Mehr als die vielgezeigten Bilder vom brennenden Dachreiter, die manche Journalisten an die Twin Towers in New York erinnert haben dürften, hat mich der Blick in das zerstörte Langhaus mit der Pieta auf dem Hochaltar berührt, gerade mit Blick auf die Karwoche und Ostern.
Ein mittelalterlicher Theologie hätte vermutlich auf der Grundlage des allegorischen und anagogischen Schriftsinns folgende Gedanken entwickelt.
Zwischen Maria, der Patronin von Notre Dame, die ihren toten Sohn auf dem Schoß hält, und dem zerstörten Kirchenbau existiert eine tiefe gedankliche Beziehung.
Bei der Austreibung der Händler aus dem Jerusalemer Tempel zu Beginn der Passionszeit sagt Jesus, er könne den Tempel in drei Tagen wiedererrichten. Damit meinte er laut Johannesevangelium (2,19-22) seinen eigenen Leib, den wahren Tempel Gottes, der am dritten Tag wieder auferstehen werde.
Auf der Grundlage dieser Bibelstelle hat das Mittelalter den Kirchenbau mit dem Leib Christi gleichgesetzt. Die ausgebreiteten Arme entsprachen dem Querhaus, der (oftmals schräg angefügte) Chor dem beim Tod zur Seite geneigten Haupt des gekreuzigten Christus.
Verstärkt wurde die Analogie von Kirchenbau und Leib Christi durch weitere Bibelstellen. Der erste Petrusbrief (2, 4-9) spricht von den Gläubigen als den "lebendigen Bausteinen" der Kirche, die ihrerseits den mystischen Leib Christi bilden, und von Christus als dem Eckstein.
Daher versinnbildlicht in der gotischen Kathedrale der Schlussstein auch Christus; die Gewölberippen sind Versteinerungen des von Christus ausgehenden Lichts. Die Säulen, auf die die Rippen in Verlängerung durch die Dienste treffen, stehen für die Apostel als die columnae ecclessiae ( = Säulen der Kirche).
Nicht zuletzt wird der gotische Kathedralbau mit dem Haus gleichgesetzt, das sich die göttliche Weisheit erbaut hat (Sprüche 9, 1). Christus ist dieses Haus der Weisheit.
Vergegenwärtigt man sich nun, dass die von Nicolas Coustou geschaffene Hochaltargruppe in Notre-Dame eine Pieta darstellt, so blickt Maria, die Patronin dieser Kathedrale, gleich zweimal auf den geschändeten Leib ihres Sohnes: einmal in Gestalt des physischen Leibes auf ihrem Schoß, einmal in Gestalt des zerstörten architektonischen (Bau-)körpers.
Wenn Christus nun in der Osternacht (wo die Entzündung des Osterfeuers die Finsternis des Todes vertreibt) auferstanden ist, so ist im Glanz dieses himmlischen Feuers auch das durch irdisches Feuer zerstörte Kirchengebäude mit auferstanden. Sprich: der Sakralbau hat auch eine metaphysische Dimension, die unzerstörbar ist.
Ein ähnliches, im Mittelalter gleichfalls beliebtes Bild, ist der Phoenix, der aus der Asche neugeboren aufsteigt.
Das uns dies nicht mehr geläufig ist, bedeutet einen Verlust nicht nur an Poesie, sondern auch an architektonischer und bildkünstlerischer Inspiration, ganz gleich, ob man persönlich glaubt oder nicht.
Die modernen Architekten jedenfalls, die für den Wiederaufbau von Notre-Dame so schwachsinnige Pläne vorlegen, haben sich von diesem Denken Lichtjahre entfernt.