anders die Verantwortung als der Kaiser, der "Friedensherrscher" selbst.

    Auch nicht indirekt, "möglicherweise" eine britische Tageszeitung. ...Diese Art verwinkelter Rechtfertigungs- und Verharmlosungsversuche sind i.Ü. ziemlich primitiv.

  • Bei der Betrachtung der Geschichte durch eine ideologische Brille (von "neuen Erkenntnissen" zu schreiben) ist ebenso skurril....

    Ich weiß nicht genau, was du mir damit sagen willst. Vermutlich das hier oft zelebrierte Denkmuster, dass die heutige Betrachtung der Geschichte so einseitig ("links-ideologisch") sei, dass man zum Ausgleich genauso einseitig die alte, nationalistische Gedankenwelt wieder pflegen könnte (oder diese gar die bessere sei).

    Es geht auch ohne Ideologie.

  • Seit 1945 hatten wir die Geschichte durch eine rote Brille zu betrachten. Es ist an der Zeit, die Gläser durch ungefärbte zu ersetzen. Zwischenfarben sind zulässig. Nur rot dürfen sie nicht wieder sein.

    Aber braun dürfen sie sein, nicht wahr?

    Die Bemerkungen von Rastrelli (oder mein bloßes Zitat von Wilhelm II oben) waren nicht annährend rot, sondern glasklar ungefärbt.

    Ich merke hierdrin immer wieder, dass sobald Argumente und Fakten unangehm werden, die nicht in das eigene Weltbild passen, gleich in einem Schwall reflexionsartig allgemeine Behauptungen von einer angeblich "roten Geschichtsschreibung" gemacht werden. So kann man natürlich jeder kritischen Auseinandersetzung aus dem Wege gehen.

  • Hiermit komme ich der Aufforderung von Newly nach, mich mit den Ausführungen von Rastrellli auseinanderzusetzten.

    (Die Zitate der Ausführungen von Rastrelli sind kursiv gesetzt.) :

    "Nordschleswig ist dänisch besiedelt und kam nach dem Ersten Weltkrieg berechtigterweise an Dänemark."

    Wer war es denn bitteschön, der eine Entwicklung in Gang setzte, die dazu führte daß das Gebiet um Tondern, Apenrade, Hadersleben und Augustenburg bis 1918 zum Kaiserreich gehörte ?

    War es nicht Premierminister Monrad, der – die Bestrebungen von 1848 aufgreifend – das lediglich in Personalunion mit Dänemark verbundene Herzogtum Schleswig in den dänischen Gesamtstaat überführen wollte ? Bei Erfolg dieser Bestrebungen hätte nicht nur in ‚Südschleswig’ eine ‚Dänisierungspolitik’ eingesetzt, nein nach der Erfahrung, daß der Appetit beim Essen wächst, wäre es darüber hinaus durchaus möglich gewesen, daß sich der Fokus hernach auf Holstein und sogar auf Lauenburg hätte richten können. Man kann es Österreich und Preußen insofern nicht verdenken, dieser Gefahr 1864 einen Riegel vorgeschoben zu haben; auch wenn das Ergebnis dann zwar etwas ‚überkompensatorisch’, aber im Sinne einer ‚Wahrung dessen, was schwer errungen’, durchaus notwendig war.

    "Die Niederländer sind eine eigene Nation. Sie wollen nicht Teil eines deutschen Staates sein. Ebenso Belgien."

    Die Niederländer besingen bis zum heutigen Tage in ihrer Hymne ihren Gründervater, den ‚Schweiger’ als „Wilhelmus von Nassauen bin ik van deutse Blood’. Der Weg der ‚Generalstaaten’ aus dem Reichsverband heraus war durchaus keine Zwangsläufigkeit.

    Auch waren noch im 16. Jahrhundert das damalige Niederländisch und das damalige Niederdeutsch fast deckungsgleich. Hätten Karl von Gent und seine Statthalterinnen bessere Berater als den brutalen Alba gehabt, wäre die Entwicklung möglicherweise ganz anders verlaufen.

    "Die Gebiete westlich von Elsass-Lothringen sind französisches Siedlungsgebiet. Deshalb kam eine Angliederung an Deutschland 1871 nicht in Betracht."

    Bezüglich Artesiens, dem Hennegau und der Freigrafschaft Burgund möchte ich nicht widersprechen.

    "Die Schweizer bilden eine eigene Nation und wollen nicht Teil eines deutschen Staates sein."

    Was Herzog Alba in den Niederlanden anrichtete, entspricht dem wofür Geßler landläufig bekannt ist. Ohne diesen Charakter wäre der Weg zum ‚Rütli’ möglicherweise nicht beschritten worden. Nebenbei bemerkt sollte es doch nachdenklich stimmen, daß Beethoven mit seinem ‚Egmont’ und Schiller mit seinem Tell starken Anteil am Freiheitskampf dieser beiden Glieder des Alten Reiches nahmen. Gegen Ende des 18. uns zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren die historischen engen Verbindungen offenbar noch wesentlich präsenter als heute.

    "Das historische Krain und einige angrenzende Gebiete sind slowenisch besiedelt. Diese Gebiete kamen deshalb 1920 an Jugoslawien."

    So weit ich unterrichtet bin, zählten die Bewohner Krains und des Küstenlandes – ebenso wie die Nachbarn im ungarischen Kroatien zu den ‚Treuesten der Treuen’, die dem Hause Habsburg noch die Stange hielten, als viele andere Völkerschaften der Monarchie sich schon verabschiedet hatten. Erst als Italien von Nordwesten her mit Annexion drohte, schloß man sich vor dem Hintergrund der Schwäche ‚Rest-Österreichs’ notgedrungen den sprachverwandten Serben an, um nicht von der Appenin-Halbinsel aus regiert zu werden. Die späteren Konflikte um die Südsteiermark (z.B. um Marburg an der Drau) und den Grenzsaum Kärntens sind m. E. eher auf das Konto serbischer Expansionisten, denn auf das der örtlichen Bevölkerung zurückzuführen.

    Meines Wissens hatten die Krainer auch keine Bedenken, 1848 Abgeordnete nach Frankfurt zu entsenden…

    "Die Tschechen bilden eine eigene Nation und wollen nicht Teil eines deutschen Staates sein"

    Wie sah es aber mit den Böhmen im Randgebirge und den großen Städten sowie den veritablen mährischen Sprachinseln aus ?

    "Im Memelgebiet bekannte sich 1920 die Hälfte der Bevölkerung zur litauischen Sprache. Eine Angliederung an den litauischen Staat war gerechtfertigt."

    In der Tat wurde von einem erheblichen Teil der Bevölkerung des späteren ‚Memellandes’ litauisch gesprochen (ebenso wie in vielen weiteren Bereichen des ehemaligen ‚Preußisch-Litauen’ südlich von Tilsit). Insofern war diese Region nicht unähnlich dem ostpreußischen Süden, wo die Masuren eine nur unwesentlich vom Polnischen abweichende Mundart sprachen. Litauer und Masuren in Ostpreußen hatten allerdings eine Besonderheit gegenüber ihren ethnischen Brüdern außerhalb der Reichsgrenze: Sie waren Protestanten, die vor der Verfolgung durch den polnisch-litauischen Staat Zuflucht im toleranten Brandenburg-Preußen gefunden hatten.

    Deshalb verlief die Volksabstimmung in Masuren aus Sicht der Polen auch sehr unbefriedigend und wurde eine Volksabstimmung in den Landkreisen nördlich der Memel erst gar nicht angesetzt. Dieses Gebiet wurde ohne Befragung der Bewohner Litauen angegliedert.

    "In Kurland und Livland gab es nur eine kleine baltendeutsche Minderheit. Die Bevölkerungsmehrheit stellten Letten und Esten. Kurland und Livland waren nie Teil des Heiligen Römischen Reiches. Diese Gebiete wurden anfangs vom Schwertbrüderorden und vom Deutschen Orden beherrscht, später von Schweden, Polen und Russland."

    In der Tat waren die Deutsch-Balten aufs ganze Land gesehen eine Minderheit. Allerdings waren die maßgeblichen Städte bis ins späte 19. Jahrhundert hinein von einer deutschen Bevölkerungsmehrheit bewohnt. Ein Großteil der Familien des Baltendeutschen Landadels hatte im Übrigen seine Wurzeln im Nordwesten Deutschlands (konkret: im Weser-Elbe-Dreieck) und wand somit eine verbindendes Band zwischen den Flanken des deutschen Siedlungsraumes.

    Abschließend möchte ich Folgendes feststellen:

    Mit dem Hinweis auf die mangelnde Kongruenz der Grenzen des Alten Reiches und des Deutschen Kaiserreiches ging es mir nicht darum, zu beklagen, daß das Letztere diese Kongruenz nicht angestrebt hat, sondern zu bedenken zu geben, daß hier ein historisch begründbares territoriales Erweiterungspotential vorhanden war, welches andere Staaten mit Sicherheit offensiver genutzt hätten, als das bescheiden und klug sich selbst als saturiert erklärende Bismarckreich.

  • Ein solcher Aufruf - faktisch zum Morden - durch ein Staatsoberhaupt war auch für die damalige Zeit sehr ungewöhnlich.

    Es zeigt einen Einblick in den ambivalenten Charakter und die Gedankenwelt des Kaisers, u.a. auch sich die Hunnen - die bekanntlich blutrünstig in Angriffskriegen über andere Völker herfielen - zum Vorbild zu nehmen.

    Dafür trägt auch niemand anders die Verantwortung als der Kaiser, der "Friedensherrscher" selbst.

    Auch nicht indirekt, "möglicherweise" eine britische Tageszeitung. ...Diese Art verwinkelter Rechtfertigungs- und Verharmlosungsversuche sind i.Ü. ziemlich primitiv.

    Dann sollte man ihn in Wahrheitskaiser umbenennen. Denn er sprach das aus, was die anderen Staatsoberhäupter in Sachen Kolonialpolitik nicht nur dachten, sondern auch umsetzten. Die zügellose Hetze gegen das Kaiserreich durch Angehörige des britischen Geheimdienstes ist zur Genüge bewiesen und aufgedeckt. Mehr dürfte heute nicht mehr in Erfahrung zu bringen sein.

  • Aber braun dürfen sie sein, nicht wahr?

    Diese rhetorische Frage ist unanständig. Rot ist allgemein die Farbe der Linken, sie wird nicht nur von den Kommunisten, sondern auch von den Sozialdemokraten in Anspruch genommen. Insofern kann man durchaus von einer roten Geschichtsbrille sprechen, wie Elbegeist es getan hat. Braun dagegen steht ausschließlich für den Nationalsozialismus. Menschen aus dem bürgerlich-konservativen oder auch aus dem monarchistisch angehauchten Milieu, die "rotes" Gedankengut ablehnen, eine "braune" Gesinnung zu unterstellen, ist somit hochgradig diffamierend.

    Leider ist die Dichotomie rot-braun Teil einer "antifaschistischen" Kampfrhetorik, die zumindest von den extremen Linken permanent praktiziert wird - nicht zuletzt im sogenannten "Kampf gegen Rechts", der sich leider nicht auf die an sich durchaus berechtigte und notwendige Bekämpfung des Rechtsextremismus beschränkt, sondern auch die Konservativen - und letztlich alle Nicht-Linken - unter Generalverdacht stellt (wohingegen sie den ebenso bekämpfenswerten Linksextremismus systembedingt verharmlost).

    Innerhalb dieser extremistischen Perspektive wird dann auch jede kritische Hinterfragung und Aufarbeitung linker Geschichts- und Gesellschaftsbilder reflexartig als nationalistisch abqualifiziert, als Rückfall hinter die vermeintlichen Fortschritte der ach so segensreichen 1968er-Generation.


    Und da stoßen wir auch auf des Pudels Kern: Die Charakterisierung Wilhelms II. als eines Kriegstreibers und des Kaiserreichs als einer Vorstufe des NS-Staates ist von weiten Teilen linker Geschichtswissenschaft erfolgreich betrieben worden (Stichwort Fritz Fischer). Dies geschah ungeachtet der Tatsache, dass die Nazis gerade Wilhelm II. zutiefst verachtet haben (was, wie in diesem Forum bereits mehrfach dargelegt, auf Gegenseitigkeit beruhte).

    Derart linke Geschichtsbilder zu relativeren - freilich ohne eine unkritische Haltung gegenüber dem Kaiserreich einzunehmen - halte ich für keinen Rückschritt, sondern für einen Fortschritt.

    Wer einer Halbwahrheit eine weitere Halbwahrheit hinzufügt, schafft keine ganze Wahrheit, sondern eine ganze Lüge.