Das Kaiserreich im Rückblick

  • In diesem Zusammenhang ein Auszug aus:

    Ernest Edwin Williams – „Made in Germany“; William Heinemann, London 1896

    S. 3 (PDF: S. 21)

    ernest_edwin_williams_made_in_germany_1896-pdf_020.png


    Nach Einschätzung des Autoren war England ein Freihandelsland und Deutschland nicht und dennoch war Deutschland wirtschaftlich und industriell erfolgreicher. Nach seiner Ansicht war es nur eine Frage der Zeit, bis Deutschland die industrielle Vormachtstellung Englands brechen würde.

    "Wenn wir die ehemalige Schönheit der Stadt mit der heutigen Gemeinheit verrechnen, kommen wir, so die Bilanz, aufs direkteste in den Schwachsinn." (E.H.)

  • Zur Kaiserzeit gehörten die deutschen Universitäten mit zu den Weltbesten überhaupt. 1/3 aller wissenschaftlichen Publikationen waren auf Deutsch geschrieben! Ja, das hätte ich gerne so zurück, aber da ist der Zug leider abgefahren, wenn nicht sogar bereits entgleist.

    Heute...die besten deutschen Universitäten (https://www.topuniversities.com/university-rankings) messen sich unter "ferner liefen" irgendwo zwischen türkischen Universitäten und sind mehr oder weniger reine Graduierungsfabriken, während sie früher in der ganz obersten Liga mitspielten! Man braucht sich bloß anzusehen, wie viele Nobelpreisträger Deutschland und Österreich seinerzeit hervorbrachten und das bis vor dem 2. WK, wo diese Genies noch in der Kaiserzeit studierten. Die größten und potentesten noch heute existierenden deutschen Weltkonzerne haben ihren Ursprung ebenfalls in dieser Zeit!

    Also, ein eindeutiges JA, ich will diese Zeit die Hochzeit unserer beider Staaten zurück!

  • Die Menschen scheinen im Kaiserreich sich sehr wohl gefuehlt zu haben.

    Die Leute haben deutlich mehr Kinder bekommen. Man scheint die Zukunft daher

    positiv gewichtet zu haben.

  • Gerade heute habe ich einen Aufsatz von Karlheinz Weißmann zur Reichsgründung 1871 gelesen, den ich nun auch im Netz gefunden und unten verlinkt habe. Interessant daran finde ich, dass solche Diskussionen, z.B. diese im APH-Forum, nur Ausfluss bzw. Miniatur-Ausgaben der Diskussionen sind, die andernorts im politisch-kulturellen Überbau der BRD stattfinden, dort heftig umkämpft und letztlich durch Besetzung von Schlüsselpositionen und die Erzeugung von Majoritäten inhaltlich "festgelegt" werden. Eigentlich müsste man das alles in Vergangenheitsform setzen. Sie fanden statt, sie wurden umkämpft und festgelegt. Also, zumindest wurde in früheren Jahrzehnten noch im BRD-Überbau gekämpft, da der linke "Marsch durch die Institutionen" noch nicht abgeschlossen war, es also konservative Restbestände im Universitäts-, Medien- und Polit-Betrieb gab. Mittlerweile gibt es in den großen Medien und Institutionen so gut wie keinen Widerspruch mehr gegen das, was ein Steinmeier so von sich gibt.

    Die Mikro-Diskussion in diesem Forum zeigt, dass Positionen gegen die offizielle Erzählung/Leitlinie gerade noch in kleinen Nischen des Internets geduldet werden, aber natürlich auch dort unter Beschuss der Anhänger der offiziellen Erzählung liegen. Mir ist nur nicht klar, ob das letzte Rückzugsgefechte sind oder der Beginn einer Revolte.

    So oder so, hier der Aufsatz, den ich meine. Seite 4 - 9:

    https://erasmus-stiftung.de/wp-content/upl…Faktum_Nr_3.pdf

  • Die Menschen scheinen im Kaiserreich sich sehr wohl gefuehlt zu haben.

    Die Leute haben deutlich mehr Kinder bekommen. Man scheint die Zukunft daher

    positiv gewichtet zu haben.

    Das kann man so auch wieder nicht stehen lassen. Es gab praktisch kaum Verhütungsmethoden und die Fertilität hat sich trotzdem halbiert von 1880 bis 1914 (TFR von etwa 6 1890 auf etwas über 3 1914 (also noch ohne Kriegseinwirkungen wegen der 9 Monate Differenz zwischen Konzeption und Geburt). Hauptgründe für die sinkende Fertilität waren wie überall auf der Welt 1. Massiver Abfall der Säuglingssterblichkeit, 2. Urbanisierung, 3. zunehmend gut ausgebildete Frauen und ihre wachsende Teilnahme am Erwerbsleben.

    Die demografischen Verheerungen, die die Kriege ausgelöst haben (in Ostmittel- und Osteuropa und für den 1. Weltkrieg in Frankreich noch viel schlimmer) sind eher auf das Sterben potenzieller Väter zurückzuführen als auf einen massiven Rückgang der individuellen Fertilität. Nachdem Deutschland ab den 1970er Jahren und bis in die 1990er dasjenige (größere) Land mit der niedrigsten Fertilität auf der Welt war, hat sich diese auch bei autochthonen Frauen in den letzten 10 Jahren wieder signifikant erhöht und liegt in vielen Bundesländern auf Rekordniveau der letzten 40 Jahre, während umgekehrt nun in vielen anderen Ländern Einbrüche und Negativrekorde in den Geburtenstatistiken verzeichnet werden (Frankreich, Großbritannien, USA). Deutschland hatte von 1997 bis 2015 in jedem Jahr weniger Geburten als Frankreich - und seitdem in jedem Jahr mehr. Und die Flüchtlinge machen nur einen kleinen Teil dieses Booms aus, 2019 wurden etwa 30.000 Kinder von geflüchteten Frauen geboren - ein Großteil des kleinen Geburtenbooms wird von autochthonen Frauen getragen.

    Auch hier also kein Niedergang, sondern im Gegenteil entgegen dem europäischen oder Trend in entwickelten Ländern eine sehr positive Entwicklung. Besonders in Ostasien sieht es sehr düster aus, Südkorea nun das dritte Jahr in Folge mit einer TFR von unter 1, das ist Weltrekord zusammen mit Taiwan. In Japan sterben mittlerweile jedes Jahr fast doppelt so viele Menschen, wie geboren werden. Auch Ostmitteleuropa mit sehr schlechten Daten, in Polen und Russland nähern sich die Geburtenzahlen langsam wieder den schlimmsten Nachwendejahren an. Positive Ausnahme in Ostmitteleuropa ist interessanterweise Tschechien, das laut neuesten Daten sogar Frankreich und Irland, die anderen beiden klassischen europäischen Spitzenreiter bei der Fertilität, überholen könnte.

    Nicht vergessen sollte man auch, dass Deutschland die USA quasi als demografisches Ventil nutzen konnte in der Kaiserzeit, Millionen von Deutschen haben sich in dieser Zeit dorthin aufgemacht, weswegen je nach Betrachtungsweise in manchen Publikationen die Deutschstämmigen noch heute die größte Einzelgruppe in den USA ausmachen.

    Unbestreitbar aber war das Kaiserreich eine Zeit großen Zukunftsoptimismus, der sich natürlich auch in vielen Kindern niederschlug. Ich glaube, wir können uns heute den Kinderlärm in den großen Mietshäusern in Berlin damals gar nicht mehr vorstellen. Heute wird ja gegen jeden Kindergarten wegen Lärmbelästigung geklagt, damals gab es in jeder zweiten Wohnung einen Säugling und Kinder, die bandenmäßig nachmittags durch die Gegend streiften. Die "gute alte Zeit" war also anders als das vielleicht viele Boomer in Erinnerung aus den 60er und 70er Jahren haben, keineswegs eine "stille" Zeit, sondern vom Geschrei spielender und weinender Kinder geprägt, gerade in den Arbeitervierteln.

  • Ein junger Mann aus Oberbayern betreibt einen YouTube-Kanal unter dem Pseudonym Dr. Ludwig. Hauptsächlich stellt er dort deutsche Volkslieder vor aber auch alte Soldatenlieder, Landsknechtlieder und Märsche. Diese Lieder sind zumeist ansprechend historisch bebildert und der Liedtext läuft auf Deutsch und auf Englisch im Video mit. Sein Hauptkanal weist mittlerweile 179.000 Abonnenten auf.

    Im April 2021 hat er folgendes Video zum Gedenken an das Deutsche Kaiserreich veröffentlicht:

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    "Wenn wir die ehemalige Schönheit der Stadt mit der heutigen Gemeinheit verrechnen, kommen wir, so die Bilanz, aufs direkteste in den Schwachsinn." (E.H.)

  • Mod.: Ich habe alle Diskussionen in die Mädlerpassage verschoben, die sich im Kaiserreich-Strang entzündet, dann aber schnell vom eigentlichen Thema entfernt haben. Ich bitte um Nachsicht, dass die Aufteilung nicht 100% trennscharf erfolgen konnte. Zum einen, da sich eben oft Diskussionen über die aktuelle Politik an Beiträgen entzündet haben, die zunächst noch vom Thema "Kaiserreich" ausgingen. Zum anderen, da in vielen Beiträgen Anmerkungen zum Kaiserreich mit Anmerkungen zu anderen Themen bunt gemischt sind. In diesen Fällen habe ich anhand des Kriteriums entschieden, was überwiegt.

    Dadurch werden leider einige Zusammenhänge verwischt, aber das ließ sich angesichts des Chaos, das hier bei den Themen zeitweise herrschte, nicht vermeiden. Also bitte in Zukunft beim Thema bleiben.

  • Wie ihr wisst, beschäftige ich mich viel mit Russland. Dabei stieß ich auf drei schöne Fotografien aus dem deutschen Kaiserreich.

    Ein deutsch-russisches Gruppenbild mit Prinz Heinrich, dem Bruder Kaiser Wilhelms II., in der Mitte sowie, als Drittem von links, Zar Nikolaus II. von Russland. Aufgenommen bei einem Familientreffen des Hauses Hessen-Darmstadt am 8. Oktober 1903.

    Die Personen von links nach rechts: Großherzog Ernst Ludwig von Hessen-Darmstadt mit seinen Schwestern und Schwagern, nämlich Zarin Alexandra Fjodorowna und Zar Nikolaus ll. von Russland, Prinzessin Irene und Prinz Heinrich von Preußen; Großfürstin Jelisaweta Fjodorowna und Großfürst Sergej Alexandrowitsch Romanow, Prinzessin Viktoria und Prinz Ludwig Alexander von Battenberg

    Zar Nikolaus II. und Kaiser Wilhelm II. an Bord des Linienschiffes Deutschland der Kaiserlichen Marine. Links hinter Nikolaus sehen wir Prinz Heinrich, damals Chef der Hochseeflotte. Die beiden Kaiser haben die Uniformen getauscht. Von den sieben hochrangigen Marineoffizieren, die sie umgeben, sind die beiden Herren ganz links und jener ganz rechts Vertreter der russischen Flotte (Foto: Arthur Renard, Kiel, 1907)

    Zar Nikolaus II. und Kaiser Wilhelm II. in einer Kutsche im Berliner Lustgarten, wohl 1913. Im Hintergrund das Alte Museum. Die Aufnahme entstand vermutlich im Rahmen der Feierlichkeiten zum 25-jährigen Thronjubiläum Wilhelms II. Auch Nikolaus II., der freundlich zu uns hinübergrüßt, feierte 1913 ein bedeutendes Jubiläum: 300 Jahre Herrschaft des Hauses Romanow in Russland. Beide Kaiser tragen historische Uniformen und "stecken unter einer Decke".

    Wie hätte sich die Geschichte unserer Länder wohl weiterentwickelt, wenn sie 1914 den Weltkrieg vermieden hätten?

  • Wie hätte sich die Geschichte unserer Länder wohl weiterentwickelt, wenn sie 1914 den Weltkrieg vermieden hätten?

    Wie u.a. schon in Beitrag #375 dargelegt, halte ich es in diesem Punkt mit Christopher Clark und weise hier dem Zaren deutlich mehr Verantwortung als dem Kaiser zu.

    Die russische Generalmobilmachung zählte zu den schwerwiegendsten Entscheidungen während der Julikrise. Es war bislang die erste Generalmobilmachung.

    (Teill III Krise - Kapitel 12 Die letzen Tage)

    In Wirklichkeit war Deutschland aus militärischer Sicht während der gesamten Krise eine Insel relativer Ruhe.

    (Teill III Krise - Kapitel 12 Die letzen Tage)

    Vielen Dank für die Bilder ...

    "Wenn wir die ehemalige Schönheit der Stadt mit der heutigen Gemeinheit verrechnen, kommen wir, so die Bilanz, aufs direkteste in den Schwachsinn." (E.H.)

  • Das Interessante ist, dass ich in meinem Bekanntenkreis beobachte, dass Wähler von SPD und den Grünen das Verhalten dieser Parteien teils genauso verurteilen. Trotzdem ändert es nichts an ihrer Wahlentscheidung. Meiner Meinung nach schließt sich jeder der diesen Kulturbarbaren seine Stimme gegeben hat automatisch aus der Kritik an diesen aus. Man bedenke nur, in welch wunderschönem Land (nicht nur auf Architektur bezogen) wir ohne diese "Politiker" leben würden.

    Lübeck, mein Lübeck, an der Waterkant
    Königin der Hanse, Perle am Ostseestrand.

  • Mit Verlaub,

    das dritte Bild des folgenden, obigen Beitrages:

    Rastrelli
    October 7, 2021 at 2:26 PM

    wurde nicht anläßlich des silbernen Thronjubiläums von S.M. aufgenommen, sondern während der im selben Jahre stattfindenden Hochzeit der Kaisertochter, IKH Prinzessin Viktoria Luise von Preußen, mit dem Welfen-Erben Ernst August. Letzterer erhielt infolge der Hochzeit das seit dem Tode Herzog Wilhelms - und damit dem Aussterben der älteren braunschweiger Linie des Hauses - von nicht-welfischen Regenten verwaltete - Herzogtum Braunschweig zugesprochen, womit das von S.M. herzlich geförderte Versöhnungswerk der beiden Häuser gekrönt wurde.

    Die Fürstenhochzeit in Berlin war die bis heute letzte derartige Festivität, zu welcher ein regierendes britisches Monarchenpaar (König Georg V. und Königin Mary von Teck ) auf den Kontinent reiste. Der direkte Cousin des Königs, Zar Nikolaus II., trägt auf dem Foto die Uniform des preußischen Kaiser Alexander Garde Grenadier Nr. 1, der vornehmsten Gardeeinheit in der königlichen Haupt - und Residenzstadt Berlin, deren Kaserne noch heute unweit der Neuen Wache , am Spreebogen steht und dessen Chef ehrenhalber stets der russische Zar war. Die golden glänzende Schilde der Grenadiermützen waren einst ein Geschenk eines der Vorgänger von Nikolaus II. an das Regiment gewesen. S.M. trägt im Gegenzug die Uniform seines russsischen Regiments (auch wenn Ähnlichkeiten der Uniformen bestehen, war dies nicht das Regiment Preobraschenski; übrigens trägt die von Boris Jelzin neu begründete russische Präsidentengarde sehr ähnliche Uniformen).

    Auf einem sehr frühen experimentellen Farbfilm, der von der Hochzeit angefertigt wurde, kann man nicht nur Teile des Kaiser Alexander Garde Grenadier Regiments vor der Ostseite des Berliner Doms sehen, sondern auch ab Min. 1:47 den Zar und S.M., den Kaiser, bei der Anfahrt auf das Schloss...

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  • Militärparade 1910 in Potsdam

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  • Dann kurz zur Kriminalität. Wie es im Kaiserreich war, weiß ich nicht. Aber heute sollte man bedenken, dass die so genannte Kriminalitätsstatistik nur eine Polizeiarbeitsstatistik ist.

    Irgendwie dazu:

    „Groß ist die Erinnerung, die Orten innewohnt“ - Cicero

  • Hat man Berlin einfach rausgelassen? 😂 Zumindest ist da einfach nur ein runder Kreis.

    Hat die Schönheit eine Chance-Dieter Wieland

  • Hat man Berlin einfach rausgelassen? 😂 Zumindest ist da einfach nur ein runder Kreis.

    Berlin war damals ja kein Stadtstaat, sondern einfach nur eine Kommune. Da die Statistik offenbar länder- bzw. regierungsbezirksbezogen bezogen erhoben wurde, taucht die Stadt in der Karte nicht auf, und die im städtischen Umfeld sicherlich erhöhte Kriminnalität wird durch die Betrachtung im gemeinsamen Topf mit der brandenburgischen Provinz unsichtbar.

    Im Gegensatz z.B. zu Hamburg und Bremen, die auch damals eigenständig waren, und sich statistisch nicht hinter unproblematischer Landbevölkerung verstecken konnten. Die Aussagefähigkeit der Statistik ist so IMHO begrenzt, da praktisch alle größeren Städte und auch das Ruhrgebiet unsichtbar bleiben.

    Was mich wundert, ist dass manche rein ländliche Regionen wie das östliche Ostpreußen damals eine relativ hohe Kriminalität aufwiesen. Was war da los? :wie:

  • Was -glaube ich- unterschätzt wird, ist, wie rückständig die Ostgebiete relativ zum Rest des Reichs gewesen sind. Das war mit Ausnahme von Teilen Schlesiens sehr ausgeprägt das, was man heute "strukturschwach" nennen würde, mit kontinuierlicher Landflucht und einer ungünstigen Besitzstruktur auf dem Land, wo nicht etwa freie Bauern auf ihrem eigenen Land arbeiteten, sondern Landarbeiter für ihre Gutsherrn in einer Art in die Moderne geretteten Lehenswesen. Das dürfte die Lebenszufriedenheit nicht eben erhöht haben, aus Perspektivlosigkeit zogen damals schon jedes Jahr hunderttausende Menschen aus diesen Gebieten in den Westen Deutschlands. Hinzu kamen sicherlich auch einige "politische" Verbrechen in den Kontaktgebieten zur polnischen Bevölkerung, wo ebenfalls Unzufriedenheit gärte und der Staat relativ rigoros handelte. Die erhöhten Kriminalitätsraten lassen sich -glaube ich- so ganz gut erklären.

    Insgesamt sollte man nie vergessen, dass die Wertschöpfung in Deutschland auch im 19. Jahrhundert ganz überwiegend in den auch heute noch wirtschaftlich dominierenden Regionen entlang des Rheins erfolgte, von wo aus auch die meisten Innovationen ausgingen. In der Rückschau verblasst da manchmal etwas der Blick und man geht unbewusst von einem sehr viel homogeneren Deutschland aus, als es das war. Der Westen subventionierte schon im 19. Jahrhundert die politischen Wünsche der damals noch preußischen Eliten in den Ostgebieten. Auch Bayern war damals noch sehr agrarisch geprägt und ist heute vielleicht eines der wenigen Beispiele dafür, wie eine ererbte Wirtschaftsstruktur wirklich grundsätzlich umgekrempelt werden kann (mit starker Schützenhilfe der deutschen Teilung und vieler in den sowjetischen oder polnisch verwalteten Gebieten ansässigen Unternehmen, die sich nach dem Krieg in Bayern niederließen).

  • Was -glaube ich- unterschätzt wird, ist, wie rückständig die Ostgebiete relativ zum Rest des Reichs gewesen sind. Das war mit Ausnahme von Teilen Schlesiens sehr ausgeprägt das, was man heute "strukturschwach" nennen würde, mit kontinuierlicher Landflucht...

    Weite Teile waren dort natürlich von Landwirtschaft geprägt, das unterschied sich aber nicht wesentlich von der Situation in Schleswig-Holstein, weiten Teilen des heutigen Niedersachsens oder Bayerns usw. .

    Ich wüsste auch nicht, was im Schwarzwald, dem Hünsrück oder der Pfalz usw. damals besonders fortschrittlicher gewesen sein sollte.

    ...mit kontinuierlicher Landflucht und einer ungünstigen Besitzstruktur auf dem Land, wo nicht etwa freie Bauern auf ihrem eigenen Land arbeiteten, sondern Landarbeiter für ihre Gutsherrn in einer Art in die Moderne geretteten Lehenswesen.

    Die Landflucht wurde doch vor allem durch den großen Geburtenüberschuss mit einer ständig zunehmenden Technologisierung der Landwirtschaft verursacht. Es wurden schlicht viel weniger Arbeitskräfte benötigt - in Ost wie West.

    Das vom ostelbischen Landadel geprägte System war (übrigens auch in Schleswig-Holstein) sicher nicht fortschrittlich. Ich bezweifel aber, dass die Bedingungen für die Beschäftigten in der Landwirtschaft im Westen, also z.B. für einfache Knechte, nennenswert besser waren. Es kam wohl mehr auf die Persönlichkeit des "Junkers" oder des "freien Bauern" an, wie es den ihm Untergebenen ging.

    Und wenn man etwa die Situation der "Schwabenkinder" bedenkt, kehrt sich doch diese angebliche Höherentwicklung im Westen auf dem Land ins Gegenteil. Diese wurden doch faktisch wie Vieh bis Anfang der 1920er auf schwäbischen Märkten von "freien Bauern" erworben um auf deren Höfen in Süddeutschland Kinderarbeit zu leisten - quasi wie minderjährige Leibeigene. Auf Schulbildung wurde selbstredend verzichtet.

    aus Perspektivlosigkeit zogen damals schon jedes Jahr hunderttausende Menschen aus diesen Gebieten in den Westen Deutschlands.

    Also ein Großteil der vom Strukturwandel betroffenen zog schlicht in die nächsten größeren Städte, u.a. auch Danzig, Stettin, Breslau. Oder auch (ich weiß es von meiner eigenen Familie) vom Land in die nächste Kreisstadt.

    Die "hunderttausenden Menschen" zogen vor allem dorthin, wo die Industrie brummte, egal wo. Also insbesondere nach Berlin, ins Ruhrgebiet oder auch nach Oberschlesien. Also nicht nach Hannover oder Stuttgart, dann eher noch nach Sachsen.

    Hinzu kamen sicherlich auch einige "politische" Verbrechen in den Kontaktgebieten zur polnischen Bevölkerung, wo ebenfalls Unzufriedenheit gärte

    Und du meinst, wenn ein Pole dann von der preußischen Provinz Posen ins Ruhrgebiet, also in die preußische Rheinprovinz zog, konnte er seine Kultur dann dort frei entfalten und lebte zufriedener?

    Und ganz so allgemein kann die Unzufriedenheit in den ländlichen Gebieten der polnischsprachigen Minderheit i.Ü. nicht gewesen sein. Sonst hätte die -zu einem großen Teil ja eigentlich polnischsprechende- Landbevölkerung in Masuren bei der Volksabstimmung nach dem Krieg wohl kaum fast ausschließlich für den Verbleib bei Preußen und Deutschland gestimmt - und gegen den Anschluss an Polen.

    Insgesamt sollte man nie vergessen, dass die Wertschöpfung in Deutschland auch im 19. Jahrhundert ganz überwiegend in den auch heute noch wirtschaftlich dominierenden Regionen entlang des Rheins erfolgte, von wo aus auch die meisten Innovationen ausgingen.

    Und diese Informationen hast du woher? Dass die Wertschöpfung "ganz überwiegend" entlang des Rheins erfolgt sein soll, ist z.B. angesichts des damaligen industriellen Fortschritts in Sachsen und der relativen Rückständigkeit in Baden verblüffend.

    Also ich schätze ja sonst deine Beiträge. Aber ich denke hier hast du es mit einer Schwarz-Weiß-Malerei und einem "erhabenen Blick" vom Westen in den Osten übertrieben.

  • Ich denke Sachsen war sehr innovativ und prosperierend! Man muss sich nur die Industriellen- Schlösschen und historischen Fabriken und die Baustile anschauen.