Altrussische Baukunst

  • Ich möchte euch in dieser Galerie die altrussische Baukunst ein wenig näher bringen. Sie ist im westlichen Europa kaum bekannt. Das liegt sicherlich an der Sprachbarriere. Schon die offiziellen Namen russischer Kirchen und Klöster erscheinen uns umständlich und lang. Dazu gibt es dann im Russischen gebräuchliche Kurzformen. Wir können die Namen ins Deutsche übertragen, aber dem Laien sagt das eigentlich nichts. Ich bevorzuge daher hier die Angabe der russischen Namensform im Sinne eines unübersetzten Eigennamens. Manchmal biete ich zusätzlich die Übersetzung an. Lasst euch bitte nicht von den russischen Namen abschrecken! Sie werden zur Identifizierung benötigt, aber ihr könnt die Galerie auch genießen, ohne euch näher mit den Namen zu befassen.

    Der zweite Grund, warum die altrussische Baukunst im Westen wenig bekannt ist, dürfte der sein, dass sie nicht gerade um die Ecke liegt. Ein Großteil der Baudenkmale versteckt sich tief in der russischen Provinz.

    Als "altrussisch" bezeichnet man den traditionellen Baustil Russlands in Abgrenzung zu den "europäischen" Stilen Barock, Klassizismus und Historismus, die zwischen 1700 und 1917 im "alten Russland" ebenfalls vorkommen. Das "alte Russland" wird im Russischen als "zaristisch" oder "vorrevolutionär" gekennzeichnet. Gemeint ist das Russland vor der Abdankung des Zaren im Revolutionsjahr 1917.

    Zur Einstimmung auf dieses alte Russland möchte ich euch Farbfotografien aus den Jahren 1909 bis 1915 zeigen. Sie stammen von Sergej Prokudin-Gorski (Сергей Прокудин-Горский, 1863-1944), einem Pionier der Dreifarbenfotografie. Prokudin-Gorski verbesserte das Verfahren so, dass er dokumentarisch im Freien arbeiten konnte. Er entwickelte den Plan, die Provinzen des Russischen Reiches in farbigen Fotografien zu dokumentieren. Der Zar war begeistert und erteilte ihm den Auftrag, Stadtbilder, Gebäude, Kulturlandschaft, Menschen und Wirtschaftsleben möglichst umfassend im Bild festzuhalten. Ab 1909 unternahm Prokudin-Gorski mehrere Expeditionsreisen. Zur Entwicklung seiner Aufnahmen hatte er sich ein Labor in einem Eisenbahnwaggon eingerichtet, das ihn begleitete. Die Fotos bestechen durch ihre künstlerische Qualität und Farbtreue.

    1918 ging Sergej Prokudin-Gorski in die Emigration. Sein Bildarchiv nahm er mit. Nach seinem Tod 1944 in Paris erwarb die Library of Congress in Washington seinen künstlerischen Nachlass. Für alle folgenden Aufnahmen dieses Fotografen gilt: Besitz des Originals: Library of Congress, Rechte: public domain. Beginnen wir mit Aufnahmen von Menschen und Kulturlandschaft des alten Russland:


    Mädchen mit Erdbeeren, Dorf Topornja (Топорня) nahe der Stadt Kirillow, Gouvernement Wologda
    (Foto: Sergej Prokudin-Gorski, 1909)


    Mädchen im Dorf Topornja bei Kirillow, Gouvernement Wologda (Foto: Prokudin-Gorski, 1909)


    Die Besatzung des Dampfers "Scheksna" (Шексна) (Foto: Prokudin-Gorski, 1909)


    Kinder am Hang unterhalb einer Kirche in Belosersk (Белозерск), Gouvernement Nowgorod (Foto: Prokudin-Gorski, 1909)


    Erntearbeiter, Gouvernement Jaroslawl (Foto: Prokudin-Gorski, 1909)


    Bei der Ernte, Gouvernement Jaroslawl (Foto: Prokudin-Gorski, 1909)


    Mittagspause bei der Ernte an der Scheksna, Gouvernement Jaroslawl (Foto: Prokudin-Gorski, 1909)


    Der alte Kalganow mit Sohn und Enkelin, alle drei in der Waffenfabrik von Slatoust im Ural tätig
    (Foto: Prokudin-Gorski, 1910)


    Bahnlinie bei Petrosawodsk am Onegasee, der Herr im Anzug vorne rechts ist Sergej Prokudin-Gorski
    (Foto: Prokudin-Gorski, 1915)

    Dieses Foto lässt sich über den Bildlink enorm vergrößern, dann kann man das Gesicht von Prokudin-Gorski gut sehen. Mit diesem letzten Bild von Menschen des alten Russland leiten wir nun über zu den Gebäuden. Wir bleiben in der Nähe, im Gouvernement Olonez.


    Kapelle im Dorf Mjatusowo (Мятусово), Gouvernement Olonez (Foto: Prokudin-Gorski, 1909)

  • Unser Thema hier ist die Baukunst. Nun also Bauwerke von künstlerischer Bedeutung.

    Dorf Anchimowo (Анхимово), Gebiet Wologda, Pokrowskaja-Kirche (Покровская церковь), Wytegorski pogost (Вытегорский погост)

    (Foto: Prokudin-Gorski, 1909)

    Dieses Foto von Prokudin-Gorski wurde von einem russischen Experten stark restauriert. Die Farben sind daher besser als auf den Bildern in meinem vorigen Beitrag. Die Aufnahme hat besonderen dokumentarischen Wert, denn die Kirche, die wir hier sehen, ist 1963 abgebrannt. Sie stand in einem entlegenen Dorf im nordrussischen Gebiet Wologda und gehörte typologisch zur nordrussischen Holzbaukunst. Bemerkenswert an der Aufnahme ist, dass die Kirche damals weiß gestrichen war. Das ist heute bei solchen Holzkirchen nicht mehr üblich. Die Kirche - wer deutsche Übersetzungen mag, darf sie Mariä-Schutz-Kirche nennen - ist nur das Gebäude rechts. Links steht ein Glockenturm und vor diesem offensichtlich eine Kapelle. Vor einigen Jahren wurde die Pokrowskaja-Kirche an einem ganz anderen Ort rekonstruiert. Darauf komme ich in einem späteren Beitrag noch einmal zurück.

    An dieser schönen Kirche fallen besonders die vielen kleinen Türmchen ins Auge. Man nennt sie Kuppeln. Das russische Wort dafür ist "glawa" (глава). Es bedeutet zugleich "Haupt". Das gefällt mir gut: Die "Kuppeln" sind die "Häupter" der Kirche. Könnten wir um die Kirche herumgehen und würden nachzählen, dann müssten wir auf 21 solcher Kuppeln oder "Häupter" kommen. Das ist viel, und deshalb sprechen Fachleute vom Vielkuppelschema (mnogoglawije / многоглавие). Die Kuppeln sind hier Ausdruck einer Schmuckfreude, die wir so in frühen Zeiten noch nicht finden. Die Mariä-Schutz-Kirche wurde erst 1708 erbaut. Am nebenstehenden Glockenturm lässt sich diese Entstehungszeit noch leichter abschätzen.

    Wenden wir uns nun einem Hauptwerk der altrussischen Baukunst des Mittelalters zu:

    Wladimir, Uspenski-Kathedrale (Foto: Prokudin-Gorski, 1912)

    Die Uspenski-Kathedrale oder Mariä-Entschlafens-Kathedrale (bitte nicht "Mariä-Himmelfahrt...", das ist katholisch) wurde im 12. Jahrhundert aus Stein errichtet. Sie ist ein klassisches Beispiel des weit verbreiteten Fünfkuppelschemas (pjatiglawije / пятиглавие). Ich könnte euch ohne Schwierigkeiten die gleiche Ansicht auf einem modernen Foto zeigen, aber das will ich nicht. Die historischen Aufnahmen von Prokudin-Gorski haben eine besondere Aura und technisch bedingt eine andere Farbstimmung als moderne Fotografien. Es würde sich beißen, wenn man gleich darunter ein Foto von heute setzte. Wir werden uns mit dieser Kathedrale in einem späteren Beitrag noch näher beschäftigen. Sie gilt als ein unbestrittenes "Hauptwerk" - im Russischen sagt man "schedewr" - der altrussischen Baukunst. Sicherlich habt ihr gleich bemerkt, dass "schedewr" eine Entlehnung aus dem Französischen ist (chef-d'oeuvre). Wir können daraus ablesen, dass das Denken in derartigen Kategorien künstlerischer Bedeutung in der altrussischen Kultur nicht heimisch war.

    Wladimir, Demetrios-Kathedrale (Foto: Prokudin-Gorski, 1911)

    Ein weiteres "schedewr" in Wladimir ist die Demetrios-Kathedrale. Sie gilt als herausragendes Beispiel des Einkuppeltyps.

    Nach diesen beiden mittelalterlichen Kirchen nun was Moderneres.

    Torschok (Toržok / Торжок), Gebiet Twer, Erzengel-Michael-Kirche (Foto: Prokudin-Gorski, 1910)

    In der Kleinstadt Torschok (Торжок) bei Twer steht diese schöne Kirche aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (auch heute noch). Die Aufnahme ist ein Meisterwerk der Architekturfotografie von Prokudin-Gorski und wurde von russischen Spezialisten hervorragend restauriert. Die Farbstimmung des Originals blieb erhalten, aber die Bildfehler, die auf den unbearbeiteten Glasnegativen recht zahlreich sind, wurden alle beseitigt.

    Torschok, Spasso-Preobraschenski-Kathedrale und Kirche Wchoda Gospodnja w Ijerusalim am Ufer der Twerza (Foto: Prokudin-Gorski, 1910)

    Hier wurden zwei Kirchen nebeneinander gesetzt. Das ergibt eine besonders malerische Wirkung und ist in der altrussischen Baukunst recht häufig anzutreffen. Erst auf den zweiten Blick fiel mir auf, dass es stilistisch gar keine altrussischen Kirchen sind, sondern klassizistische. Die Spasso-Preobraschenski-Kathedrale, der Fünfkuppelbau rechts im Bild, ist sogar ein Werk des berühmten Petersburger Baumeisters Carlo Rossi aus den Jahren 1815-1822. Die nebenstehende Einkuppelkirche "Einzug des Herrn in Jerusalem" wurde 1841-1842 von einem weniger bedeutenden Architekten namens Lwow erbaut. Der Glockenturm im Bild wurde 1930 zerstört, als die beiden Kirchen für den Gottesdienst geschlossen wurden.

    Streng genommen ist auch unser erstes Beispiel aus Torschok nicht der altrussischen Kunst zuzurechnen, sondern dem westlichen Historismus. Dieser greift hier zwar nicht auf eine frühere Epoche der westeuropäischen Kunst zurück, sondern auf Elemente der ostkirchlichen Tradition. Die Verwendung der Stilmittel folgt jedoch ganz der westlichen Kunstauffassung. Man nennt diese Spielart "Neobyzantinismus". Sie war damals in Russland recht beliebt. Neobyzantinische Bauten wirken oft etwas schwer und akademisch unterkühlt.

    Moschajsk (Možajsk / Можайск), Gebiet Moskau, Nowo-Nikolski-Kathedrale (Foto: Prokudin-Gorski, 1911)

    Moschajsk, Nowo-Nikolski-Kathedrale (Foto: Prokudin-Gorski, 1911)

    Freundlicher wirkt dagegen die Nowo-Nikolski-Kathedrale in Moschajsk unweit von Moskau. Sie entstand zwar in der Zeit des Klassizismus, nämlich in den Jahren 1802 bis 1814, folgt aber einem anderen Stil, der seltsamerweise "russische Gotik" genannt wird. Reinrassige altrussische Baukunst haben wir auch hier nicht vor uns. Wenn man es genau nimmt, so muss man wohl sagen, dass es die unverfälschte altrussische Kunst nur bis zum Ende des 17. Jahrhunderts gibt. Ebenso können wir konstatieren, dass im 18. und 19. Jahrhundert nur wenige russische Kirchen in einem unverfälschten, reinen westlichen Stil errichtet wurden (die liturgisch bedingten Abweichungen vom westlichen Kirchenbau, z. B. Ikonostas, nicht mitgerechnet). Die Nowo-Nikolski-Kathedrale besteht heute noch.

    Kehren wir mit dem letzten Bild dieses Beitrags ins nordrussische Gebiet Wologda zurück:

    Dorf Krochino (Крохино), Gebiet Wologda, Kirche Roschdestwa Christowa (Foto: Prokudin-Gorski, 1909)

    Man sieht dieser Kirche "Christi Geburt" sofort an, dass sie aus dem 18. Jahrhundert stammt. Sie wurde 1788 erbaut, ist aber mehr ein Werk des traditionellen Stils als des Barock. Der Einfluss des westlichen Stils zeigt sich vor allem an den Dächern der Kuppel und des Glockenturms. Das Dorf Krochino bei Belosersk wurde 1961 vom Scheksna-Stausee überflutet. Die Kirche blieb ganz am Rande des Stausees zunächst stehen und verfiel im Laufe der Jahrzehnte. Heute ist sie eine Ruine, aber es gibt Bestrebungen sie zu retten.

    2 Mal editiert, zuletzt von Rastrelli (8. Januar 2020 um 11:43)

  • Weitere Farbaufnahmen des Fotopioniers Sergej Prokudin-Gorski:

    Kolozki-Kloster (Колоцкий монастырь), Gebiet Moskau (Foto: Prokudin-Gorski, 1911)

    Das Kolozki-Kloster liegt 20 km westlich von Moschajsk im Gebiet Moskau. Die historische Aufnahme zeigt noch das Gesamtensemble mit der Festungsmauer. Russische Klöster sind in der Regel Wehrbauten und sie liegen oft an wichtigen Verkehrswegen. So auch das Kolozki-Kloster. Es bewachte die Straße nach Smolensk. Seine Geschichte reichte bis in das 15. Jahrhundert zurück, aber die erhaltenen Bauten waren jünger. Wenige Jahre nach dieser Aufnahme schlossen die Kommunisten das Kloster. Sie erschossen die letzten Mönche und zerstörten die Festungsmauer und weitere Klosterbauten. In den 90er Jahren wurde das Kolozki-Kloster als Frauenkloster erneuert.

    Wenden wir uns nun einer der schönsten altrussischen Städte zu: Susdal (Суздаль)!

    Susdal (Суздаль), Kreml, Bogorodize-Roschdestwenski-Kathedrale (Богородице-Рождественский собор) mit Glockenturm

    (Foto: Prokudin-Gorski, 1912)

    Susdal liegt etwa 30 km nördlich des Gebietszentrums Wladimir. Im 12. Jahrhundert war es ein bedeutender Fürstensitz. Später entwickelte es sich aber nicht zur Großstadt. Die Kommunisten zerstörten hier weniger als anderswo. So sind die Motive, die Prokudin-Gorski im Bilde festhielt, noch weitgehend erhalten. Susdal wurde als "Museumsstadt" konserviert. Doch selbst in diesem Museum war während der kommunistischen Diktatur kirchliches Leben verboten. Seit 1988 gibt es wieder Gottesdienste in Susdal. Die Kathedrale des Kreml ist der Geburt der Gottesmutter geweiht und wird heute vom weltlichen Museum und von der russischen Kirche gemeinsam genutzt.

    Susdal, Kreml, Bogorodize-Roschdestwenski-Kathedrale (Foto: Prokudin-Gorski, 1912)

    Die Aufnahmen von Prokudin-Gorski geben Aufschluss über die Farbfassung der Gebäude zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Im Bild oben sehen wir im Vordergrund zwei ganz kleine Kuppeln in kräftigem Blau. Eigentlich sind es ja nur Ziertürmchen, aber man nennt sie im Deutschen "Kuppeln". Das russische Wort "glawa" passt da besser. Bei den fünf Zwiebelkuppeln der Kathedrale ist das Blau des Grundes, auf dem die goldenen Sternlein prangen, verblasst. Erstaunlich für uns heute ist, dass die Außenwände der Kathedrale nicht weiß gestrichen waren, sondern in diesem eigentümlichen Beige. Die rechte Seite ist die Ostseite der Kirche - deutlich erkennbar an den drei Apsiden.

    Susdal, Portal im Risopoloschenski-Kloster (Ризоположенский монастырь) (Foto: Prokudin-Gorski, 1912)

    Von besonderem dokumentarischem Wert sind für uns heute Prokudin-Gorskis Aufnahmen architektonischer Details und kunsthistorischer Objekte. Hier drei Aufnahmen aus dem Susdaler Risopoloschenski-Kloster, das eng mit dem Wirken der heiligen Jewfrosinija von Susdal (Евфросиния Суздальская) verbunden ist, die hier im 13. Jahrhundert lebte. Oben ein Portalgewände, wie es für die altrussische Baukunst typisch ist. Der genaue Standort ließ sich nicht ermitteln. Diese Portalgewände erinnern an romanische Rundbogenportale der westlichen Kunst. Sie zeigen in der russischen Kunst jedoch nie figürlichen Schmuck, sondern sind ornamental-dekorativ gestaltet. Im Scheitel des Portalbogens wurde eine Ikone angebracht.

    Susdal, Portal im Risopoloschenski-Kloster mit dem Tuch der heiligen Jewfrosinija (Foto: Prokudin-Gorski, 1912)

    Ein Beispiel für die sorgfältige Inszenierung der Aufnahmen Prokudin-Gorskis: Es ist dasselbe Portalgewände wie oben, aber diesmal mit einem Tuch (пелена) verhängt, das mit einem Bild der heiligen Jewfrosinija bestickt ist. Vermutlich stammt es aus der Zeit der 1698 erfolgten Kanonisierung der Jewfrosinija. Es wurde nur für die Fotografie dort platziert. Die Reliquien der hl. Jewfrosinija wurden 1919 von den Kommunisten geöffnet und als "Stoffpuppe mit Knochenstückchen" beschrieben. Sie kamen dann ins Museum und wurden 1988 der Kirche zurückgegeben. Heute befinden sie sich aber wohl nicht im Risopoloschenski-Kloster. Ob das oben zu sehende Tuch erhalten blieb, ist fraglich.

    Susdal, Risopoloschenski-Kathedrale im gleichnamigen Kloster, Reliquienschrein der hl. Jewfrosinija (Foto: Prokudin-Gorski, 1912)

    In die Risopoloschenski-Kathedrale wurde 1923 ein Kraftwerk (!) eingebaut. Die Inneneinrichtung wurde also von den Kommunisten zerstört. 1929 rissen sie auch die Kuppeln herunter. Ende der 60er Jahre wurde die Kathedrale äußerlich wieder in den Ursprungszustand versetzt. Susdal diente nun als Aushängeschild für den "verantwortungsvollen Umgang" der Kommunisten mit dem kulturellen Erbe und wurde als Touristenzentrum entwickelt. Das 1207 gegründete Risopoloschenski-Kloster war eines der ältesten Klöster Russlands. 1999 wurde es an die Russische rechtgläubige Kirche zurückgegeben und als Frauenkloster wiederbegründet. Sein Glockenturm ist das höchste Bauwerk der Stadt. Prokudin-Gorski bestieg ihn, um das folgende Foto zu machen.

    Susdal, Blick vom Glockenturm des Risopoloschenski-Klosters zum Pokrowski-Kloster (Foto: Prokudin-Gorski, 1912)

    Abschließend noch drei Ansichten aus der Stadt. Susdal liegt, wie jede altrussische Stadt, an einem Gewässer. Hier ist es der Fluss Kamenka.

    Susdal, an der Kamenka (Каменка) (Foto: Prokudin-Gorski, 1912)

    Susdal, Kirche Ilji Proroka (церковь Ильи Пророка), davor die Winterkirche Ioanna Bogoslowa (церковь Иоанна Богослова)

    (Foto: Prokudin-Gorski, 1912)

    Die dem Propheten Elia geweihte Kirche, auch Iljinskaja-Kirche genannt, ist eine Pfarrkirche aus dem 18. Jahrhundert. Im Bild ist vor ihr die kleine zugehörige Winterkirche Ioanna Bogoslowa zu sehen. Man hat relativ oft neben eine Pfarrkirche eine kleine beheizbare Winterkirche gesetzt. Die dem Evangelisten Johannes geweihte Winterkirche wurde in den ersten Jahren der Sowjetmacht zerstört, ebenso der Glockenturm der Prophet-Elia-Kirche. Pläne für eine Rekonstruktion des Glockenturmes gab es seit den 70er Jahren. Doch erst 2010 wurde diese Rekonstruktion abgeschlossen, ebenso die Restaurierung der Kirche Ilji Proroka. Die Winterkirche wurde nicht wiedererrichtet.

    Susdal, Kirche Borisa i Gleba (церковь Бориса и Глеба) (Foto: Prokudin-Gorski, 1912)

    Auch die den beiden Heiligen Boris und Gleb geweihte Kirche ist eine Pfarrkirche aus dem 18. Jahrhundert. Links hinter dem Glockenturm ist ein kleines Stück der zugehörigen Winterkirche (Nikolskaja-Kirche) zu entdecken. Sie wurde 1937 abgerissen. Die seit 1923 geschlossene Borissoglebskaja-Kirche war ebenfalls zum Abriss vorgesehen. 1961 wurde sie aber schließlich restauriert, weil Susdal touristisch entwickelt werden sollte. Diesem Kurswechsel verdankt sich auch der Erhalt einiger weiterer Pfarrkirchen Susdals.

    3 Mal editiert, zuletzt von Rastrelli (27. Januar 2020 um 03:37)

  • Herzlichen Dank für die zarten Abbildungen einer wunderschönen Flußlandschaft. Auch die Portraits der Bewohner, insbesondere der Kinder haben mich sehr berührt. Ich hoffe es ist ihnen gut ergangen.

    Beauty matters!

  • Danke für diese schönen Fotografien voller Poesie! Wieder ein Fenster zu einer unbekannten Welt geöffnet.

    Die Bilder zeigen auch: damals war Schönheit und Harmonie in der Gestaltung der alltäglichsten wie auch der heiligsten Dinge einfach eine Selbstverständlichkeit. Es ist doch auch die Verzweiflung und das Rätseln darüber, warum dies verloren ging, weshalb wir dieses Forum besuchen.

    Eingestellte Bilder sind, falls nicht anders angegeben, von mir

  • Aus aktuellem Anlass möchte ich nun einen kleinen Exkurs einfügen. Es ist Ostern und ich möchte dazu passendes Bildmaterial zeigen.

    Das Thema dieser Galerie ist ja die altrussische Baukunst. Eine ganze Reihe künstlerisch bedeutender Sakralbauten wurde auch in sowjetischer Zeit gepflegt. Dabei wurde aber in Darstellungen zur Kunstgeschichte die religiöse Dimension dieser Bauten stets ausgeklammert. Die liturgische Ausstattung, die in den musealisierten Kirchen zum großen Teil nicht mehr vorhanden war, wurde nicht thematisiert. Die Geschichte des religiösen Lebens war tabu. Das Wissen um die Religion sollte gelöscht werden. Dinge zu verschweigen ist ein sehr effektives Mittel der Propaganda. In der Literatur, die in der DDR zur russischen Kulturgeschichte erschien, war die religiöse Thematik ausgeklammert. In den Wörterbüchern fehlten viele Fachbegriffe.

    So tat sich nach dem Ende des Kommunismus ein unbekannter Kontinent auf - die russische Religion. Nach traditioneller russischer Auffassung soll eine Kultur nicht losgelöst von den Menschen, die sie tragen, und von der Landschaft, in der sie sich entwickelte, betrachtet werden. Es bedeutet eine Kurskorrektur gegenüber den Jahrzehnten der kommunistischen Herrschaft, wenn wir uns nun neben dem Studium der reinen Architektur, ihrer Bauformen und Dekorationsstile, auch den Menschen und ihrer Religion zuwenden.

    Ostern ist das höchste Fest der Christen. Wir feiern die Auferstehung des Herrn. Diesem Ereignis ging die Kreuzigung und Grablegung Christi voraus.

    Wassili Perow (Василий Перов), Kreuzabnahme (Снятие с креста), 1878, Tretjakow-Galerie

    Wassili Perow (1833-1882) ist einer der bedeutendsten russischen Maler des 19. Jahrhunderts. Er gehört zur Gruppe der Peredwischniki. Ihr Name leitet sich von den Wanderausstellungen ab, die sie organisierten.

    Bei dem Bild handelt es sich um ein großformatiges Spätwerk (1,55 m x 2,42 m) Perows, das 1883 aus seinem Nachlass in die Sammlung des Mäzens Pawel Tretjakow kam. Um den toten Christus herum sehen wir Maria, Maria aus Magdala und Josef von Arimathia. Sie bereiten die Grablegung vor. Mich beeindruckt dieses Gemälde, weil es Perow gelingt, die Vorgeschichte des freudigen Osterereignisses in einer Szene von elementarer Wucht zusammenzufassen.

    Wassili Perow, Kreuzprozession zu Ostern auf dem Lande (Сельский крестный ход на Пасхе), 1861, Tretjakow-Galerie

    Dieses Frühwerk Perows von 1861 löste seinerzeit einen Skandal aus. Es wurde als unsittlich kritisiert. Pawel Tretjakow wurde dringend abgeraten, das Bild zu kaufen. Doch er ließ sich davon zum Glück nicht beirren und erwarb es direkt vom Künstler. Die gezeigte Kreuzprozession darf man nicht mit einer katholischen Karfreitagsprozession verwechseln. Es geht hier um das "Umherziehen mit dem Kreuz" (Хождение с крестом) zur Verkündigung der Osterbotschaft. Der Pope war angehalten, die Häuser seiner Pfarrgemeinde aufzusuchen. Dort wurde er nicht nur mit Wein empfangen, sondern erhielt auch Abgaben, von denen er seinen Lebensunterhalt bestreiten musste. Auf dem Bild nun hat der Priester schon etliche Häuser hinter sich und tritt besoffen ins Freie. Dabei zertritt er mit dem rechten Fuß ein Osterei, das der Alte, der neben ihm auf dem Boden liegt, vergeblich zu retten sucht. Die junge Frau trägt eine Ikone, in der die Gesichter Marias und des Jesuskindes fehlen. Der abgerissene alte Mann hinter ihr hält eine gemalte Ikone verkehrt herum, mit dem Kopf nach unten. Das vordergründig realistische Bild ist eine bitterböse Satire auf Missstände in Kirche und Gesellschaft jener Zeit.

    Das Gemälde ließ sich für kirchenfeindliche Propaganda nutzen. Die oben gegebene Erklärung, die ein differenzierteres Bild vermittelt, kombiniert Informationen aus dem Katalog der Tretjakow-Galerie mit Angaben eines Priesters unserer Tage. Umzüge mit der Heiligen Schrift, dem Kreuz, Kirchenfahnen und Ikonen, bei denen viel gesungen wurde (die geöffneten Münder), gab es zu verschiedenen religiösen Anlässen. Der Sammelbegriff dafür ist "Kreuzprozession" (крестный ход). Seit dem Sturz des Kommunismus können sie wieder stattfinden.

  • Hier habe ich ein Bild einer Kreuzprozession in der Osternacht. Es ist datiert auf den 14. April 2012. Das war ein Ostersonnabend. Die Zeitangabe der Kamera ist möglicherweise nicht ganz korrekt. Es könnte schon ganz früher Ostersonntag sein. Einige Personen tragen das Osterfeuer. Ganz vorn sehen wir die typischen Elemente einer russischen Prozession: das Licht, die Kirchenfahnen (хоругви) und das Kreuz. Die Kirchenfahnen zeigen Ikonen, links eine Darstellung der Gottesmutter, rechts eine Christusikone. Die Fahnenträger sind in ein liturgisches Gewand, das Sticharion (стихарь), gekleidet. Die Menge umschreitet die Pokrowski-Kathedrale in der Stadt Gattschina südlich von St. Petersburg. Sie geht entgegen dem Uhrzeigersinn, wie das heute in der russischen Kirche üblich ist. Die Pokrowski-Kathedrale wurde 1914 geweiht. Ihr Pfarrer wurde 1938 von den Kommunisten ermordet, die Kirche geschlossen und 1939 in ein Warenlager umgewandelt. 1990 erfolgte die Rückgabe an die Russische rechtgläubige Kirche. Seit 1991 finden hier wieder Gottesdienste statt.

    Gattschina (Гатчина), Kreuzprozession in der Osternacht, 14. April 2012 (Ostersonnabend). Die Gläubigen gehen um die Pokrowski-Kathedrale herum (Foto: Анатолий Лунёв, CC-BY-SA-3.0)

  • Hier noch ein Bild von einer österlichen Kreuzprozession auf dem Lande. Die Menschen ziehen im Rahmen der "Utrenja des Ostersonnabend" (утреня Великой Субботы) um die Kirche. Die Utrenja (утреня) ist - wie das Wort schon erahnen lässt - eigentlich ein Morgengottesdienst. Sie ist nicht speziell an Ostern gebunden und wird in den russischen Pfarrgemeinden meist im Anschluss an die vorausgehende Wetschernja (вечерня) - einen Abendgottesdienst - gefeiert. So auch hier. Nach den Angaben der Kamera entstand die Aufnahme am späten Nachmittag des Karfreitag 2009. Die Lichtverhältnisse im Bild bestätigen die Tageszeit.

    Die Kirche steht im Dorf Dudenewo, 40 Kilometer Oka-aufwärts von Nischni Nowgorod. Dudenewo hat nur rund tausend Einwohner. Den Wiederaufbau ihrer Kirche nahmen sie im Jahr 1992 in Angriff. Seit 2004 wird sie wieder als Pfarrkirche genutzt.

    Dorf Dudenewo (Дуденево) bei Nischni Nowgorod, Kreuzprozession im Rahmen der "Utrenja des Ostersonnabend", am 17. April 2009 (Karfreitag) um die Kirche Pokrowa Preswjatoj Bogorodizy (Foto: Smolov.ilya, CC-BY-SA-3.0)

    So unspektakulär ist eine kleine Prozession auf dem Lande. Vergleichen wir das Foto mit dem Gemälde von Wassili Perow weiter oben, so wird deutlich, wie realistisch er gemalt hat.

    Das folgende Bild entstand fünf Jahre später. Der oben noch eingerüstete Portikus ist inzwischen fertig. Es überrascht, in diesem Provinznest eine Kirche im klassizistischen Stil vorzufinden. Die Kirche zu Mariä Schutz und Fürbitte wurde im Jahr 1828 erbaut.

    Dorf Dudenewo bei Nischni Nowgorod, Kirche Pokrowa Preswjatoj Bogorodizy (церковь Покрова Пресвятой Богородицы), Juli 2014

    (Foto: Dmitriy VIII, CC-BY-SA-4.0)

  • Das folgende Gemälde trägt den Titel "Ostersonntag". Der war zwar schon gestern, aber heute ist ja auch noch ein Feiertag, und in Russland ist Ostersonntag in diesem Jahr ohnehin erst in sechs Tagen. Das Bild stammt von dem 1962 geborenen Maler Ilja Kawersnew (Илья Каверзнев), einem Absolventen der renommierten Surikow-Kunstakademie in Moskau. Kawersnew ist Mitglied der Künstlervereinigung "Russki mir" (Русский мир, Russische Welt), die sich der Darstellung der traditionellen russischen Kultur und der Bewahrung künstlerischer Traditionen verpflichtet fühlt.

    Ilja Kawersnew, Ostersonntag (Светлое Воскресение), Gemälde von 2005 (Foto: Ilya Kaverznev, CC-BY-SA-3.0)

    Auf dem Tischchen in der Ecke eine Ikone der Gottesmutter. Links oben ein Bildnis des letzten Imperators Nikolaus II. Er wurde vor einigen Jahren von der Russischen rechtgläubigen Kirche als Märtyrer kanonisiert. Das Bild zeigt ihn aber nicht als Heiligen, sondern ist ein weltliches Portrait. Da Nikolaus II. der letzte Zar war, ist er für Zaristen gewissermaßen der ewige Herrscher Russlands. Zugleich steht er für das alte, traditionelle Russland vor dem Beginn der gottlosen kommunistischen Terrorherrschaft.

    Auf dem Tisch traditionelles russisches Festgeschirr. In der Kanne dürfte Tee sein. Ostereier haben in Russland eine lange Tradition. Das hohe zylindrische Gebäck heißt Kulitsch (кулич) und ist ein Osterbrot, das obendrauf immer schön dekoriert wird. Dadurch unterscheidet es sich schon äußerlich von dem Osterbrot namens Artos (артос), das in russischen Kirchen präsentiert und am Sonnabend nach Ostern an die Gläubigen ausgeteilt wird. Die hohe Pyramide links davon ist eine Art Quarkkuchen und wird nur zum Osterfest zubereitet. Diese Spezialität, die überwiegend aus Quark besteht, hat auch den gleichen Namen wie das Fest: Pas'cha (пасха). Die Seitenwände der Pas'cha werden mit dem christlichen Kreuz (im Bild links) und den Initialen des Ostergrußes dekoriert (im Bild die rechte Seite der Pas'cha; etwas schlecht zu erkennen, weil der Dekor nur als Relief in den Teig modelliert wird). Die kyrillischen Buchstaben Х und В (in Lateinschrift: Cha und We) stehen für Христос воскресе! (Christos woskressje!) - Christus ist auferstanden!

    Auf dem folgenden Bild sehen wir das kirchliche Osterbrot Artos. Es steht auf einem kleinen Präsentiertisch, der im Russischen Analoj (аналой) und in vielen anderen Sprachen Analogion genannt wird. Das Analogion wird in der Kirche viel genutzt, meist zur Präsentation einer Ikone oder eines Buches. In der Regel wird es vor der Bilderwand Ikonostas aufgestellt. Auf dem Foto ist die Tür im Ikonostas geöffnet und gewährt einen seltenen Einblick in das Allerheiligste dahinter. Wie wir sehen, ist dieser Raum nicht besonders prächtig gestaltet, sondern wirkt eher wie ein Arbeitsraum für die Geistlichen, was er ja auch ist. Im Russischen wird dieser Raum Altar (алтарь) genannt, und der darin befindliche Altartisch (auf dem Foto rechts mit rot verkleideter Front und blauem Tuch obendrauf) Prestol (престол). Die mittlere Tür im Ikonostas ist immer zweiflügelig und wird in der russischen Kirche Königstür (Царские врата) genannt. In der "Lichten Woche" (Светлая седмица) nach Ostern steht sie immer offen und wird nicht geschlossen.

    Kolomna, Staro-Golutwin-Kloster, Wwedenskaja-Torkirche, Präsentation des Osterbrotes Artos auf dem Analogion vor der geöffneten Königstür, 20. April 2012, fünf Tage nach Ostersonntag (Foto: Lunyo, CC0)

    Auch das Staro-Golutwin-Kloster in Kolomna, hundert Kilometer südöstlich von Moskau, ist ein Beispiel für die buchstäbliche Wiederauferstehung der Russischen rechtgläubigen Kirche seit dem Sturz des Kommunismus. Das Kloster, dessen Geschichte bis ins 14. Jahrhundert zurückreicht, wurde 1929 von den Kommunisten geschlossen. Die Mönche kamen in den Gulag. Auf dem Klostergelände entstanden ein Artilleriedepot und Unterkünfte für Industriearbeiter. 1993 wurde das Kloster an die Kirche zurückgegeben. Heute gibt es dort wieder eine Mönchsgemeinschaft, dazu ein Priesterseminar. Die Klosterbauten wurden restauriert. Ich stelle dieses bemerkenswerte Kloster in einem späteren Beitrag näher vor.

    Das waren jetzt vielleicht etwas viele Erklärungen. In sowjetischer Zeit absolutes Geheimwissen. Die Kirche als Institution war zwar nie völlig verboten, durfte aber nicht öffentlich in Erscheinung treten.

  • Das Stillleben ist wunderschön, so frisch und duftig, auch der Kuchen.

    Die nächtlichen Prozession ist auch sehr beeindruckend.

    (Das musst Du nicht beantworten, aber ich frage mich oft, woher Du so viel weißt, auch so detailreich.... )

    Beauty matters!

  • Ich möchte an das zweite Bild meines vorigen Beitrags anknüpfen. Fotos der zu Ostern geöffneten Königstür sind selten. Ich habe noch Beispiele aus einer kleinen Moskauer Kirche gefunden.

    Moskau, Kirche Nikity Mutschenika na Schwiwoj gorke sa Jausoj (храм Никикты Мученика на Швивой горке за Яузой), Ikonostas mit geöffneter Königstür in einer Nebenkapelle am Ostersonntag (Foto: Krassotkin, 28. April 2019, CC0)

    Der Name der Kirche ist, wie so oft bei russischen Kirchen, recht umständlich. Sie ist dem Märtyrer (Mutschenik) Niketas (Nikita) geweiht und befindet sich auf einem Hügel namens Schwiwaja gorka, der, vom Kreml aus gesehen, hinter dem Flüsschen Jausa liegt.

    Moskau, Kirche Nikity Mutschenika na Schwiwoj gorke, Hauptraum der Kirche mit Blick zum Ikonostas. Die geöffnete Königstür gibt den Blick auf den Hauptaltar frei (Foto: Krassotkin, 28. April 2019, Ostersonntag, CC0)

    Niketas-Kirche hinter der Jausa, Blick zum Ikonostas mit geöffneter Königstür am Ostersonntag (Foto: Krassotkin, 28. April 2019, CC0)

    Es stehen mehrere Analogia im Raum. Direkt in der geöffneten Königstür ein besonderer Ständer, auf dem das Osterbrot Artos präsentiert wird. Über der Königstür die roten Initialen des Ostergrußes Х und В (Christus ist auferstanden!). Links von der Königstür- wie in russischen Kirchen üblich - eine Ikone der Gottesmutter, rechts der Königstür eine Christusikone.

    Niketas-Kirche hinter der Jausa am Ostersonntag (Foto: Krassotkin, 28. April 2019, CC0)

    Der Ikonostas ist vermutlich noch nicht sehr alt, denn die Kirche wurde, wie so viele, in den 1930er Jahren verwüstet und dann als Lagerraum genutzt (zuletzt von einer Firma für Diafilme). Immerhin verhinderten Bürgerproteste den völligen Abriss. Erste Restaurierungsmaßnahmen gab es dann in den 50er Jahren. Sie galten dem steinernen Kirchenbau von 1595. Er folgt dem Einkuppelschema. Hier ein Blick ins Gewölbe:

    Niketas-Kirche hinter der Jausa, Blick ins Gewölbe, in der Mitte die Öffnung für den Kuppeltambour (Foto: Krassotkin, 28. April 2019, CC0)

    Moskau, Niketas-Kirche hinter der Jausa von Osten. Neben der schlichten Einkuppelkirche steht der 1684-1685 errichtete Glockenturm mit Zeltdach. Drumherum Gebäude des Athos-Hofes (Afonskoje podworje), zu dem auch die Niketas-Kirche gehört

    (Foto: Gennady Grachev, 24. August 2016, CC-BY-2.0)

    Seit 1991 befinden sich die Gebäude wieder in kirchlicher Nutzung. Der Athos-Hof ist die Moskauer Repräsentanz des russischen Pantelejmon-Klosters auf dem Athos.

    Das Ensemble aus Glockenturm, Niketas-Kirche und weiteren Bauten des Athos-Hofes von Westen, über die Moskwa gesehen

    (Foto: NVO, April 2007, CC-BY-SA-3.0)

  • In meinem vorigen Beitrag aus der Moskauer Niketas-Kirche hinter der Jausa war ein typischer russischer Ikonostas zu sehen. Es gibt aber auch Ikonostase, die ganz anders aussehen, und das zum Teil an Orten, an denen man es am allerwenigsten vermuten würde. Der Fotopionier Sergej Prokudin-Gorski fand im Sommer 1909 in Belosersk ein ganz besonderes Exemplar.

    Belosersk (Белозерск), Gebiet Wologda, Spasso-Preobraschenski-Kathedrale, geschnitzter Ikonostas (Foto: Sergej Prokudin-Gorski, 1909)

    Belosersk ist eine Kleinstadt mit gerade noch achteinhalbtausend Einwohnern. Es liegt am Ufer des Weißen Sees (Beloje osero) im Gebiet Wologda. Beim Anblick der historischen Aufnahme drängt sich unwillkürlich die Frage auf, was wohl aus diesem Meisterwerk geworden ist. Der Große Terror des Jahres 1937 wütete auch in Belosersk. Die Geistlichen der Preobraschenski-Kathedrale, die bis dahin als Stadtkirche gedient hatte, wurden ermordet. Der Kirchenraum wurde aber nicht verwüstet, und der geschnitzte Ikonostas blieb erhalten. Bereits 1960 wurde die Kathedrale in einer Verordnung des Ministerrats der RSFSR zum Denkmalschutz aufgelistet. Heute gilt sie als Objekt von föderaler Bedeutung und wird vom städtischen Museum betreut.

    Belosersk, Spasso-Preobraschenski-Kathedrale, Ikonostas (Foto: Sterlady88, Juli 2017, CC-BY-SA-4.0)

    Belosersk, Spasso-Preobraschenski-Kathedrale, oberer Abschluss des Ikonostas mit dem auferstandenen Christus
    (Foto: Sterlady88, Juli 2017, CC-BY-SA-4.0)

    Der Ikonostas wird in die Zeit um 1800 datiert. Auf den ersten Blick mutet er geradezu barock und katholisch an. Bei näherem Hinsehen erweist er sich aber doch als ein Werk des russischen Klassizismus. Allerdings waren die Künstler nicht so stilsicher und europäisch geschult wie jene, die die Adelspaläste in und um Petersburg ausstatteten. Die Figuren wirken etwas naiv. Die Säulen haben korinthische Kapitelle.

    Belosersk, die Spasso-Preobraschenski-Kathedrale von Westen (Foto: Илья Ульянов, 29. Juni 2014, CC-BY-SA-3.0)

    Beim Anblick des Äußeren der Kathedrale und ihrer Umgebung käme wohl niemand auf die Idee, dass sie einen prunkvollen geschnitzten klassizistischen Ikonostas bergen könnte. Das Bauwerk wurde ungefähr zwischen 1668 und 1680 errichtet. Es handelt sich um einen verputzten Ziegelbau in "Kastenform" mit fünf großen Zwiebelkuppeln, einem ausgeschiedenen Altarraum mit drei Apsiden im Osten und einer erst im frühen 19. Jahrhundert angebauten "Vorhalle" im Westen. Die Fenster in der Fassade wurden wohl irgendwann um 1800 verändert. Im Innern des Hauptraumes gibt es vier tragende Pfeiler. Das Bauschema ist typisch für Kathedralen des 16. und 17. Jahrhunderts.

    Belosersk, die Spasso-Preobraschenski-Kathedrale von Westen (Foto: Belliy, 25. Juli 2013, CC-BY-SA-4.0)

    Belosersk, die Spasso-Preobraschenski-Kathedrale von Südosten (Foto: Дмитрий Кулаков, 7. Mai 2012, CC-BY-SA-3.0)

    Es gibt in Belosersk noch viel zu entdecken, denn die kleine Stadt ist reich an Baudenkmalen. Sicher komme ich noch einmal darauf zurück. Auch das Gebietszentrum Wologda lohnt einen Besuch. Ich möchte euch aber jetzt zu einem kleinen Sommerausflug an einen anderen See einladen, den Seliger im Gebiet Twer. Dort gibt es auf einer Insel ein berühmtes Kloster, dessen Kathedrale ebenfalls einen klassizistischen Ikonostas birgt.

    Kloster Nilo-Stolobenskaja pustyn (Нило-Столобенская пустынь), Bogojawlenski-Kathedrale, Ikonostas
    (Foto: Doomych, 5. Juli 2014, public domain)

    Die Bogojawlenski-Kathedrale wurde 1821-1833 von Meistern aus Petersburg erbaut. Hier ist alles in einem stilsicheren Klassizismus gehalten. Der Ikonostas weist wieder gemalte Ikonen auf. Die Malachitsäulen zeugen vom einstigen Reichtum dieses Klosters.

    Kloster Nilo-Stolobenskaja pustyn, Bogojawlenski-Kathedrale, Blick zum Ikonostas (Foto: Doomych, 5. Juli 2014, public domain)

    Mehr zu diesem prachtvollen Kloster in reizvoller Landschaft gibt es dann im folgenden Beitrag.

  • Im Deutschen wird der See, an dem Ostaschkow die einzige nennenswerte Stadt ist, manchmal "Seligersee" genannt. Im Russischen sagt man es immer andersherum: "See Seliger". Der Name "Seliger" (Селигер) ist so wenig deutsch wie russisch. Er ist eine Hinterlassenschaft baltischer oder finnischer Stämme, die einst in der Gegend lebten. Im 16. Jahrhundert war am Seliger und vor allem auf den vielen Inseln im See so wenig los, dass sich ein Mönch namens Nil dorthin zurückzog und auf der kleinen Insel Stolobny (Столобный) ein gottgefälliges Leben in der Abgeschiedenheit führte. So erklärt sich der Name des Klosters: Nilo-Stolobenskaja pustyn (Нило-Столобенская пустынь). Einsiedelei des Nil auf der Insel Stolobny. Nach dem Tod des Nil war es mit der Ruhe bald vorbei. Eine Mönchsgemeinschaft siedelte sich an. Das Kloster entwickelte sich zum Pilgerzentrum. In Scharen strömten die Gläubigen in die "Einsamkeit", um den Reliquien des Nil nahe zu sein. Die Kommunisten setzten dem ein Ende. Das Klostergelände wurde als Strafkolonie für Minderjährige, Lager für polnische Kriegsgefangene und andere Zwecke missbraucht. 1971-1990 war in den Gebäuden eine Touristenstation untergebracht. Das war noch die beste Nutzung, die das einst so stolze Nilow-Kloster während der Sowjetzeit erfuhr. Genauere Angaben zum Zustand der Gebäude und ihrer Inneneinrichtung am Ende der Sowjetzeit konnete ich nicht ermitteln. Doch ist die heutige Pracht zweifellos eine beeindruckende Rekonstruktionsleistung.

    Hier zunächst eine Gesamtaufnahme des Klosterkomplexes von Sergej Prokudin-Gorski aus dem Jahr 1910.

    Das Kloster Nilo-Stolobenskaja pustyn (Foto: Sergej Prokudin-Gorski, 1910)

    Auf der offiziellen Internetseite des Nilow-Klosters lesen wir zum damaligen Erscheinungsbild:

    "Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellte das Nilow-Kloster einen grandiosen Komplex dar, dessen dominierende Bauwerke die Bogojawlenski-Kathedrale und die Bischofskammern waren, doch ebenso auch die langgezogene Ufermauer aus Granit mit den Türmen Archijerejskaja und Swetlizkaja. Das Kloster hatte sein einstmals abgeschiedenes malerisches Antlitz verloren und ähnelte nun mehr einem Petersburger Stadtplatz. Bei der Schaffung dieses Erscheinungsbildes kam die entscheidende Rolle gleichermaßen der klassizistischen zentralen Kathedrale zu wie der hohen Ufermauer aus Granit. Diese langgezogene Granitwand, welche die ganze Insel umschloss, glich gewissermaßen die Baumassen der neuen Gebäude der Kathedrale und des Bischofshofs einander an. Sie "stärkte" und "festigte" das winzige Territorium der Insel. Ungeachtet der verschiedenen funktionalen, chronologlschen und stilistischen Besonderheiten bildeten alle Bauten des Nilow-Klosters einen einheitlichen und harmonischen Gebäudekomplex, der heute ein einzigartiges Architektur- und Landschaftsdenkmal von Weltgeltung darstellt."

    Quelle: nilostolobenskaia-pustyn.ru

    Übersetzung: Rastrelli

  • Nach langer Pause soll es hier nun weitergehen. Wir bleiben noch beim Nilow-Kloster, das malerisch auf einem Inselchen im See Seliger im Gebiet Twer liegt. Hier ein winterliches Vergleichsbild zu der vorangegangenen historischen Aufnahme von Sergej Prokudin-Gorski.

    Das Kloster Nilo-Stolobenskaja pustyn im Winter (Foto: Сергей Меркулов, sobory.ru, 22. Februar 2021, CC-BY-NC)

    Auch dies ist die Ansicht über die Zufahrt von Nordosten. Die hölzerne Brücke auf dem Foto von 1910 (im vorigen Beitrag) wurde durch einen Damm und eine neue Brücke in leicht veränderter Lage ersetzt. Das Eingangstor ist weiterhin der Swetlizkaja-Turm von 1863. Hinter diesem ragt die 1821-1833 errichtete Bogojawlenski-Kathedrale auf.

    Im Winter ist der flache See im Umkreis der Insel Stolobny meist zugefroren und von Schnee bedeckt, was seinen ganz besonderen Reiz hat. Es folgen zwei Aufnahmen bei schönem Winterwetter. Erst eine Ansicht der Nordseite (auf das Foto oben bezogen ist das rechts), dann der Blick von Osten, in Richtung der entschwindenden Abendsonne.

    Das Kloster Nilo-Stolobenskaja pustyn, Ansicht über den zugefrorenen See von Norden. (Foto: Olga1969, 25. März 2016, CC-BY-SA-4.0)

    Das Nilow-Kloster, Ansicht über den zugefrorenen See von Osten (Foto: Olga1969, 24. März 2016, CC-BY-SA-4.0)

  • Diese Ansicht ist so schön. Da gehen wir noch etwas näher heran.

    Das Kloster Nilo-Stolobenskaja pustyn, Ansicht über den zugefrorenen See von Osten. Die Bauten sind links die Bischofskammern (fertiggestellt 1838), dann die turmartige Torkirche Nila Prepodobnogo (1751-1755), davor der Bischofsanleger (1813-1814), rechts dann die Bogojawlenski-Kathedrale (1821-1833) (Foto: Olga1969, 24. März 2016, CC-BY-SA-4.0)

    Der kleine Torbau, der die Anlegestelle für das Boot des Bischofs markiert, steht direkt am Wasser, noch vor der granitenen Ufermauer. Zum Fest der Taufe Christi steigen die Mönche in der Nacht zum 19. Januar durch die Torkirche des hl. Nil zu dem Anleger hinab und begeben sich aufs Eis. Hier einige Aufnahmen von der diesjährigen Großen Wasserweihe mit dem Metropoliten von Twer und Kaschin, Amwrossi (Амвросий).

    Prozession an das Ufer des "Jordan" (Foto: nilostolobenskaia-pustyn.ru, 19. Januar 2022, CC-BY-NC)

    Metropolit Amwrossi liest aus dem Evangelium. Er steht auf dem zugefrorenen See, rechts im Hintergrund der Swetlizkaja-Turm

    (Foto: nilostolobenskaia-pustyn, 19. Januar 2022, CC-BY-NC)

    Metropolit Amwrossi schöpft Wasser aus dem "Jordan". Im Hintergrund der Teppich der vorangegangenen Lesung, dahinter der Bischofsanleger, rechts die Kathedrale (Foto: nilostolobenskaia-pustyn, 19. Januar 2022, CC-BY-NC)

    Um an das Wasser zu gelangen, musste Eis herausgeschnitten werden. Der christliche Fernsehsender "Spas" filmt die große Wasserweihe

    (Foto: nilostolobenskaia-pustyn, 19. Januar 2022, CC-BY-NC)

    Hinter dem Bischofsanleger die Torkirche des hl. Nil, links die Bischofskammern (Foto: nilostolobenskaia-pustyn, 19. Januar 2022, CC-BY-NC)

    Metropolit Amwrossi besprengt die Umgebung mit dem kostbaren Nass (Foto: nilostolobenskaia-pustyn, 19. Januar 2022, CC-BY-NC)

    Auch der Fotograf des Klosters bekommt was ab (Foto: nilostolobenskaia-pustyn, 19. Januar 2022, CC-BY-NC)

    Nach getaner Arbeit gibt Amwrossi, Metropolit von Twer und Kaschin, der Reporterin des Senders "Spas" ein Interview. Im Hintergrund ein Kreuz, gefertigt aus den herausgeschnittenen Eisblöcken (Foto: nilostolobenskaia-pustyn, 19. Januar 2022, CC-BY-NC)

  • Was für ein grandioses Thema, einen ganz herzlichen Dank dafür!

    Ich habe viele Jahre im Russischen Chor der Universität Freiburg gesungen, und konnte auf einer einmonatigen Exkursion während des Studiums nach St. Petersburg und auf die Kola-Halbinsel einen (wenn auch nur kurzen) Eindruck von Land und Leuten gewinnen.

    Vielen Dank für die Erläuterungen zu den Prokudin-Gorski-Bildern, die ja tatsächlich etwas von einer Zeitmaschine-Ausstrahlung haben, v. a. vor dem Hintergrund, daß nur wenige Jahre später sehr vieles davon zu Klump geschlagen würde. Daß es, grob gesagt, das Christentum durch die dunklen Jahrzehnte geschafft hat, und ihm in Rußland vielleicht eine längere Existenz beschieden sein mag als hierzulande, sei kurz erwähnt, aber hier nicht weiter vertieft.

    In Zusammenhang damit schriebst Du: "Nach traditioneller russischer Auffassung soll eine Kultur nicht losgelöst von den Menschen, die sie tragen, und von der Landschaft, in der sie sich entwickelte, betrachtet werden." Dem ist vorbehaltlos zuzustimmen.

    „Groß ist die Erinnerung, die Orten innewohnt“ - Cicero