Das Kaiserreich im Rückblick

  • Die "Großmannssucht" Wilhelms II. war nicht größer als die anderer Könige deren Paläste und die jeweiligen Umgebungen schon viel früher prachtvoll gestaltet worden waren.

    Guten Morgen.


    In der sehr kurzen Geschichte des zweiten Kaisertums, nach dem Reichsdeputationshauptschluss endete dies ja eigentlich, war die Legitimation des Titel Deutscher Kaiser (dann auch für WII) gerade unter den damaligen Zeitgenossen nicht unumstritten und keineswegs so selbstverständlich, wie heute in der Rückschau von ihm als Kaiser gesprochen wird. Nicht nur wegen der diversen Attentatsversuche auf die Kaiser ab 1871, auch weil Monarchisten am anderen Ende des politischen Spektrums mitunter mehr auf ihre regionalen Monarchien hielten. In bürgerlichen Kreisen erschien Berlin als "Kostgänger der Länder", so eine häufige Formulierung der Zeit, als anachronistischer Wasserkopf. Breite Sympathie, wie die britische Monarchie sie bis heute im Volk genießt, hatten die Kaiser ab 1871 nie, nicht einmal durch die rosaroteste Brille betrachtet.


    Auch die sehr selbstbewussten Bayern, Sachsen oder auch Bürgerstädte, wie Hamburg, wurden nicht besonders warm damit. Daher setzte ja ein ungeheurer Bauboom repräsentativer WII Architektur ein, die deswegen auch zeitgenössisch mitunter als Großmannssucht verspottet wurde, als solle da etwas kompensiert werden. Dazu passte auch die Vorliebe für aufwändige Fantasieuniformen von WII oder der Fantasietitel Imperator Rex, mit dem er sich bevorzugt - gegen das offizielle Protokoll - bezeichnen lassen wollte, was nochmal besonders bombastisch klang.


    Daher umweht die Gebäude des Wilhelminismus oft eine Aura der Großmannssucht, mehr Schein als Sein. Und seien wir einmal ehrlich, es sind die prä-WII Elemente des Schlosses, welche daraus ein fantastisches Gebäude machen. Ein riesiger Komplex, der es dennoch schafft menschlichen Maßstab zu bewahren. Ganz anders das Nationaldenkmal, davor konnte sich ein Betrachter nur klein fühlen und zum Götzen auf dem Sockel hinauf blicken.


    Das ist nachträgliche Programmarchitektur, die dem Stadtschloss gegenüber gestellt wurde. Mir gefällt das geplante neue Einheitsdenkmal ebenso wenig und ich meine, man sollte die vorhandene Restsubstanz konservieren und die Mosaike belassen wo sie immer waren. Bürgerlicher Denkmalschutz und gut. Es braucht an dieser Stelle kein Denkmal. Schon gar nicht für die Einheit. Besonders absurd ist der oft hergestellte Bezug zum Plenum der Volkskammer im Multiplex Urban Entertainment Center der DDR (PDR). Das Gebäude hat man abgerissen, aber ein komplett neues Gebäude auf einem alten Denkmalsockel vor einem rekonstruierten Barockschloss soll an die Einheit erinnern? Absurd.

    Moderationshinweis: Aus dem Thema Berliner Stadtschloss - Umfeld (Schlossplatz, Schlossfreiheit, Lustgarten & Spreeufer) herausgelöst, da die nachfolgende Diskussion nicht mehr wirklich viel mit dem Schlossumfeld zu tun hat. [Centralbahnhof]

  • Breite Sympathie, wie die britische Monarchie sie bis heute im Volk genießt, hatten die Kaiser ab 1871 nie, nicht einmal durch die rosaroteste Brille betrachtet.

    Es ist schon interessant, wie viel Erfahrung an historischen Selbsterlebnissen und (Küchen-)Psychologie manche Nachgeborene so an den Tag legen. Da hat meine Großmutter, die die Zeit noch erlebt hat (und das nicht in Berlin), mir seinerzeit offenbar wirklich nur Schwachsinn erzählt.

    Eine wahrlich interessante Diskussion, in der Schlachten von Anno Dunnemal geschlagen werden. Vielleicht in Ermangelung gegenwärtiger Gestaltungsmöglichkeiten? :zwinkern:

  • Vater (*1901) und Mutter (*1905) haben mir immer nur in höchsten Tönen von der Kaiserzeit erzählt, wenngleich sie diese damals auch mit der unvoreingenommenen Brille der Kindheit und Jugend erlebten. Gewiss Vater familiär geprägt (siehe Wappen) aber durchaus bürgerlich und zeitnah lebend. Man lebte damals in Schlesien und fühte sich dem Kaiserhaus sehr verbunden. Natürlich gibt es da auch andere Erfahrungen und Ansichten.

  • Die geschätzte Community kann ja mal zum Spaß einen Historiker befragen, was er von Zeitzeugenberichten hält. Die sind meist nicht sehr objektiv und selten geben sie eins zu eins wieder, was die Zeitzeugen in der Zeit, von der sie Zeugnis geben, gesehen, gefühlt und gedacht haben. Da sind Tagebücher und Briefe aus der Zeit wesentlich verlässlicher...

    Um ein extremes Beispiel zu bemühen: wieviel NS-Mitläufer oder sogar NS-Funktionäre wollten nach 1945 im Widerstand gewesen sein?

  • Hmmm, was soll uns das jetzt sagen? Nachbetrachtende Berichte sind wertlos? Oder nur, wenn es ins ideologische Bild passt?

    Ist von Zeitzeugenberichten KZ-Überlebender nichts authentisch? Weil sie nicht "sehr objektiv" sind und nicht "eins zu eins" wiedergeben, was sie selbst gesehen und gedacht haben?

    Wird mir, sollte ich doch sehr alt werdn, ein 2010 Geborener irgendwann erklären, wie die 1990er Jahre wirklich waren, wenn ich dazu einen wenig authentischen Zeitzeugenbericht erzählen möchte?

  • Ach @Heimdall, tu doch nicht so naiv. Das Gedächtnis funktioniert nicht wie eine Videokamera - oder nur bei sehr wenigen Menschen. Bei den weitaus meisten verändert sich die Erinnerung mit der Zeit. Tagebuchschreiber wissen das. "Oral witnesses" sind wertvolle Quellen, aber sie sind nicht verlässlich. Und nach zwei verlorenen Kriegen kann man es niemandem verdenken, dass er sich an die letzte Epoche vor dem Chaos als die "gute alte Zeit" erinnerte. Aber schriftliche, zeitnahe Quellen wie Tagebücher, Zeitungen, Briefe, Bücher etc. sind verlässlicher und zeichnen ein anderes Bild. Das hat nichts mit Ideologien zu tun...
    Gerade die Erinnerungen schwer traumatisierter Menschen (wie z.B. KZ-Überlebender) sind oft lückenhaft, ungenau oder sogar verfälscht.
    Um Deine Frage zu beantworten: darauf kannst Du wetten, dass Dir irgendwann jemand sagen wird, wie die 1990er wirklich waren. Und gegen Deine Erinnerungen wird er u.a. anführen, was Du damals im Internet und anderswo geschrieben hast. Das ist Geschichtswissenschaft...

  • Du musst mir Geschichtswissenschaft nicht erklären. Ich habe selbst bereits ausreichend geschichtswissenschaftliche Quellenrecherche betrieben. Aber was Du beschreibst, sind aber eben auch Pauschalitäten.

    Wenn nachweislich dargelegt werden kann, dass die spätere Schilderung eines Zeitzeugen von seinen einstigen Aufzeichnungen abweichen sollte, kann man darüber diskutieren, welche Variante denn der "Wahrheit" entspricht. Ich selbst habe einen solchen Fall schon einmal "aufgedeckt". Das kann mit Beschönigung oder Erinnerungsverlust zu tun haben. Aber auch mit einem im Laufe der Zeit erworbenen höheren Grad an Selbstreflexion. Z.B. ein ehemaliger Straftäter oder politischer Aktivist reflektiert in der Rückbetrachtung ganz anders über sein Tun und seine Zeit, als er es damals getan hat. Welche Variante der Schilderung der Ereignisse ist nun "wahr", welche "unwahr"?

    Zumal, wer sagt denn, dass die zeitgenössische Schilderung immer die "Wahrheit" widerspiegelt? Ich gebe nur mal die Stichworte "Propaganda", "Lügenpresse", "Fake News" usw.

    Mir ist z.B. ein nachweislich Hitler-kritischer Zeitzeuge des 2. Weltkriegs begegnet, der mir erzählte, dass ihm sein Enkel erzählen wollte, wie das Verhalten der Wehrmacht an der Ostfront gewesen sei. Der Mann sagte mir sinngemäß: "Ich selbst war Jahre an der Ostfront, und nichts von diesen Dingen habe ich je mitbekommen." Welche "Wahrheit" ist nun "wahr"?

    Wenn mir der Nachgeborene nachweisen kann, dass ich heute oder in den 90ern etwas anders geschrieben habe, als ich es später erzählte, lasse ich mich gerne auf eine Diskussion dazu ein. Bislang erkenne ich keine Abweichung der Schilderungen.

    Ich will damit sagen, dass es eigentlich eine infame Unterstellung von Nachgeborenen und Geschichtswissenschaftlern ist, dem historischen Gedächtnis von Menschen in solcher Weise zu misstrauen. Ich glaube, die Quelle liegt auch hier im Generationenkonflikt der 68er-Zeit. Denn das obige Beispiel der NS-Mitläufer ist nicht zufällig gewählt. Da die Vätergeneration (ob aus Verdrängung, Reinwaschung, Selbstschutz oder besserem Wissen) eine abweichende Erzählung von dem hatte, was die Jahrgänge nach 1940 hören wollten, musste den Zeitzeugen eben die "Unwahrheit" pauschal unterstellt werden.

    Und nun wird dieses Muster auf die Antwort zu einer eher flapsigen Äußerung von Neuanmeldung "Angie" übertragen, auf die ich eben mal etwas antworten wollte. Und eigentlich hat das mit dem Berliner Schloss mal gar nichts zu tun.

  • Also bitte, zu begriffen wie Verpreußung gibt's selbst im Jahr 2019 noch einen Wikipedia Artikel (https://de.m.wikipedia.org/wiki/Verpreu%C3%9Fung), es handelt sich mitnichten um Einzelmeinungen. Kleindeutsch hieß auch großpreußisch, Wilhelm I und II machten auch nie einen Hehl daraus und entsprechend groß war beispielsweise die Ablehnung in Bayern gegen die Trinität aus Preußentum, Kaisertum und auch den damit verbundenen Protestantismus. Wer die Bedeutung der Religion im 19. Jahrhundert nicht stets mit denkt, insbesondere den Kulturkampf zwischen Katholiken und Protestanten, der kann es auch gleich bleiben lassen. Die neue Staatskirche "Dom", mit der Wilhelm II ein St. Peter der Lutheraner und Staatskirche des Reichs in einem schaffen wollte, ist eines von zahlreichen Beispielen dafür, was im Süden auf große Antipathie und Ablehnung stieß. Es gibt so viele Einzelbeispiele und Quellen, das einfach so aus allgemeinen Ausführungen heraus vom Tisch zu wischen ist schon selbstbewusst.

    Anekdoten aus dem Familienkreis waren noch nie eine gute Quelle für Verallgemeinerungen. Das hat ja nichts mit harschen Begriffen wie Lügen zu tun. Wer in der Verwandtschaft frühere SED Kader hat wird auch ein einseitiges Bild der Geschichte innerhalb der Familie tradiert haben, das ist also auch ein Phänomen, welches wir bis in die heutige Zeit beobachten können.

    Für die historische Einordnung der wilhelminischen Gestaltung des Umfelds spielt deren Genese eine ganz und gar entscheidende Rolle. Vorwürfe von Revisionismus, Restauration oder naiven Umgang mit Geschichte, die oft gegenüber Rekonstruktionen vorgebracht werden, sind angebracht wenn man sich damit schlicht nicht befassen will weil einem die alten Fotos gar so gut gefallen. Und ich würde es begrüßen, wenn über mich nicht in der dritten Person als Neuanmeldung geschrieben werden würde. Man sollte meinen, dass Männer mit Hang zu Nostalgie noch etwas von wohlerzogenem Umgang gegenüber einer Frau halten, wie er einst üblich war.

  • @Heimdall Ich weiss, Fachwissen wird hier gar nicht geschätzt, und der Hinweis auf den Besitz von selbigem erst recht nicht - aber in diesem Fall darf ich mich vielleicht doch mal erkundigen: bist Du studierter Historiker, mit Diplom von der Uni, und hast historische Forschung so richtig wissenschaftlich betrieben? Oder wie darf ich Deine "geschichtswissenschaftliche Quellenrecherche" verstehen? Als studierter Historiker und Kunsthistoriker (ja ich weiß, jetzt wedele ich wieder mit meinem Diplom, s.o.) kann ich nämlich deine Ausführungen nicht unterschreiben, und sie kommen mir auch nicht sonderlich fundiert vor.

    Anekdotische Überlieferung kann immer nur Einzelbeobachtungen überliefern. Das ist aber noch keine Geschichtsschreibung. Erst die Gesamtschau vieler Quellen ergibt ein stimmiges und historisch korrektes Bild. Es kann an dem Teil der Front oder in der Teileinheit der Wehrmacht, in dem ein bestimmter Zeitzeuge sich aufhielt, ganz anders gewesen sein als im Rest des Zweiten Weltkrieges. Was sagt also der Bericht eines Augenzeugen 60 Jahre nach dem Geschehen, für sich genommen, aus? Nichts oder fast nichts! Mit den 68ern hat das überhaupt nichts zu tun, sondern mit Stochastik und gesundem Menschenverstand. "Sine Ira et Studio" soll Geschichtswissenschaft betrieben werden - Deine sentimentalistische Argumentation, es sei eine "infame Unterstellung von Nachgeborenen und Geschichtswissenschaftlern ist, dem historischen Gedächtnis von Menschen in solcher Weise zu misstrauen" , ist unwissenschaftlich und unseriös. Wie oben ausgeführt, ist das Gedächtnis denkbar unzuverlässig und kann wenn, dann nur als ergänzende Quelle hinzugezogen werden. Ernstnehmen kann ich Dich in historischen Fragen leider nicht mehr.

  • @UrPotsdamer
    Doch, Fachwissen wird hier geschätzt. So direkt fragt man aber einen Mitforisten nicht aus, Diskretion bitte! Du solltest aus Heimdalls Beiträgen hier dir die Antwort eigentlich zusammenreimen können. Heimdall hat wirklich Ahnung von Geschichte und allgemein ein sehr hohes Bildungsniveau. Es gibt viele Leute mit Hochschulabschluss, die Heimdall nicht das Wasser reichen können. Seine Reflexionen über den Wert von Zeitzeugenberichten haben Niveau.

    Aber eigentlich ging es hier um Verpreußung und "Großmannssucht". Wird letztere eigentlich noch einem anderen Herrscher nachgesagt außer Wilhelm II.? Der Kaiser war doch vom Status her ein großer Mann. Das Königreich Preußen war für sich genommen bereits eine Großmacht, und Wilhelm II. stützte sich im Wesentlichen auf die Ressourcen seines Köngreichs.

    Der Berliner Dom war die Grablege der Hohenzollern und die Hauptkirche des preußischen Protestantismus. Den Bayern konnte er ziemlich egal sein.

    Bei August dem Starken spricht niemand von "Großmannssucht". Warum immer diese Diffamierung Wilhelms II.?

    Man muss auch bedenken: Das Königreich Preußen erfüllte wichtige Aufgaben für den deutschen Nationalstaat mit. Die Königlichen Museen und die Königliche Bibliothek hatten den Anspruch, mit den entsprechenden Institutionen in London und Paris mitzuhalten. Aber damals wurde der "Preußische Kulturbesitz" nicht von "Bund und Ländern" finanziert, sondern ausschließlich von Preußen. Heer und Generalstab Preußens waren die Basis der deutschen Militärmacht. Das war primär nichts Negatives. Die anderen Mächte verfügten ebenfalls über große Armeen und waren nicht pazifistisch orientiert.

    Und den anderen Bundesstaaten ging es doch im Kaiserreich gut. Das Königreich Sachsen erlebte eine Blütezeit. Leipzig war das Zentrum des deutschen Buchhandels, Buchdruckereigewerbes und des Rauchwarenhandels des Messewesens und und und. Die Hansestädte Hamburg und Bremen blühten als Zentren des Seehandels, des Schiffbaus usw.

    Einmal editiert, zuletzt von Rastrelli (27. September 2019 um 16:33)

  • @Rastrelli Nein, Heimdalls Reflexionen haben allenfalls Stammtischniveau. Wer ernsthaft behauptet, ein Zweifeln am Wahrheitsgehalt von Augenzeugenberichten sei eine "infame Unterstellung", der hat sicher nicht in den letzten 30 Jahren an einer Universität Geschichtswissenschaften studiert. Wenn er dann auch noch erklärt, "geschichtswissenschaftliche Quellenrecherche" betrieben zu haben, dann ist ein Nachfragen nach der Natur dieser Recherchen durchaus erlaubt und keineswegs indiskret.

    Mein Vater (heute 83 geworden) hat vorhin steif und fest behauptet, ich sei als Kind im Tennisclub gewesen, und war nur mit Mühe zu überzeugen, dass es sich dabei um meinen jüngeren Bruder gehandelt habe. Und er ist nicht senil oder debil, sondern geistig topfit. Soviel zu Augenzeugenberichten...

    Die "Stiftung Preußischer Kulturbesitz" wird von den Ländern in dem Maße getragen, wie sie jeweils Anteil an den ehemals preußischen Territorien haben. Das geht von quasi 100% (Brandenburg, Berlin) bis zu geringen Bruchteilen (Bayern, für Ansbach und Bayreuth, und Baden-Württemberg, für die Hohenzollerschen Lande). Die Länder tragen also quasi in ihrer Eigenschaft als Erben Preußens zum Erhalt des preußischen Kulturerbes bei, nicht weil Preußen per se für die Bayern so unterstützenswert wäre.

    Die "Diffamierung" Wilhelms II. erfolgt genau deshalb, weil sich kein anderer seiner Zeitgenossen in monarchischer Stellung ein "Persönliches Regiment" genehmigt und dabei so viel diplomatisches und politisches Porzellan zerschlagen hat. Alles aus dem Glauben heraus, er sei der bessere Politiker... Was zu verschmerzen gewesen wäre, wenn er tatsächlich die Begabung dazu gehabt hätte. Und "den anderen Bundesstaaten ging es doch gut" - das haben wahrscheinlich viele Südstaaten-Barone über ihre Sklaven auch gedacht...

  • Egal wie man nun zur Monarchie oder Willi2 per se steht, aber das Deutsche Reich (unter den Hohenzollern) war zu seiner Zeit so ziemlich das fortschrittlichste und prosperierendste Land der Welt (und ich befürchte, dass es so ein Deutschland auch niemals mehr in dieser Form überhaupt mehr wieder geben wird können)!

    In dieser Hochphase Deutschlands wurden weltweit 1/3 aller wissenschaftlichen Publikationen in deutscher Sprache verfasst (heute...besser nicht danach recherieren!), zählt einmal die Anzahl der deutschen Nobelpreisträger, die in dieser Zeit ihre Schulbildung oder noch ihr weltweit hochgeschätztes Studium absolvierten, in kaum einen anderen Staat der Welt gab es einen dermaßen gut organisierten sowie funktionierenden Staatsapparat! Das Deutsche Reich war außerdem der weltweite Vorreiter der heutigen Sozialsysteme! Die wichtigsten Industriekonzerne wurden in dieser Zeit gegründet et cetera et cetera. Und um hier architekturspezifische Themen einfließen zu lassen... Anfang des 19. Jahrhunderts wurden auch die lebenswertesten und bauphsyikalisch behaglichsten Wohnhäuser geschaffen, die es jemals in unserer Baugeschichte gab - abgesehen vom der wunderbar anzusehenden Außengestaltung.

    Man muss nicht gleich ein Monarchist werden, wenn man an alle diese wunderbaren Errungenschaften aus der Kaiserzeit zurückdenkt, von der wir alle noch in iregendeiner Weise profitieren. Aber eines ist für mich zumindest Gewiss, dass es, wenn die Geschichte anders verlief, die Scheußlichkeiten, die danach kamen (Kommunismus und Nationalsozialismus mit ihren Millionen von Toten) mit Sicherheit nicht gegeben hätte! Und ja, auch wenn meine Großmütter über die Zeit der Monarchie sprachen, dann schwomm genau das alles in der einen oder anderen Form mit ein und da ging es in erster Linie an die Erinnerung aus österreichischer Kaiserzeit, denn in das noch viel besser dahstehende Deutsche (Kaiser-)Reich sah man mit einer gewissen Bewunderung, weil man auch iregendwie so erfolgreich dastehen wollte. Heute ist es, wenn man so manchen Zeitungsfritzen Glauben schenken darf, ja Österreich, das das besser Deutschland ist ;-). Wie sich die Zeiten ändern...

    Das deutsche Kaiserreich war - aus meiner Sicht daher - vermutlich das beste Deutschland das es jemals gab.

    Einmal editiert, zuletzt von Exilwiener (27. September 2019 um 21:37)

  • @"Angie". Bestimmte süddeutsche Vorbehalte gegenüber Preußen sind bekannt. Spätestens seit den Ludwig Thoma-Verfilmungen. Der Kulturkampf fand statt, war aber primär ein Konflikt zwischen dem katholischen Zentrum und den konservativen sowie nationalliberalen Kräften im Land. Bismarck spielte darin eine aktive Rolle. Mit dem Kaiser hatte das eher wenig zu tun. Als Wilhelm II den Thron bestieg, war der Kulturkampf auch zumindest offiziell bereits beendet worden. Ich denke, es ist hier wohl auch nicht der ganz geeignete Ort, eine generelle historische Einordnung der Beliebtheit des Kaiserreiches zu diskutieren. Oder es sollten sich diejenigen dazu äußern, die von Dir angesprochene Kaiser-Bilder oder "alten Bilder" gepostet haben. Ich war es nicht. Ich wüsste auch nicht, was es angesichts des Humboldt-Forums bringen soll, nun einmal mehr das Kaiserreich kritisch zu hinterfragen. Soll im Hof eine Gedenkplatte mit "Anti-Wilhelm-Gedicht" im Boden montiert werden?

    @"Ur-Potsdamer". Niemand hat behauptet, dass "anekdotische Einzelerzählungen" bereits "Geschichtsschreibung" sei. Es ging darum, dass Memoiren und Oral History als faktisch unwahr gegenüber anderen, scheinbar "objektiven", Quellen dargestellt wurde. Vielleicht findet sich ja irgendwo ein alter Schmierzettel von 1980, auf dem "Ur-Potsdamer zum Tennis" gekritzelt steht. Ein Flüchtigkeitsfehler vielleicht? Ein Witz? Ist dessen Gekritzel als Originalquelle aber nun die "Wahrheit"? Dass ich für Dich Stammtisch verbreite und in historischen Fragen nicht Ernst zu nehmen bin, hättest Du nicht erwähnen müssen. Das wusste ich schon vorher. Und es ist mir egal, es erwachsen mir dadurch keine Nachteile.

    Aber noch ein Zitat:

    Zitat

    Lange Zeit sah sich die Oral History mit dem Vorwurf konfrontiert, sie arbeite mit „subjektiven“Quellen, deren Aussagen sich nicht verallgemeinern lassen. Mittlerweile setzt sich in der Geschichtswissenschaft immer mehr die Erkenntnis durch, dass im Grunde genommen kein Text nach den Kriterien „subjektiv“ oder „objektiv“ beurteilt werden kann. Schließlich sind auch sorgloser benutzte „harte“ Quellen wie Chroniken, Polizeiberichte und statistische Untersuchungen niemals objektiv, sondern geprägt von einer Ideologie, Intention oder einem bestimmten Blickwinkel. Die methodischen Probleme bei der Arbeit mit Zeitzeugeninterviews gleichen in vielen Punkten also denen der üblichen Quellenkritik.

    (https://epub.ub.uni-muenchen.de/627/1/Stephan-Selbstzeugnisse.pdf, S.14)

    @"Rastrelli". Vielen Dank für die Blumen.

  • Egal wie man nun zur Monarchie oder Willi2 per se steht, aber das Deutsche Reich (unter den Hohenzollern) war zu seiner Zeit so ziemlich das fortschrittlichste und prosperierendste Land der Welt (und ich befürchte das es auch niemals mehr in dieser Form überhaupt mehr wieder geben wird können)!

    Das ist wohl leider wahr, auch Deine Ausführungen zum Gewicht Deutschlands in den Bereichen Forschung und Wissenschaften (wobei hier auch nicht die Weimarer Zeit vergessen werden sollte, das eigentliche Nobelpreiswunder fand in den 1920er Jahren statt). In Bezug auf die Sprache wurde ihr Niedergang durch die beiden verlorenen Weltkriege und die Dominanz des Englischen sicherlich beschleunigt, hätte aber aufgrund des unaufhaltsamen Aufstiegs der USA (der durch die Selbstverzwergung Europas durch Vertreibung und Ermordung der kulturellen Elite, Massenmord, Zerstörung und Krieg nur beschleunigt wurde) wohl so oder so einen Bedeutungsverlust erhalten.

    Der Zustand des Gemeinwesens ist in der Tat bedenklich, selbst in den unmittelbaren Nachkriegsjahren hat Westdeutschland als Nachhall auf die Weimarer Zeit noch mehr Literatur, Kunst und Musik von Weltrang hervorgebracht als in den letzten 30 Jahren vollkommener kultureller Bedeutungslosigkeit bzw. der 10. und 20. Aufgüsse des Alten. Wissenschaftlich ist das Land schon seit einigen Jahrzehnten tot, geblieben ist seine Expertise in den Technologien der Kaiserzeit, deren letzten Stündlein nun -Dieselskandal und Klimawandel hin oder her- so oder so geschlagen zu haben scheinen. Bei allen Entwicklungen nach dem Verbrennungsmotor schaute Deutschland nur hinterher. Letztlich dämmert das Konstrukt Deutschland seinem Ableben entgegen. In gewissem Sinne gilt das auch für andere ehemalige europäische Mächte, aber so brutal wie für Deutschland war und ist der Abstieg nirgends gewesen.

    In Deutschland kommt nun noch erschwerend hinzu, dass von der Kulturgeschichte durch den Krieg soviel ausgelöscht wurde, es also auch nichts mehr gibt, an dem man sich festhalten könnte, wenn man so will, das haben Länder wie Österreich mit ihrem Wien, oder die Franzosen mit ihren im großen und ganzen exzellent erhaltenen architektonischen Zeugnissen nicht nur in Paris oder eben die Briten mit London noch ganz anders, während wir uns jeden Tag mit der hässlichen Belanglosigkeit unserer Alltagsumgebungen auseinander setzen müssen.

    In der Rückschau erscheint die Opulenz und der immense Reichtum Deutschlands in den 10, 15 Jahren vor Ausbruch des 1. Weltkriegs aber eben auch wie ein Fanal der Selbstüberschätzung, die in den Krieg führende Selbstbesoffenheit hat diesen erst möglich gemacht. Man dachte wirklich, das werde ein Spaziergang und dann wurde es ein über mehrere Jahrzehnte währender Spaziergang in die Vernichtung fast ganz Mitteleuropas. Das hätte sich im Sommer 1914 wohl niemand vorstellen können, wo man sich 1945 wieder finden würde.

  • Eigentlich habe ich mir ja geschworen, mich aus diesen leidigen „Selbstbegeißelungs-Diskussionen“ herauszuhalten. Aber ganz ohne Gegenrede kann man das, was Heinzer im Vorpost zur aktuellen Situation Deutschlands formuliert, ja wohl kaum stehen lassen. Am Ende glaubt das sonst noch jemand ...


    „Wissenschaftlich ist das Land tot. Das letzte Stündlein der Technologie hierzulande hat geschlagen“


    Eh, nein. Deutschland hat nach wie vor eine der dichtesten Hochschul- und Wissenschaftslandschaften der Welt. Sogenannte Elite-Unis haben wir wenige. Aber in der Breite ist das was an universitärer Bildung abgeliefert wird doch nach wie vor Champions-League. Bei den technischen Studiengängen wahrscheinlich Weltspitze. Auch was den industriell-technologischen Output angeht.


    „Der Zustand des Gemeinwesens ist bedenklich“


    Ich empfehle eine Rundreise in so ziemlich jede andere Weltgegend. Mir geht’s eigentlich immer so: Sobald ich zurückkehre bin ich heilfroh über unser Gemeinwesen und wie (weitgehend) reibungslos, (weitgehend) korruptionsfrei und sozial alles funktioniert. Das einzige was immer irritiert ist das krasse Missverhältnis zwischen einer grassierenden Unzufriedenheit – und der tatsächlichen Situation hierzulande.


    „vollkommende kulturelle Bedeutungslosigkeit im Vergleich zu den Nachkriegsjahren“


    Wünschst du dir wirklich diesen Mief der 50er und 60er Jahre zurück? Als Alt-Nazis noch in den Beamtenstuben und in Gerichten saßen, als Homosexualität unter Strafe stand und Frauen die Erlaubnis des Ehegatten bedurften, wenn sie arbeiten wollten? Nee … Die aktuelle Freiheit der heutigen Zeit schätze ich schon sehr. Die deutsche Kunstszene kann sich ja wohl absolut sehen lassen … Sogar mit der Filmindustrie geht’s meinem Empfinden nach leicht aufwärts. Von der Dichte der kulturellen Angebote und der Vielfalt wollen wir gar nicht reden … Nur die deutsche Architektur lässt aktuell (noch) zu wünschen übrig … Aber deswegen sind wir ja hier ...

  • Nochmals zum gegenseitigen Verständnis: Deinen Befund, dass Deutschland Anfang des 20. Jahrhunderts einen hohen Grad des Glücks erreicht hatte, das es - aus mir bis heute unerfindlichen Gründen - in kompletter geistiger Umnachtung in die Tonne gekloppt hat, teile ich umfänglich. Ich wehre mich nur gegen die Einschätzung, dass heute – im Vergleich zu damals – mit diesem Land so viel schlechter bestellt sein soll. Das hält einer objektiven Betrachtung schlichtweg nicht stand

  • Ich finde es immer wieder ulkig, wenn ich von Deutschen höre, während der Gründerzeit/Kaiserzeit wäre so protzig und großmannssüchtig gebaut worden. All denen empfehle ich immer wieder einen Blick auf das was zur gleichen Zeit in Frankreich, England, Österreich, Italien, Spanien, Nordamerika und Lateinanmerika gebaut wurde. Dort wurde nämlich noch bombastischer, noch prunkvoller gebaut. Gegen das Nationaldenkmal in Rom war selbst das hier erwähnte Berliner Nationaldenkmal eher zurückhaltend und bescheiden. ;)

  • Statistisch ist es sehr leicht nachzuweisen, dass die Menschen damals Gluecklicher waren.
    Das liest sich z.B. aus der Geburtenquote ab.


    Im uebrigen sind selbst Preussen kritische Laender 1871 freiwillig beigetreten. Bayern zum Beispiel.
    Dort wird dem Parlament sorgar nachgesagt, dem Koenig fuer Deutschland in Zeitlupe beiseitegewischt zu haben.

    Oder auch Hamburg. Hamburg ist ein schoenes Beispiel: Die Stadt war vor dem 2.Reich mal Schwedisch, mal Daenisch,
    dann auch mal Franzoesisch und beinahe auch Englisch (Britanien besetzte Helgoland mit Ziel Hamburg zu Besetzen)
    Hamburg musste jedesmal um seine Kunden bangen, die nun im Ausland waren. Dazu haben alle Besatzer-Staaten Geld geklaut und die Hamburger musseten ihre Kinder die jeweiligen Kriegsparteien als Soldaten zur verfuegung stellen.

    Dies ist und wahr ja ein Grund das zweite Reich ueberhaupt zu gruenden. Ich darf daran erinnern, dass die Reichsgruendung vom "kleinen" mann ausging. 1848 wurde sogar auf Menschen geschossen, die den Koenig aus seinem Schloss ziehen und zum Kaiser kroenen wollten...

    Ein anderes Beispiel wie Beliebt die Idee des zweiten Reiches war sind die Bestrebungen Englands und Frankreichs die Niederlande, Belgien, Luxenburg und auch die Schweitz zu ueberzeugen keinem zweiten Reich beizutreten.
    Die Schweitz bekahm in den 1810` nern die Auflage (und auch beim Wiener Kongress) nicht mit Deutschland zu bundeln.
    Die Niederlande, zu der Belgien gehoerte war ein neues Sammelsurium von ehemaligen Sadtstaaten von denen mehrere
    Staetde bis in die 1840`ger darum warben Deutsch zu werden, wenn diese dann Hauptstadt werden wuerden.
    Und Luxenburg ist auch ein Fall. Erst 1866 zwang England dieses Gebiet nicht Deutsch werden zu duerfen.
    Dies ist Allierte Kriegstreiberei und ein wichtiges Schriftliches Zeugnis.
    Es bedurfte Jahrhunderte und viel, viel Geld zu verhindern das diese Gebiete Vreiwillig wieder ein Buendnis beitraten.
    Fuer uns hier im Forum ist wichtig, dass diese Gebiete "vreiwillig" einem zweiten Reich beitreten wollten.


    Und zu allerletzt noch eine lustige Annektode. Ausserdem will ich mit diesem Beispiel mal zeigen wie sich die Denkweise aendert;
    Im ersten Parlament, 1848 in Frankfurt, waren es die Sozialisten, Demokraten und Komunisten die die Deutschen Staaten unter Fuehrung Preussens in einen Krieg gegen Daenemark sehen wollten. Die Konservativen, Nationalisten, Koeniglichen und Religioesen wollten keinen Krieg. Der Grund war dass Daenemark seine Verpflichtungen und Vertraege die bis um das Jahr 1250 zuruekgehen, brach und in Schleswig Buergerkrieg gegen die Deutsche Bevoelkerung fuehrte. Daenemark war Mitglied im Deutschen Bund im Jahr 1848 durch das Mitelalterliche "Lehen" eines Kaisers. Daenemark war darum 1848 in der Paulskirche vertreten als Mitglied des Deutschen Bundes.

  • Nochmals zum gegenseitigen Verständnis: Deinen Befund, dass Deutschland Anfang des 20. Jahrhunderts einen hohen Grad des Glücks erreicht hatte, das es - aus mir bis heute unerfindlichen Gründen - in kompletter geistiger Umnachtung in die Tonne gekloppt hat, teile ich umfänglich. Ich wehre mich nur gegen die Einschätzung, dass heute – im Vergleich zu damals – mit diesem Land so viel schlechter bestellt sein soll. Das hält einer objektiven Betrachtung schlichtweg nicht stand


    Ich denke nicht wegen geistiger Umnachtung sondern einfach deswegen, weil die deutsche Alternative nach 2 Kriegen
    ad adcta gelegt wurde und Deutschland nun ein westlicher Staat ist. Die erfolgreiche deutsche Alternative Anfang des
    20. Jahrhunderts war auch einer der Hauptgründe der Neider Deutschlands dasselbe in einen Krieg zu verwickeln und es als Alleinschuldigen zu diskreditieren. Die radikalen Folgen sind bekannt.

  • Zunächst gehört zu einer guten Diskussion eine ehrliche Zitierweise. Mit Ausnahme des mittleren Zitats habe ich nichts von dem von Dir mir Zugeschriebenen gesagt, verraten hat Dich der Rechtschreibfehler "vollkommend" im dritten Zitat. Insofern ist der Einstieg in diese grundsätzlich sehr interessante Debatte natürlich schonmal ziemlich daneben gegangen.

    Ich möchte Dir grundsätzlich gar nicht widersprechen, meinen sicherlich relativ provokanten Aussagen kann man mit Fug und Recht widersprechen, v.a. denjenigen zum Zustand des Gemeinwesens. Ich selbst schwanke ja auch zwischen den Positionen, Du wirst in vielen Strängen hier Meinungen von mir finden, die sich 1:1 mit Deiner decken. Es ist im wesentlichen der Schmerz um das Verlorene, das mich zu derartig negativen Beiträgen bringt.

    Nüchtern betrachtet hast Du völlig recht mit Deiner Analyse, dass es Deutschland zur Zeit gar nicht schlecht geht. Dies zeigt u.a. seine enorme Attraktivität für Zuwanderer sogar aus Ländern, an die Deutschland über Jahrzehnte Einwohner verloren hat, wie z.B. die USA und das Vereinigte Königreich. Selbst aus Australien und Kanada wandern mehr Menschen zu uns als umgekehrt dorthin auswandern. Auch ist die Nettoauswanderung Deutscher auf einem absoluten Tiefststand, auch hier haben die wirtschaftlich sehr guten letzten 10 Jahre deutliche Spuren hinterlassen, v.a. im Vergleich zum absolut katastrophalen ersten Jahrzehnt unseres Jahrtausends, als jährlich allein in die Schweiz zwischen 20.000 und 35.000 meist gutqualifizierte Deutsche ausgewandert sind. 2018 lag diese Zahl bei um 5.000 Menschen.

    Berlin hat sich trotz aller Narben und trotz einer herausragend mittelmäßigen, umambitionierten Politik als extrem attraktive Weltstadt zurück auf die Bühne gemeldet. Das Internet ist voll von Lobeshymnen über das von vielen Nichtdeutschen als interessanteste Stadt der Welt empfundene Berlin. Insgesamt wird Deutschland international wieder ganz anders wahrgenommen als noch vor 20 oder 50 Jahren und auch als Auswanderungsziel für Hochqualifizierte spielt es wieder eine Rolle, wenngleich es sich natürlich auch auf Kosten Ostmitteleuropas demographisch über Wasser gehalten hat.

    Auch wünsche ich mir ganz sicher nicht den Muff und die Geschichtsvergessenheit der Nachkriegszeit zurück, nichts stünde mir ferner, die von Dir genannten Punkte sehe ich ganz genauso, ebenfalls von mir hier vielfach nachzulesen. Trotzdem ist der kulturelle "Output" des Landes, zumindest der Teil, der außerhalb des unmittelbaren Kulturraums wahrgenommen wird, erschütternd gering geworden. Mag sein, dass sich das z.B. mit Netflix und ein paar gut gemachten deutschen Serien wieder ändert, im Moment sind das alles aber allenfalls zarte Pflänzchen. Viel mehr als Rammstein fällt mir als zeitgenössischer und einflussreicher, international wahrgenommener Export weiterhin nicht ein, auch wenn es natürlich eine ganze Mengen Nischen geben wird, in denen deutsche Künstler eine wichtige Rolle spielen.

    Und auch wenn die Bildungslandschaft in der Breite ihresgleichen suchen mag, fehlt es eben an der Spitze, wie Deutschlands beschämende Bilanz z.B. bei den Nobelpreisen in den letzten 20, 30 Jahren zeigt. In vielen Bereichen hat sich das Land in einer gewissen gemütlichen Mittelmäßigkeit arrangiert, es regieren Zukunftsangst und Mutlosigkeit. Statt der Chancen, die so etwas wie die Energiewende oder die Umstellung der Industrie auf einen kohlenstoffärmere Basis darstellen könnte für ein Ingenieursland, werden die Risiken überbetont. Ich frage mich wo diese "yes we can"-Attitüde, die das Land damals den USA absolut ebenbürtig machte, geblieben ist. Statt dessen Kleinklein um Einspeisungsvergütungen und Verschwörungsgeraune um den Diesel. Das, was viele hier beweinen, den Verlust des kaiserzeitlichen Optimismus, das stellen sie in ihrer Niedergangsrhetorik selbst dar. Kein Wunder bei der Alterung des Landes.

    Insofern schlagen in puncto Deutschland einfach zwei Seelen in meiner Brust, beide wohl zutiefst deutsch, sowohl die negative, dem Verlorenen nachhängende als auch die vielleicht etwas übermäßig positiv gefärbte, die größtenteils Chancen sieht und die sich darüber freut, wie gut es dem Land in diesem zweiten Jahrzehnt des jungen Jahrtausends gegangen ist, nach Kriegen, Tod und Teilung, nach den enormen Belastungen der Wiedervereinigung wieder zurück gekehrt. Klingt vielleicht etwas verwirrend, ist es auch für mich selbst manchmal ;)