Der Klang unserer Dörfer und Städte - Glocken

  • Hallo liebe Mitglieder sowie Leser/-innen von außerhalb,

    vielleicht passt dieses Thema nicht 100%ig in dieses Forum, allerdings finde ich, dass unsere Dörfer und Städte nicht nur ausschließlich durch ihre Gebäude, sondern auch durch bestimmte Musikinstrumente geprägt werden, denen in heutiger Zeit nur wenig Aufmerksamkeit - im Regelfall nur noch dann, wenn es um Lärmbelästigung geht - geschenkt wird. Es geht um Glocken. Seien es nun Kirchenglocken, Kapellenglocken oder Glockenspiele: in jedem Dorf und in jeder Stadt, wo mindestens eine Kirche zu finden ist, ist der Klang von Glocken fast tagtäglich zu hören. Dieses Kulturgut droht nun nach und nach zu verfallen. Vielerorts müssen die Stundenschläge nachts abgeschaltet werden, weil sich Zugezogene dadurch belästigt fühlen oder vermeintlich psychisch krank (sic!) werden. Aber auch die vielen Kirchenschließungen, die schon vollzogen worden sind und auch in Zukunft noch passieren werden, geben ihr Übriges dazu. Der Klang von Glocken verschwindet also. Nach und nach und kaum merkbar...

    Kaum jemand weiß, was für Schätze teilweise in den Kirchtürmen hängen. Mehr als 500 Jahre alte Glocken lassen sich gar nicht so selten finden, wie man vielleicht zuerst glauben mag. Fast alle historischen Glocken sind auch ihrer Entstehungszeit entsprechend verziert. Dies können wahlweise gotische Palmettenfriese oder barocke Akanthusfriese sein, aber auch Pilgerzeichen oder Heiligenreliefs. Insofern sind alte Glocken nicht nur musikalisch interessant (weil wir heute noch sozusagen Musik aus dem tiefen Mittelalter im Prinzip genau so hören können, wie die Menschen damals), sondern auch Kulturgut im Sinne der alten Kunst! Kann man das denn so einfach sang- und klanglos aufgeben?

    Mich persönlich interessiert, wie ihr zu diesem Thema steht. Glaubt ihr, dass der Glockenklang verzichtbar ist - und wenn ja, wieso? Oder gehört er doch als fester Bestandteil zu unserem Alltag und sollte daher nach Möglichkeit irgendwie erhalten bleiben? Habt ihr diesbezüglich schon gute bzw. schlechte Erfahrungen gemacht?

    Für mich gehört das Läuten von Glocken definitiv als ein fester Bestandteil unserer Kultur, unserer Geschichte und unserer Städte zum Alltag und somit auch zum Leben dazu. Nicht umsonst fing ich schon im Alter von drei Jahren an, mich für das "Mysterium Glocke" zu interessieren...

    Ich freue mich auf eine spannende und interessante Diskussion mit euch!

    Kultur ist der Sieg der Überzeugung über die Gewalt. - Platon

  • Hallo Orgelmacher,

    ein schönes Thema hast du hier platziert und die Leidenschaft liest man leicht heraus. Ich bin vom Haus aus interessiert, da meine Frau aus Gescher-, genannt "die Glockenstadt", kommt. In der kleinen Gemeinde im Westmünsterland werden noch heute Glocken gegossen, nahe an der Gießerei ist zudem ein Glockenmuseum. Dort wurde unter anderem auch die Glocke für den Weltjugendtag in Köln gegossen. Zum Glockengeläut kann ich sagen, dass es für mich zu jeder abendländischen Gemeinde dazugehört und ich es sehr befremdlich finde, wenn sich jemand daran stört. In Städten wie Münster mit seinen vielen Kirchen hört man auch immer wieder davon, wie sich frisch in die Altstadt gezogene wohlbetuchte über den Lärm beschweren. Ich wohne in der Stadt und mags.

  • Gestern habe ich zufällig auf einem Kalenderblatt den Spruch gelesen, der auf einer Glocke angebracht sein soll und der mir gut gefallen hat:

    Die Lebenden ruf ich,
    die Toten beklag ich,
    Blitze zerteil ich.

    Nach meinem Empfinden ist der Klang der Kirchenglocken eine Verbindung aus der Zeit hinüber in die Ewigkeit. Kirchenglocken werden, soweit mir bekannt, noch heute nachmittags um 3 Uhr/15 Uhr gegossen, also zur Todesstunde Jesu. Noch heute bete ich mittags, wenn es 12 Uhr läutet, das Angelus-Gebet, also den "Engel des Herrn". Das habe ich fast mein ganzes Leben lang so gehalten und werde es wohl auch weiterhin tun.

  • Bei mir in der Nähe (Keferloh) gibt es eine Zuckerhutglocke aus dem 13. Jahrhundert, die vermutlich kaum jemand kennt. Ich habe sie bisher ein einziges Mal erklingen hören - am Patronatstag der Kirche auf meine Bitte hin.

    Die Münchener Region besitzt eine Vielzahl historisch bedeutender Glocken und Geläute, neben dem sehr wertvollen Geläut der Frauenkirche seien vor allem die zwei sehr guten Glocken der Pippinger Wolfgangskirche zu erwähnen, beide 1485 von Ulrich von Rosen gegossen, und immer noch im originalen Eichenglockenstuhl (erstaunlicherweise überlebten sie den Brand der Kirchturmspitze nach Blitzschlag 1794). Und in der Frauenkirche hängt sogar eine kleine Glocke des 14. Jahrhunderts quasi auf Augenhöhe der Besucher, die Chorherrenglocke im nördlichen Seitenschiff - sie erfährt leider in etwa so viel Beachtung wie das Grabmonument des Conrad Paumann (dieser tolle Fußabdruck ist ja sooo viel interessanter).


    Ältere Glocken, aus dem 13. Jahrhundert und früher sind aber meines Wissens recht selten im Umkreis von München. Neben der oben genannten Keferloher Glocke fällt mir sonst nur die Gilchinger Arnoldusglocke ein (eine Zuckerhutglocke aus dem späten 12. Jahrhundert), die mittlerweile im Kirchenschiff hängt.

    Daher ist es umso bedauerlicher, dass beide Glocken nicht mehr regelmäßig erklingen.

    Einmal editiert, zuletzt von Mündener (21. November 2018 um 22:20)

  • Ein wunderbares Thema Orgelmacher! Zum einen sind Glocken für mich neben der Architektur etwas ganz essentielles zum sinnlichen Wahrnehmen eines Ortes. Etwas was dem Ort zusätzlichen Charakter verleiht. Und allem voran rufen sie zur höheren Ehre Gottes zu Gebet und Andacht zu freudigen und traurigen Anlässen und führen und begleiten die Menschen dadurch auch ein Stück weit.

    Schon als Kind mochte ich diesen mächtigen und zugleich sanften Klang. Und auch heute bemühe ich mich, wenn ich eine für mich neue Stadt erkunde, mindestens einmal auch ein (Fest-)Geläut einer Kirche dort gehört zu haben.

    Bei mir daheim wurde letztes Jahr der Glockenstuhl saniert und im einen Turm ein Stahlgestell durch ein Holzglockenstuhl ersetzt. Seitdem klingen die Glocken noch "sanfter".
    Diesen Glockenklang kenne ich, seit ich ein kleines Kind war und obwohl ich ihn schon tausende von male gehört hab, bekomme ich jedes mal wieder Gänsehaut von diesem (für das kleine Städchen) so wuchtigen Klang. Die kleinen (historischen) Glocken, die fast auf diesen vollen, atmosphärischen Grundtönen (Schillingglocken!) zu tanzen scheinen. Die großen Glocken haben tatsächlich etwas von Ewigkeit für mich. Aber gut, jeder nimmt das anders wahr. :) .

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    https://www.youtube.com/watch?v=WX4cXC…player_embedded (ab 14:45 fängt das Vollgeläut an)

    Ich hör immer mal wieder Glockenaufnahmen auf Youtube, dort gibt es ja eine sehr spezielle "Szene" von "Glockenjägern" :D , die jede Abweichung vom Soll kommentieren :lachentuerkis: .

    Man findet dort mittlerweile auch sehr viele Videos aus Spanien, Italien, den Niederlanden, Großbritannien, Frankreich und dem orthodox geprägten Osteuropa, wo man überall eine sehr eigene spezifische Glockenkultur pflegt (insbesondere in England, wo noch vielerorts per Hand geläutet wird). Aber keine Glockenlandschaft kommt für mich vom Klang her an die mitteleuropäische heran mit ihren meistens gut gewarteten, frei schwingenden, volltönenden Glocken. In südlicheren Ländern hören sich Glocken oft etwas "blechern" an. In England sind viele Glocken industriell gefertigt, und in Stahlstühlen aufgehängt werden sie in einer bestimmten Reihenfolge geläutet.
    Auch das alles ist sehr charakteristisch und trägt auch dort zur Identität der Orte bei, hierzulande könnte ich mir das aber nicht vorstellen, und wahrscheinlich umgekehrt genauso.

    Besonders gefreut habe ich mich, als ich vor kurzem die Nachricht vernahm, dass der letzte Glockengießer Bayerns seine Arbeit wieder aufgenommen hat (Fa. Perner in Passau, für mich einer der besten Glockengießer), nachdem es vor einigen Jahren noch so ausgesehen hat, als ob er (auch nach eigenem bekunden) den Glockenguß für immer einstellen wollte:

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    Etwas ganz besonderes ist noch dieses Geläut, das selbst viele Münchner nicht kennen: Ein Kumpel von mir wohnt in Giesing direkt gegenüber den Templern (Archiconvent der Templer) mit Balkon direkt auf den Turm gerichtet, wenn da zu manchen Feiertagen voll geläutet wird, zittern die Gläser auf dem Tisch, muss man mal live erlebt haben :lachentuerkis: :

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    https://www.youtube.com/watch?v=Ka5ncd…player_embedded

    Momentan wohne ich ja im Europaviertel in FFM, mein Balkon ist direkt auf diese Kirche gerichtet. Ich konnte nicht glauben, dass das Stahlglocken sind, die in 90% aller Fälle wirklich nicht schön anzuhören sind, weil sie oft sehr "blechern" klingen, hier aber: ein Traum.

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    Um deine Frage zu beantworten: für mich sind Glocken ein ganz essentieller Bestandteil unserer christlichen geprägten Kulturlandschaften und sollte daher unbedingt erhalten bleiben, auch dort wo man sie vermeintlich nicht mehr benötigt. Mir tut es jedes mal weh wenn ich mitbekomme, dass wieder eine Kirche im Ruhrgebiet abgerissen wird. Nicht wegen der Architektur, die ist meistens 50er/60er Jahre Schrott, sondern zum einen wegen der Erosion des Christentums und eben genau wegen des Glockenklangs, der dort nicht mehr zu hören sein wird (mal ganz abgesehen von dem emotionalen Verlust des Gotteshauses für die übrig gebliebenen Gemeindemitglieder).

  • Á propos Stahlglocken, lieber thommystyle, hier eine kleine Kostprobe von dem, was man aus Stahl noch so gezaubert hat:

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    :)

    Definitiv bislang das qualitativ beste Stahlgeläut, was ich live gehört habe!

    Kultur ist der Sieg der Überzeugung über die Gewalt. - Platon

  • Lieber Orgelmacher,

    da haben Sie ein wirklich erhebendes und bewegendes Thema eröffnet, daß uns Allen hier im Forum sicherlich noch einige unerwartete 'Entdeckungen' bescheren wird.

    Anbei die Simulation eines gewaltigen Geläuts aus Berlin-Charlottenburg:

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    Das muß man bis in den Grunewald und bei guter Windlage sogar bis nach Glienicke und Potsdam haben hören können...

    Hier noch ein Bild von der Ostentation der Glocken der Gedächtniskirche im Jahre 1895 vor dem Denkmal Friedrichs des Großen, Unter den Linden:

  • Guten Abend Pagentorn!

    Ja, das ehemalige Geläut der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche war sicher beeindruckend. Es war jedenfalls laut genug, dass die Tiere im benachbarten Zoo, sobald es läutete, dadurch in Rage gerieten.

    Weitaus bescheidener, dafür aber sicher um einiges klangvoller, ist dafür das "neue" Geläut ausgefallen, das 1960 von der Glocken- & Kunstgießerei Gebr. Rincker in Sinn gegossen wurde. Anfangs plante man ja, wieder ein Geläut bei der Firma Schilling in Apolda zu bestellen, die auch das alte Geläut gegossen hatte, allerdings zerschlugen sich diese Pläne aufgrund der politisch schwierigen Lage zwischen Ost und West in dieser Zeit. Auch wurde sogar ein monumentales Stahlgeläut in Erwägung gezogen, man entschied sich dann aber (glücklicherweise) für die kleinere und, wie ich finde, im Endeffekt schönere Variante aus Bronze.

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    In Kombination mit der hervorragenden Turmakustik ist dieses Geläut eines der schönsten seiner Art in Deutschland.

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  • Campanologen können übrigens nicht nur bei Youtube, sondern auch in der klassischen Cineastik fündig werden:

    Hier die - wie ich finde - ergreifenste Inszenierung einer Glocke in der Filmgeschichte. In dieser kommt der damals noch ungebrochene Optimismus der Europäer, ihr weltumspannendes Denken und die Würde ihrer Traditionen sehr trefflich zur Geltung:

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    Und hier wird die gänzlich andere Läuttechnik der russischen Tradition auf etwas humoristische Art, dargestellt:

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  • Während meiner Zeit in Erfurt habe ich einige Male die Gloriosa leuten hören. Das ist schon ein erhabenes Gefühl. An und für sich ist man Glockenläuten ja gewohnt. Aber bei der Gloriosa haben die Leute schon meist registriert, dass das etwas Außergewöhnliches ist.

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  • Á propos Stahlglocken, lieber thommystyle, hier eine kleine Kostprobe von dem, was man aus Stahl noch so gezaubert hat:

    Definitiv bislang das qualitativ beste Stahlgeläut, was ich live gehört habe!

    Ach die Heinrichskirche hat auch ein Stahlgeläut! Das wusste ich gar nicht. Ich kenne die Kirche selbst noch aus meiner Studienzeit in Bamberg. Ein sehr imposantes Geläut! :) Da darf man gespannt sein was gemacht wird, wenn dort die ersten größeren Mängel auftauchen, was bei Stahlglocken ja anscheinend im Vergleich zu Bronzeglocken relativ schnell geht. In der Beschreibung steht, das es "das umfangreichste Gussstahlgeläut Deutschlands" ist, was ja dann durchaus an sich schon einen Denkmalcharakter begründen würde.

  • Das mit den Stahlglocken ist so eine Sache... Durch viele Glockensachverständige wird noch heute das Ammenmärchen verbreitet, dass Stahlglocken maximal 100 Jahre halten und dann aufgrund von Rostschäden stillgelegt werden müssen. Dem ist nicht so! Hier muss man klar zwischen Stahl- und Eisenhartgussglocken unterscheiden, wovon letztere tatsächlich bei ungenügender Pflege Gefahr laufen, den Turm auf unübliche Art und Weise zu verlassen...
    Möchte man jedoch ein Stahlgeläut aufgrund seiner schlechten musikalischen Eigenschaften durch ein Bronzegeläut ersetzen, dann ist das wiederum in einigen wenigen Fällen nachvollziehbar (gerade um die sogenannten "Oktavglocken" des Bochumer Vereins aus den 1930er- und 1940er-Jahren, die einen sehr dissonanten Sekundschlagton aufweisen, ist es im Regelfall nicht schade).
    In meiner Heimatregion gab es vor einigen Jahren einen Fall, genauer gesagt in Waldfeucht-Haaren, wo der zuständige Glockensachverständige des Bistums Aachen der Kirchengemeinde dazu geraten hat, ihr originales Stahlgeläut von 1890 (!) gegen ein gebrauchtes 08/15-Bronzegeläut austauschen zu lassen. Auch hier wurde das Argument der begrenzten Lebensdauer gebracht sowie behauptet, dass keine eindeutige Tonfolge erkennbar gewesen sei (obwohl der Es-Dur-Sextakkord mehr als deutlich zu vernehmen war). Trotzdem sollte dieses angeblich so schlechte Geläut dann gut genug für eine Kirchengemeinde in Afrika gewesen sein. Zwischen den beiden Parteien fanden wohl schon Verhandlungen statt. Jedenfalls habe ich damals davon Wind bekommen und die Denkmalbehörde eingeschaltet, die umgehend reagierte und das Geläut als einen Teil der Originalausstattung der Kirche ebenfalls unter Denkmalschutz stellte. Es wurde dann schließlich der Kompromiss gefunden, das "neue" Geläut trotzdem einzubauen, da es schon gekauft war, und die kleinste der Stahlglocken läutbar im Turm zu behalten, während die beiden großen Stahlglocken nun unterhalb der eigentlichen Glockenstube hängen und zumindest angeschlagen werden können.
    Die Zahl von Stahlgeläuten, auch von besonders alten, wird auch in den kommenden Jahren weiter sinken, da hier einfach Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen betrieben werden. Der historische Wert spielt dabei keine Rolle - ist ja "nur" Stahl...

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  • Danke für deine Ausführungen Orgelmacher! Das mit den Stahlglocken wusste ich so nicht. Ich bin generell davon ausgegangen, das diese eine minderwertige Qualität besitzen, zumal man relativ häufig liest, daß diese und jene Gemeinde nun ihr Stahlgeläut austauschen lässt, weil es an das Ende der Lebensdauer gekommen ist und klanglich ungenügend sei. Bei mir daheim in einem Nachbarort gibt es auch ein größeres Stahlgeläut das recht scheppert, das hat mein Vorurteil dann auch noch bestätigt. Wenn - wie du es beschrieben hast - dann das Geläut schon so alt ist und zur original Kirchenausstattung gehört, dann ist es mEn unbedingt erhaltenswert. Erst recht wenn es dann vom Klang gar nicht so schlecht ist wie in Bamberg oder in Frankfurt/Gallus. Und bei klanglich nicht so guten könnte man dann evtl nochmal nachhelfen/optimieren beim läuten und den Armarturen und evtl mit Bronzeglocken ergänzen, um ein befriedigendes Klangbild zu bekommen.

  • Wenn man den Klang eines Stahlgeläutes verbessern möchte, dann reichen im Regelfall nur neue Klöppel aus. Aus meiner Erfahrung weiß ich, dass sowohl Holzjoche als auch Holzglockenstühle keine nennenswerte Verbesserung des Klanges (bei großen Glockenstuben ist davon sogar abzuraten!) mit sich bringen und somit eigentlich nur aus ästhetischen Gründen sinnvoll sind.
    Die Ergänzung mit Bronzeglocken hingegen ist problematisch, da Stahlglocken im Verhältnis zu Bronzeglocken viel lauter sind und man somit keine musikalisch ausgeglichene und klangcharakteristische Einheit des gesamten Geläutes erzielen kann. Insofern wäre eine Ergänzung aus "Stahl zu Stahl" am sinnvollsten. Auch wenn seit 1970 keine Stahlglocken mehr gegossen werden (die letzten beiden Exemplare hängen im pfälzischen Colgenstein), so gibt es aktuell doch Planungen, die Herstellung von Stahlglocken wieder aufzunehmen. Mal sehen, was draus wird... :)

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  • so gibt es aktuell doch Planungen, die Herstellung von Stahlglocken wieder aufzunehmen. Mal sehen, was draus wird... :)

    Das hört sich spannend an. Wer würde sich daran wagen und in welchem Zusammenhang (zB Ersatz für ein anderes Stahlgeläut oder eine Ergänzung)?

  • Es gibt eine Stahlgießerei nahe St. Vith in Belgien, die, vorerst nur probehalber, Stahlglocken gießen möchte. Sobald die Exemplare "serienreif" sind, kann man damit vorhandene Stahlgeläute hervorragend ergänzen.

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  • Campanologen können übrigens nicht nur bei Youtube, sondern auch in der klassischen Cineastik fündig werden:

    Ergänzen könnte man hier auch den Film "Andrej Rubljow" von Tarkowski, dessen letzte, etwa halbstündige Episode (von insgesamt sieben) dem Guß einer Glocke gewidmet ist.

  • Damit das Thema hier nicht ganz "einschläft", gibt es wieder was auf die Ohren. :D

    https://www.youtube.com/watch?v=VVwv1dmz2Uk

    Ein zweistimmiges, romanisches Geläut. Die Glocken waren einst Teil des Verdener Domgeläutes, wurden dann aber nach dem 2. Weltkrieg "aus musikalischen Gründen" dort ausgesondert (und somit das bis dato komplett mittelalterliche Ensemble zerrissen) und kamen schließlich nach Kirchboitzen nahe Walsrode. Viel Spaß beim Zusehen und vor allem -hören!

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  • Wow, ich staune, eine Glocke aus der zweiten Hälfte des 12.Jahrhunderts!!! Eine klangliche Reise ins Hochmittelalter!
    Das ist wohl nur mithilfe von Glocken möglich mittelalterlichen Klang zum Klangerlebnis werden zu lassen. Und dann noch in der Stimmung einer Quinte!
    Sonst haben wir keine spielbaren Musikinstrumente aus dem 12.Jahrhundert überliefert!? Orgeln gibt es meines Wissens keine aus dieser Zeit. Vielleicht noch Blasinstrumente? Aber spielbar!? Na gut, aus der Steinzeit haben wir Funde von Knochenflöten, die aber auch nur als Rekonstruktionen wieder tönen!