Befreiung vom Rechteckzwang

  • Folgende Frage möchte ich in den Raum werfen: Warum gibt es bei zeitgenössischer Architektur ein geradezu zwanghaftes Vermeiden von Rundungen und organischen Formen? Wieso dominieren überall Raster und rechter Winkel? Muss Architektur wieder "weiblicher" werden, um unsere Sinne anzusprechen? Wäre dies eine Option für eine neue Moderne?

    In dubio pro reko

  • Das liegt z.T. am zeichnen per Computer. Dort ist es viel einfacher gerade Linien zu zeichnen als gekrümmte Flächen. Ich würde fast behaupten, dass nur größere Büros das entsprechende Know How haben um detailierte Gebäude mit runden Formen am Computer zu entwerfen. Das geht per Hand viel leichter.
    Auch was die vernetzung von Software mit den verschiedensten Gewerken/ Behörden angeht, sind uns die Chinesen z.T. um Jahre vorraus. Da ist Deutschland wie immer Schlusslicht (Neuland).

  • Vorallem das Dogma der heutigen Architekten des (vermeintlichen) Funktionalismus, wonach nur die Funktion des Gebäudes wichtig sei, egal wie es aussieht, ist ausschlaggebend. Aber auch die heutige Sicht auf "Kunst" und "Kreativitäöt" spielt eine gewisse Rolle, da ja Geschmack nach deren Meinung etwas "Persönliches" sei und daher nicht wichtig für die Entscheidung, wie ein Haus aussehen soll.

  • Naja auch in der Praxis sind Winkel, vorzugsweise rechte Winkel, viel leichter herzustellen. Man denke nur an das obligatorische zurechtschneiden von Dämmstoffplatten und das flächige Aufkleben auf ebene Fassaden. Damit eine Rundung herzustellen ist mindestens aufwändiger, wenn nicht teurer. Zudem besteht die optimale Ausnutzung von Grundstücksgeometrien und Abstandsflächen stehts in rechteckigen Flächen. Das man mit einem Kreis viel mehr Rauminhalt umschließen kann, und ein kreisförmiger Grundriss demzufolge auch der energieeffizienteste und materialsparendere sein muss, spielt halt in der Praxis keine Rolle, denn Material kostet wenig im Vergleich zu technischem und handwerklichem Aufwand, und man kann auch nur Flächen verkaufen.

    Trotzdem fällt es tatsächlich negativ auf, kaum ein neubau hat Segmentbogenfenster oder -türen, es gibt keine geschweiften Giebel mehr, oder abgerundete Hausecken. Die Hälfte des Formenbaukastens fällt damit schonmal weg.

  • ...Aber auch die heutige Sicht auf "Kunst" und "Kreativität" spielt eine gewisse Rolle, da ja Geschmack nach deren Meinung etwas "Persönliches" sei und daher nicht wichtig für die Entscheidung, wie ein Haus aussehen soll.

    Und selbst wenn es gestaltende Gesetze gibt, wie in Brandenburg (ich zitiere mal meine Signatur):

    "Brandenburgische Bauordnung
    § 8
    Gestaltung
    (1) Bauliche Anlagen sind nach den anerkannten Regeln der Baukunst durchzubilden und so zu gestalten, dass sie nach Form, Maßstab, Verhältnis der Baumassen und Bauteile zueinander, Werkstoff und Farbe nicht verunstaltet wirken.
    (2) Bauliche Anlagen sind mit ihrer Umgebung derart in Einklang zu bringen, dass sie das Straßen-, Orts- oder Landschaftsbild nicht verunstalten oder deren beabsichtigte Gestaltung nicht stören."

    ... so werden diese doch nicht angewandt.

    Wenn diese eine irgendwie geartete Gestaltung mit Umgebungsbezug fordern, dann sagen die zuständigen Ämter "Wie soll ich das bewerten? Schönheit ist nicht bewertbar."

    Natürlich ist Schönheit -auch objektiv- bewertbar. Wenn man denn die über Jahrhunderte erlernten Gestaltungsgrundsätze nicht ab den 1920ern über Bord geworfen hätte und nicht weiter an dieser Verneinung krampfhaft festhalten würde...

    Und wenn es eine "oberste" Instanz gäbe, die
    - einen gestalterischen Grundsatz formuliert und
    - bei Fehlgriffen mit regulierender Hand eingreifen würde.

    Ich fürchte mittlerweile sogar, dass gebaute äußere Schönheit immer mit absolutem Machtanspruch in der Gesellschaft zu tun hat. Mit anderen Worten: je demokratischer eine Gesellschaft, desto hässlicher deren Städte.
    Das generisch bauende Individuum vermag es grundsätzlich nicht, über die wenigen inneren Quadratmeter einen eigenen Gestaltungswillen auch auf die äußeren Quadratmeter der von allen sichtbaren Wände auszuüben. Sei es aus finanzieller Hinsicht oder auch aus bewusstem Willen, um sich nicht abzugrenzen und über die tumbe Masse zu erheben. Um eins zu sein, in der Masse um ja nicht aufzufallen und Zielscheibe zu werden. Da werden dann höchstens noch die inneren Wände den eigenen Gestaltungsansprüchen unterworfen.

    Beispiel: ohne den Schweizern jetzt zu nahe zu treten, aber wer empfindet deren Großstädte als besonders schön?

    Grüße
    Luftpost

    3 Mal editiert, zuletzt von Luftpost (28. November 2018 um 09:31)

  • Tatsächlich ist mir schon mal aufgefallen, dass wenn heutzutage Rundungen eingebaut werden, es sich häufig um Glasfassaden handelt. Glasfassaden sind ohnehin schon sehr teuer und wenn man eine solche baut, macht eine Rundung den Kohl auch nicht mehr so fett. Siehe im Hochhausbau. Ich glaube es liegt heute wirklich unter anderem vor allem an der Dämmung.

  • Vorallem das Dogma der heutigen Architekten des (vermeintlichen) Funktionalismus, wonach nur die Funktion des Gebäudes wichtig sei, egal wie es aussieht, ist ausschlaggebend. Aber auch die heutige Sicht auf "Kunst" und "Kreativitäöt" spielt eine gewisse Rolle, da ja Geschmack nach deren Meinung etwas "Persönliches" sei und daher nicht wichtig für die Entscheidung, wie ein Haus aussehen soll.

    Das ist gerade das Lustige: Die Heutigen Bauten sind nicht Funktional. Ein Beispiel: Der Berliner Flughafen.
    Um einen Glas-kasten zu bekommen werden die zahlreichen Luftschaechte durch den Keller abgeleitet. Auch die Notentrauchung im Falle eines Feuers. Bei Strohmausfall aber zieht der warme Rauch nach oben ab. Deshalb wurde der fertige Flughafen ja nicht in Betrieb genommen. Der Flughafen brauchte dadurch mehr Strohmkabel, die nachtraeglich zu eng beieinander gelegt wurden. Ueberspitzt formuliert: Fuer die Estetik eines Glaskastens wurde die Sicherheit der Menschen geopfert. Vom Geld reden wir mal gar nicht, da die heisse Luft mit extra Technik gegen die Naturgesetze nach unten durch den Keller gedrueckt werden soll. Der Estetik willen!
    Frech von mir behauptet: Waere der Fluhafen in Barok gebaut, mit Waenden um Technik dahinter zu verstecken, waere er schon im Betrieb!

  • Ich stimme zwar zu, dass Rundungen der programmierten Langeweile der funktionalistischen modernen Architektur etwas abmildern können, ich denke aber nicht, dass das Rechteck als Grundform das Hauptproblem ist.

    Betrachten wir doch mal ein paar Beispiele moderner Architektur, wo mit Rundungen gearbeitet wurde:


    (Berlin)


    (Moskau)


    (Baku, Aserbaidschan)

    Alle drei Beispiele sind zweifelsohne besser als die allseits bekannte Schuhkarton-Optik, aber in meinen Augen weit entfernt von gelungener Architektur. Das monströse, abweisende, unmenschliche, sterile dieser Bauten wird auch mit den eingesetzten Rundungen nicht geschmälert.

    Letztendlich halte ich das Fehlen von Details und Abwechselung, Fassadenschmuck und kleinteiliger Bauweise für wesentlich schädlicher für ein Bauwerk als eine rechteckige Grundform.

  • Ich stimme zwar zu, dass Rundungen der programmierten Langeweile der funktionalistischen modernen Architektur etwas abmildern können, ich denke aber nicht, dass das Rechteck als Grundform das Hauptproblem ist.

    - Zustimmung!

    Auch die Architektur vor 1914 ist weitestgehend durch den rechten Winkel bestimmt. Abweichend zu heute gab es aber keine "Diktatur des Flachdaches", keine Denkverbote bezüglich Dekoration, und ganz allgemein wurden Bauten meist vertikal statt horizontal gegliedert. Harmonische Proportionen waren ein "Muß", während heutigen Architekten diesbezüglich offenbar keine Kenntnisse mehr vermittelt werden. Weiterhin wurde bei der Gestaltung von Gebäuden darauf geachtet, dass sowohl aus größerer Distanz wie aus unmittelbarer Nähe dem Betrachter ein harmonisches Bild geboten wird - anders als heute, die Fußgängerperspektive wird von der Moderne weitgehend missachtet. Bei städtischer Bebauung wurde der Nutzung und der Gestaltung der Erdggeschosszone besondere Beachtung zu Teil, während heutige Bauten meist in sich monofunktional und ebenenübergreifend einheitlich gestaltet sind. Last but not least, wurde früher ganz selbstverständlich der bauliche Kontext berücksichtigt, während die Moderne vom Solitär ausgeht.

    Ich kann zudem nicht erkennen, dass die Moderne dem Anspruch "Form follows Function" mehr gerecht würde, als ältere Architekturstile. Flachdächer sind in einem regenreichen Klima nicht funktional, sondern nur mittels aufwändiger Technik und unter Inkaufnahme von Wartungsaufwand realisierbar. Glasfassaden schaffen ernorme Probleme bezüglich übermässigem Wärmeeintrags über Tag und Wärmeverlusts in der Nacht. Und warum soll Dekoration bitte sehr nicht funktional sein? Das Wohlgefühl der Nutzer und Passanten ist schließlich auch eine wesentliche Funktion, oder etwa nicht?