Das Kaiserreich im Rückblick

  • Lieber Rastrelli,

    zumindest bei einigen der von Ihnen angeführten Beispiele muß ich ihnen widersprechen:

    Das Reichstagsgebäude ist nur noch ein Schatten seiner selbst, nur noch die leere Hülle dessen, was Wallot einst geplant hatte.

    Der Dom hat ohne Denkmalskirche und - Sie werden das sicherlich anders sehen - ohne die originalen Kuppen viel von seiner Majestät verloren.

    Und wie sieht es mit diesen - von Ihnen nicht erwähnten - Bauten aus:

    Börse an der Burgstraße (Symbol der ökonomischen Potenz der Reichshauptstadt): Verschwunden.

    Die Gedächtniskirche in Charlottenburg: Ein hohler Zahn.

    Der Anhalter Bahnhof: Nur noch ein trauriger Portal-Torso hat überdauert.

    Der Kölner Hauptbahnhof: Statt Gründerzeit nun Nierentisch-Atmosphäre.

    Nicolai-Kirche Hamburg: Totalverlust des Kirchenschiffs.

    Das palastartige Hauptverwaltungsgebäude des Norddeutschen Lloyd in Bremen: Abriß Ende der 60er Jahre

    etc., etc., etc.

    Der Beispiele ließen sich noch viele benennen.


    Und hinsichtlich des vermeintlich nicht gegebenen konkreten Zielens auf Gründerzeitbauten im Bombenkrieg:

    Natürlich war der Alliierten bewußt, daß Sie mit ihrem Flächenbombardement auch jede Menge kaiserzeitliche Gebäude treffen würden. Und daß sie dies bedauert haben, kann man wohl nicht annehmen...

  • Nochmals: Es geht mir lediglich um die Klärung der Frage, ob Mißgunst und Neid auf die ‚verspätete’ Nation, auf das als ‚Parvenü’ im europäischen Mächtekonzert gescholtene deutsche Kaiserreich, einen Motivationsstrang für die späteren Bombardierungen deutscher Städte im 2. WK darstellen könnten.

    Ganz klares Nein! Die Motivation war Hass auf die Deutschen, die nach einem monströsen Weltkrieg, den sie ganz klar verloren hatten, immer noch nicht genug vom Krieg hatten. Die Motivation war, dass der Krieg gegen die Nazis gewonnen werden musste. Briten und Amerikanern war klar, dass der Sieg im modernen Großkrieg von den verfügbaren Ressourcen abhing und nicht vom heldenhaften Kräftemessen auf dem Schlachtfeld. Also versuchten sie, auch deutsche Ressourcen zu zerstören. Zumal der Luftkrieg die Möglichkeit bot, den Krieg in Deutschland zu führen, ohne eigene Truppen auf dem europäischen Festland zu haben. Der Zweite Weltkrieg wurde rücksichtslos geführt. Zur Absicherung der Landung in der Normandie bombardierten die Alliierten nordfranzösische Städte. Sie richteten große Zerstörungen an. Viele unschuldige französische Zivilisten kamen ums Leben. Das wurde im Interesse des höheren Ziels in Kauf genommen.

    Und hinsichtlich des vermeintlich nicht gegebenen konkreten Zielens auf Gründerzeitbauten im Bombenkrieg:

    Natürlich war der Alliierten bewußt, daß Sie mit ihrem Flächenbombardement auch jede Menge kaiserzeitliche Gebäude treffen würden. Und daß sie dies bedauert haben, kann man wohl nicht annehmen...

    Sie hätten also gar nicht zurückschießen dürfen? So funktioniert Krieg aber nicht. Meinst du, die Alliierten hätten die Nazis gewinnen lassen sollen? Stell dir doch mal die Frage, ob die deutschen Bomberbesatzungen, die "Bomben auf Engeland" warfen, Instruktionen hatten, viktorianische Bauten zu verschonen.

    Die Berliner Börse wurde 1859-1863 erbaut. Steht sie also nicht für die aufstrebende deutsche Nation? Der Lehrter Bahnhof wurde 1871 eröffnet, der Anhalter Bahnhof 1880. Ist der Lehrter Bahnhof für dich deshalb weniger wert, weil er kein kaiserzeitliches Bauwerk war?

    Gegen den Abriss der Gedächtniskirche und des Anhalter Bahnhofs gab es Bürgerproteste. Deshalb blieben Reste stehen. Die Gedächtniskirche ist in ihrer Mischung aus Alt und Neu zum Symbol für die City West geworden.

    Das Berliner Naturkundemuseum ist ein Bau aus dem Kaiserreich. Stört sich jemand daran? Nein. Dass viele Bauten aus jener Zeit nach den Kriegszerstörungen verschwunden sind, kann niemanden verwundern, aber es ist doch vieles da, erhalten, wiederaufgebaut worden.

  • Lieber Rastrelli,

    die Alliierten Beweggründe für den Bombenkrieg, die Sie nennen, sind alle richtig und werden von mir auch in keiner Weise bestritten.

    Aber verstehen Sie bitte, daß ich einfach nur neugierig bin, zu erfahren, ob es daneben den von mir formulierten weiteren Antrieb, diese mögliche zusätzliche Motivation gab. Fassen Sie bitte die von mir angestoßene Diskussion additiv und nicht alternativ auf.

  • In England, Frankreich etc. hatte die Architektur der Jahrhundertwende keineswegs den unbescholtenen Ruf, den Sie, @Pagentorn , unterstellen. Viele historistische Großbauten sind in England und Frankreich abgebrochen worden (z.B. die "Halles" in Paris), weil man diese Architektur für altmodisch, hässlich und unpraktisch fand. Und dabei handelte es sich zumeist um völlig unbeschädigte Gebäude, nicht wie oft in Deutschland um Bauten mit mehr oder weniger massiven Kriegsschäden.
    Kurz, Ihr Argument stimmt hinten und vorne nicht, stützt sich auf falsche Fakten, und dem geneigten Betrachter wird nicht ganz klar, worauf Sie hinauswollen, wenn es denn nicht eine Exkulpation der Deutschen ist im Sinne von "wir wollten den (1. oder 2. Welt-)Krieg ja nicht, er ist uns von den anderen aufgezwungen worden."

  • Auch wenn sich hier eloquent ausgedrückt wird, bleibt es doch eine Stammtischdiskussion und im Schuldkomplex ideologisch belastet.

    Die Geschichte kennen wir alle nur aus Büchern und Erzählungen, keiner war zu dieser Zeit in den entscheidenden Stellen.

    Fakt ist, dass der Wohlstand Deutschlands nicht auf Ausbeutung und Plünderung beruhte wie bei u. a. in England/Frankreich/Spanien aber auch des römischen Reiches sowie den USA.

    Die industrielle Revolution hat in England begonnen, doch Deutschland hat England wirtschaftlich relativ schnell eingeholt bzw. überholt. Dies hat sich auch bis heute nicht geändert.

    Alleine des Fleißes und Erfindungsreichtums ist dieser Erfolg zu verdanken. Der Stolz und Erfolg spiegelte sich anschließend in der Architektur der Gründerzeit wieder.

    Im übrigen waren es alleine die Engländer und die USA welche Städte bombardierten - nicht Russland!
    Obwohl, wie am Beispiel Dresden die russischen Truppen kurz vor der Stadt standen.

    Einmal editiert, zuletzt von Rainer Zufall (3. November 2019 um 09:38)

  • Lasst uns ganz locker darüber diskutieren, (bitte mit Quellen) ob es tatsächlich eine Verachtung(?) oder Neid(?) auf das Kaiserreich und seine kulturellen Errungenschaften gab. Und wenn ja, wann begann er? Und warum haben wir ihn zum Teil übernommen?
    Hier ein Briefwechsel der englischen Königin Viktoria und Lord Palmerston aus dem Jahre 1861: „Die Königin hat lange mit tiefem Bedauern die fortwährenden Bemühungen der Times gesehen, alles Deutsche anzugreifen, in den Schmutz zu ziehen und zu beleidigen, besonders alles Preußische. Diese Zeitung hat seit Jahren dieselbe schiefe Richtung verfolgt, aber seit dem letzten Jahre hat sie einen giftigen Ton angenommen, der nicht verfehlen kann, die größte Entrüstung beim deutschen Volke hervorzurufen und schrittweise die Gefühle unseres Volkes Deutschland zu entfremden.“

    Beauty matters!

  • Also versuchten sie, auch deutsche Ressourcen zu zerstören.

    Das war nicht die Motivation für den (vorwiegend britischen) Bombenkrieg gegen die Zivilbevölkerung. Entsprechend der Doktrin des "morale bombing" ging es darum, durch Massenmord an der Zivilbevölkerung das NS-Regime zur Kapitulation zu bewegen. Hat im Fall Japans ja sogar funktioniert. Aber das ist alles schon hundertmal durchdiskutiert worden.

  • Lasst uns ganz locker darüber diskutieren, (bitte mit Quellen) ob es tatsächlich eine Verachtung(?) oder Neid(?) auf das Kaiserreich und seine kulturellen Errungenschaften gab.

    Einige Quellen findet man bei Niall Ferguson: The Pity of War. Explaining World War I (dt.: Der falsche Krieg), 1998.
    Ferguson beschreibt da unter anderem anhand von Zeitungsartikeln und Romanen aus der Zeit die Hysterie, die ab ca. 1900 in Großbritannien bezüglich des Deutschen Reichs als vermeintlich "kommender Weltmacht", die Großbritannien ablösen würde, herrschte.

  • Hier wird vom Thema abgelenkt. @Pagentorn behauptete, dass die Alliierten im Zweiten Weltkrieg gezielt wilhelminische Bauten bombardiert hätten, weil sie eifersüchtig auf die deutsche Kultur gewesen seien. Weiters behauptete er, die Architektur der Zeit um die Jahrhundertwende sei nur in Deutschland verachtet worden, während sie in Frankreich, England und Russland (etc.) durchgängig hochgeschätzt worden sei. Schließlich wird durch ihn suggeriert, das Deutsche Reich sei - im Gegensatz zu anderen Ländern - allein durch den Fleiß und die Innovationsbereitschaft des Deutschen Volkes zu Wohlstand gekommen, nicht durch die Ausbeutung der Kolonien.
    Alle drei Thesen halten einer näheren Betrachtung nicht stand, sind hanebüchen und bestenfalls naiv. Sie haben mit der Frage der deutschen Kriegsschuld nichts zu tun.

  • Lieber UrPotsdamer,

    darf ich Sie höflich daran erinnern, daß mein einleitender Beitrag zu dieser Diskussion sich mehrfach dieses Zeichens '?' bediente. Ich stelle somit keine Behauptungen auf, sondern formuliere ergebnisoffene Fragen. Leider tut eine apodiktische Attitüde, hinter der die Forderung nach 'revoco' durscheint, einer offenen Disputation nie sonderlich gut.

    Im Übrigen füge ich unten Links zu zwei umfangreicheren Werken bei, die sich mit der zeitgenössischen Britischen Sicht auf das Kaiserliche Deutschland beschäftigen und die möglicherweise für unsere Fragestellung weiterführende Informationen enthalten könnten:

    'British identity and the German other'
    (Doktorarbeit von William F. Bertolette)
    https://digitalcommons.lsu.edu/cgi/viewconten…l_dissertations


    'British Images of Germany: Admiration, Antagonism and Ambivalence, 1860-1914'

    (Autor: Richard Scully; hier: Rezension des Buches durch Dr Colin Storer )

    https://reviews.history.ac.uk/review/1380

    Hier geht es somit nicht um das Kaiserreich im 'Rückblick', sondern in der seinerzeitigen 'Außensicht'.

  • (1.) die Alliierten im Zweiten Weltkrieg gezielt wilhelminische Bauten bombardiert hätten, weil sie eifersüchtig auf die deutsche Kultur gewesen seien. (2.) Weiters behauptete er, die Architektur der Zeit um die Jahrhundertwende sei nur in Deutschland verachtet worden, während sie in Frankreich, England und Russland (etc.) durchgängig hochgeschätzt worden sei. (3.) Schließlich wird durch ihn suggeriert, das Deutsche Reich sei - im Gegensatz zu anderen Ländern - allein durch den Fleiß und die Innovationsbereitschaft des Deutschen Volkes zu Wohlstand gekommen, nicht durch die Ausbeutung der Kolonien.

    Punkt 1 wäre natürlich Blödsinn. Es gab ja auch gar keine so präzisen Waffensysteme, um bewusst nur bestimmte Gebäude anzugreifen, zumindest nicht in dieser Masse. Es wurde ja auch die teils mittelalterliche Frankfurter Altstadt oder die barocke Dresdner Frauenkirche bombardiert. Dass in großer Zahl wilhelminische Bauten getroffen wurde, hatte eben auch etwas damit zu tun, dass es so viele Gebäude dieser Epoche gab. Gleichwohl spielte sicherlich ein Affekt gegen deutsche Kultur eine gewisse Rolle. Denn kriegsrelevanter wäre es gewesen, Infrastruktur und Industrieanlagen lahm zu legen, aber nicht Fachwerkaltstädte zu bombardieren. In Frankfurt ist das aber geschehen. Industrieanlagen und der Hauptbahnhof wurden weit weniger als die Altstadt getroffen.

    Punkt 2 halte ich auch nach derzeitigem Kenntnisstand für nicht bewiesen. Dazu bräuchte ich Quellen. Dass es hierzulande einen gewissen politisch aufgeladenen Affekt gegen Bauten der wilhelminischen Epoche gab, bezweifle ich nicht. Aber wie weit sich das in die Breite auswirkte, vermag ich nicht zu sagen. Es wäre aber mal interessant, zu vergleichen, ob es auch im Ausland ähnliche Entstuckungsaktionen wie z.B. in Berlin gegeben hat. Bekannt ist mir das nicht.

    Bei Punkt 3 sehe in "Pagentorns" These durchaus als schlüssig an. Die Mittelmacht Deutschland verfügte nicht über die Bodenschätze, über die andere Großmächte verfügten. Doch eine Vielzahl der Erfindungen und technischen Neuerungen stammen aus der Kaiserzeit. Das Deutsche Reich schaffte es also, eine Weltmacht zu werden, trotz eines latenten relativen Mangels an Ressourcen.

  • Das war nicht die Motivation für den (vorwiegend britischen) Bombenkrieg gegen die Zivilbevölkerung. Entsprechend der Doktrin des "morale bombing" ging es darum, durch Massenmord an der Zivilbevölkerung das NS-Regime zur Kapitulation zu bewegen. Hat im Fall Japans ja sogar funktioniert. Aber das ist alles schon hundertmal durchdiskutiert worden.

    Ein Land wie Deutschland kann mangels Rohstoffen und Fläche keinen motorisierten Krieg gewinnen.

    Wenn die Treibstoff-/Rohölimporte abgeschnitten werden, sowie die internationalen Zahlungsströme gekappt werden,
    geht ganz schnell das Licht aus - ohne Millionen Tote!

    Hierzu gibt es auch einige interessante Artikel im Netz.

    Wenn dies nicht geschieht und gar noch Geschäfte mit dem Feind gemacht werden, dann stimmt etwas nicht...

  • Der ursprüngliche Beitrag stammt aus dem Strang Berliner Stadtschloss und Umgebung (hier). Da eine Diskussion entbrannt ist, wurden Beiträge teilweise kopiert und/oder verschoben. Franke (Moderation)

    @classica

    Da die Grundsteinleung des Kaiser Wilhelm Nationaldenkmals am 18.08.1895, dem Tag der Schlacht von Gravelotte erfolgte....

    Alles interessant. Trotzdem war dieser damalige Zeitgeist insofern natürlich schrecklich: Man legte den Tag der Einweihung des Nationaldenkmals auf den Jahrestag einer Schlacht mit über 30.000 Toten und zelebrierte mit dem Sieg über Frankreich natürlich auch die "Erbfeindschaft" bzw. festigte sie.

  • Alles interessant. Trotzdem war dieser damalige Zeitgeist insofern natürlich schrecklich: Man legte den Tag der Einweihung des Nationaldenkmals auf den Jahrestag einer Schlacht mit über 30.000 Toten und zelebrierte mit dem Sieg über Frankreich natürlich auch die "Erbfeindschaft" bzw. festigte sie.

    Ich bin als Kriegsdienstverweigerer gewiss weit davon entfernt, militärisches Gepränge und martialisches Auftrumpfen gutzuheißen und vermutlich wäre selbiges mir, hätte ich damals gelebt, auch ziemlich auf den Senkel gegangen. Auch bin ich froh, damals nicht in der preußischen Armee gewesen zu sein.

    Aber der sogenannte deutsche Militärismus unterschied sich doch kaum vom Bellizismus anderer europäischer Nationen. Auch war er in erster Linie die Folge einer langen Serie von Kriegen, mit denen Frankreich immer wieder die deutschen Territorien überfallen, verwüstet und annektiert hatte. Ich erinnere nur an die ludovizianischen 'Reunions'- und Erbfolgekriege (Raub des Elsass, komplette Zerstörung der Pfalz, Badens und Vorderösterreichs), den Vandalismus der jakobinischen Revolutionstruppen, die Eroberungen und Beutezüge unter Napoleon I. (inklusive massenhafter Zwangsrekrutierungen für den Russlandfeldzug und des Raubs an Kunstgütern ), die Gebietsansprüche Napoleons III. (trotz der unverhältnismäßig milden Behandlung Frankreichs auf dem Wiener Kongress) und schließlich die Revanchepolitik Frankreichs nach 1870.

    Die sogenannte Erbfeindschaft wurde v.a. von französischer Seite geschürt, sie beruhte nicht zuletzt auf dem Komplex der französischen Könige, nach der fränkischen Reichsteilung nicht in den Besitz der Kaiserwürde gekommen zu sein. Da spielte die Frage, an welchem Tag das Denkmal eingeweiht wurde, eine nur untergeordnete Rolle.

    Davon abgesehen verlief die Schlacht von Gravelotte für die Truppen des Norddeutschen Bundes weitaus blutiger als für die Franzosen. Insofern kann man in der Einweihung des Denkmals auch einen Akt der Gefallenenehrung sehen.

    Wer einer Halbwahrheit eine weitere Halbwahrheit hinzufügt, schafft keine ganze Wahrheit, sondern eine ganze Lüge.

  • Aber der sogenannte deutsche Militärismus unterschied sich doch kaum vom Bellizismus anderer europäischer Nationen. . ...

    Hatte ich auch nicht behauptet. Es macht ihn dadurch aber auch nicht weniger schrecklich.

    Die sogenannte Erbfeindschaft wurde v.a. von französischer Seite geschürt, sie beruhte nicht zuletzt auf dem Komplex der französischen Könige, nach der fränkischen Reichsteilung nicht in den Besitz der Kaiserwürde gekommen zu .

    Mir erzählte einmal ein befreundeter und in der Historie bewanderter Gendarm, dass für die Franzosen die "Erbfeinde" über die Jahrhunderte eigentlich die Engländer waren und nicht die Deutschen.

    Von dem Versuch, die Ergebisse der französischen Revolution von 1789 auch durch deutsches Militär umzukehren bis zur Zerstörung von Paris und der Annexion rein französischsprachiger Gebiete 1871 könnten wir hier (an falscher Stelle) einen langen Diskurs führen, welche Seite mehr Schuld auf sich geladen hat.

    Die "Erbfeindschaft" wurde jedoch sicherlich auch von deutscher Seite gepflegt wo immer es ging (z.B. mit den pompösen jährlichen Feierlichkeiten zum "Tag von Sedan"), zumal das deutsche Kaiserreich und die französische Republik sich auch als Staatsformen konträr gegenüber standen.

    Davon abgesehen verlief die Schlacht von Gravelotte für die Truppen des Norddeutschen Bundes weitaus blutiger als für die Franzosen. Insofern kann man in der Einweihung des Denkmals auch einen Akt der Gefallenenehrung sehen.

    Wenn man die Truppenstärken mit in den Vergleich nimmt, war die Schlacht auch für die Franzosen sehr blutig.

    Man kann natürlich alles Mögliche wohlwollend hineininterpretieren, fraglich ist, wie glaubwürdig dies nach innen und außen damals war.

    Eine "Gefallenenehrung" einer gewonnenen Schlacht quasi als zeitliche Grundlage für das Nationaldenkmal zu nehmen zeugt jedenfalls vom fatalen Stellenwert des Militärs und dem mangelnden Willen, sich mit seinem Nachbarland auch nach Jahrzehnten auszusöhnen.

  • Annexion rein französischsprachiger Gebiete 1871

    Die sprachliche Verteilung in Elsass-Lothringen entsprach ca. 12 Prozent frankophon zu 88 Prozent deutschsprachig. Frankophone gab es vor allem in Lothringen, im Elsass hingegen fast gar nicht. (Karte hier) Nun kann man den Deutschen vorwerfen, diese 12 Prozent (davon nur ein mehrheitlich frankophoner Kreis) wieder in das deutsche Staatsgebiet eingegliedert zu haben (es war ja bis zum Sonnenkönig teil des Reiches). Aber wieviel schwerer wiegt dann eigentlich die Annexion durch Frankreich 1919 angesichts von 88 Prozent Deutschsprachigkeit? Auch war die Sprachpolitik Deutschlands im Vergleich zu Frankreich liberal. So konnte die französische Sprache in Amtsgeschäften Verwendung finden, es gab zudem französischen Schulunterricht in den frankophonen Gebieten. Auch die Ortsnamen blieben erhalten. Davon hätten die Elsässer bis heute nur träumen können.

    Die "Erbfeindschaft" wurde jedoch sicherlich auch von deutscher Seite gepflegt wo immer es ging (z.B. mit den pompösen jährlichen Feierlichkeiten zum "Tag von Sedan")

    Die Franzosen feiern auch heute noch den Sieg über ihr östliches Nachbarland. Die Russen machen es allerdings pompöser. Der Unterschied zu den Franzosen damals ist, dass die Deutschen heute das toll finden. Hier hat sich Mentalität um 180 Grad umgedreht. Hätten doch die Franzosen nur damals "Danke für Sedan. Wir wollen mitfeiern" gerufen. Vielleicht wäre uns der 1. Weltkrieg erspart geblieben. :zwinkern:

  • Die Prozentzahlen stammen vom Anfang des 20. Jahrhunderts, also nach der massiven deutschen Einwanderung nach 1871 aus anderen Teilen des Reiches (Militärs, Beamte usw.)

    Im lothringischen Teil machten diese deutschen Einwanderer beispielsweise am Ende 25% der Gesamtbevölkerung aus, in Metz gab es etwa zuvor nur eine deutschsprachige Minderheit.

    http://www.deuframat.de/gesellschaft/b…-im-elsass.html

    I.Ü. war die deutsch-französische Sprachgrenze über Jahrhunderte relativ stabil, das frankophone Territorium war dabei sicher größer als 12% des Reichslandes.

    Die Franzosen feiern auch heute noch den Sieg über ihr östliches Nachbarland. ... Hätten doch die Franzosen nur damals "Danke für Sedan. Wir wollen mitfeiern" gerufen. Vielleicht wäre uns der 1. Weltkrieg erspart geblieben. :zwinkern:

    In Frankreich ist auch sogar der 11. November Feiertag.

    Neben den klitzekleinen Unterschieden zwischen 1870/71 und 1939-45 ist aber wohl entscheidend, wie man diese Tage begeht: als Jubelfest, das Nachbarland besiegt zu haben oder als Gedenktag für Millionen Tote im Zeichen der Versöhnung.

    Im Kaiserreich- einschließlich der Einweihung des Nationaldenkmals- war von Versöhnung jedenfalls nicht die Rede und nichts zu spüren.

    Hätte man dies nur anders gemacht und die Franzosen eingeladen. :wink:

  • Bezüglich Einwanderung. Also trotzdem war Elsass-Lothringen 1871 mehrheitlich deutschsprachig. Die (noch nicht extrem lange zurückliegende) Zugehörigkeit zu Frankreich ist trotz deutschsprachiger Mehrheit da kein Problem? Die Eingliederung nach Deutschland aber wegen der frankophonen Minderheit schon? Und seit wann ist Einwanderung negativ? Sie ist doch eine schöne, bereichernde Angelegenheit.

    Bezüglich Militärparaden. Ob man jubelt oder gedenkt liegt im Auge des Betrachters. 1871ff. hatten die Deutschen eben noch mal etwas zum Jubeln, was ihnen seitdem fremd geworden ist, weil sie nur noch die Visage poliert bekommen haben. Zum Gedenken und zur reinen Versöhnung bräuchte es allerdings auch heute keines Militäraufmarsches am Pariser Triumphbogen oder am Roten Platz. Es würden ein paar Kränze oder rote Rosen reichen. Und Militäraufmärsche kannte die III. Republik auch schon. Und über reine Trauer ging das hinaus.

    Zitat "Frankfurter Rundschau": "Nach der Niederlage von Napoleon III. gegen die Preußen im Jahr 1870 errichtete die Linke die Dritte Republik, um die Nation zu retten. Es war ein „roter“, laizistischer und antireaktionärer Republikaner, Präsident Jules Grévy, der am 14. Juli 1880, dem Tag des Bastille-Sturms, erstmals eine Truppenparade über die Champs-Elysées organisierte. Er wollte der Welt und namentlich Deutschland zeigen, dass Frankreich wieder eine Armee hatte."

    Will sagen: Andere Zeiten, andere Herangehensweisen. Zum Spiel gehören immer mehrere Akteure. Und der Schwarze Peter liegt selten nur ganz allein auf einer Seite.

  • Na ja, ich glaube, es bringt wenig, sich über Bevölkerungs- oder Gefallenenprozentzahlen zu streiten, zumal das an meinen Grundaussagen ja nichts ändert.

    Die Frage ist doch - wieder einmal - welche geschichtlichen Narrative wir pflegen. Während die "rechten" Eliten der Weimarer Republik nach dem Zusammenbruch der Monarchie und der Niederlage des WK I ihre Narrative von der Dolchstoßlegende, der jüdischen Weltverschwörung und dem Verrat der Sozialdemokraten kultiviert haben, pfleg(t)en die kommunistische DDR und die "linken" Eliten der Bundesrepublik das Klischee vom imperialistischen und militaristischen Deutschland, das die Welt in den Krieg getrieben habe (man denke an Fritz Fischers höchst tendenziöse, in Teilen längst widerlegte Schrift "Griff nach der Weltmacht").

    Es geht immer um die Durchsetzung von Narrativen zur Gewinnung von Deutungshoheit über die Geschichte, weshalb das derzeitige Juste Milieu, das nun einmal stark links geprägt ist, alles, was mit dem Kaiserreich und Preußen zusammenhängt, in den Orkus treten möchte und am liebsten auch eine allgemeine architektonische und ikonographische Flurbereinigung vornehmen möchte - angefangen von Straßennamen bis hin zum Kuppelkreuz auf dem Berliner Schloss. Im Gegenzug werden Schattenseiten der eigenen Protagonisten meist ausgeblendet.

    Nur ein Beispiel: Jüngst hat man in Freiburg den Ludwig-Aschoff-Platz umbenannt, der einem der weltweit bedeutendsten Pathologen seiner Zeit gewidmet war, weil dieser 1933 seine offene Sympathie für den Nationalsozialismus bekundet hatte und sich auch 1936 noch sehr deutschnational geäußert hatte. Hingegen hat man in Berlin keine Bedenken, Straßen und Plätze nach Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Marx zu benennen. Hätten erstere sich durchgesetzt, wäre Deutschland höchstwahrscheinlich ein sowjetischer Vasallenstaat geworden, in dem sehr schnell derselbe stalinistische Terror getobt hätte wie in der UdSSR. Und die ziemlich gepfefferten antisemitischen Äußerungen von Marx scheinen auch niemanden zu stören.

    Ebenso einseitig war übrigens das Gedenken an den antinationalsozialistischen Widerstand, das vor einigen Jahren in Berlin-Mitte anhand kleiner Litfaßsäulen praktiziert wurde: Kommunisten, Sozialdemokraten und Linksliberale - also die ganze rot-rot-grüne Klientel - waren vertreten: aber keine Erinnerung an den Widerstand aus konservativ-bürgerlichen, christlichen, militärischen oder gar aristokratischen Kreisen. Zensierte Geschichte - zu der im Gegenzug von rechter Seite lange Zeit auch die Weigerung gehörte, Georg Elser zu würdigen.

    Mir sind solche Manipulationen, ganz gleich aus welcher Richtung, höchst zuwider.

    Wer einer Halbwahrheit eine weitere Halbwahrheit hinzufügt, schafft keine ganze Wahrheit, sondern eine ganze Lüge.