Rekonstruktion als Anti-Faschismus

  • Das stimmt so pauschal nicht. Die NS-Architektur ist ziemlich ornamentlos. Dennoch hat es bisweilen Ornamentik gegeben, vor allem im privaten Wohnungsbau. Kunst am Bau gab es ohnehin.

    Schaue mal z.B. den goldenen Saal der Zeppelintribüne in Nürnberg: https://de.wikipedia.org/wiki/Reichspar…SCF4463_4_5.jpg

    Beim Gauforum Weimar finden sich Pilaster und eine klassische Gliederung: https://goo.gl/images/Ur9so7

    Der Kommunismus war schon weit ornamentfreudiger. Man denke mal an die Kulturpaläste der Stalinzeit.

    Betrachte mal den Kulturpalast in Warschau: https://goo.gl/images/oz4aPa

    Oder die Häuser am Altmarkt in Dresden: https://goo.gl/images/Tdwndp

    Man denke auch an die spätere Sowjetarchitektur in Mittelasien, die traditionelle Motive verwendete. Hier ein Beispiel aus Taschkent: https://goo.gl/images/5mqXcP

    Viel zielführender als diese politische Verengung fand die ich These von Kraft und Gegenkraft. Auf die ornamentale Überfülle des Historismus und Jugendstil gab es eben eine puristische Gegenbewegung. Und diese fand fast weltweit statt. In Deutschland gab es dabei verschiedene Strömungen. Neoklassizismus, Heimatschutzarchitektur, Bauhaus-Modernismus. Letzterer gewann nach 1945 (leider) die Oberhand.

    Zum Beispiel wurde im Deutschland der Weimarer Republik, also vor der NS-Zeit, bereits ornamentfrei und neoklassizistisch gebaut. Zum Beispiel bei der Ehrenhalle Nürnburg von 1928/29: http://www.baukunst-nuernberg.de/epoche.php?epo…jekt=Ehrenhalle

  • Natürlich waren NS-Zeit und Sozialismus nicht völlig ornamentfrei. Aber das Ornament war architektonisch extrem eingehegt, im Unterschied zum Historismus. Denn überbordende Ornamentik reduziert die Monumentalität, auf die es der NS-Architektur so sehr ankam. Paradoxerweise nutzte das Bauhaus seinen - noch stärkeren Ornamentverzicht - zur Erzeugung von Anti-Monumentalität. Man hat mit der Reduktion des Ornaments also zwei entgegengesetzte Ziele verfolgt, was ich recht interessant finde.

    Wer einer Halbwahrheit eine weitere Halbwahrheit hinzufügt, schafft keine ganze Wahrheit, sondern eine ganze Lüge.

  • Ich möchte nochmal etwas einwerfen: Wir diskutieren hier ja sehr umfassend, aber gelingt es uns auch, das ganze ähnlich verkürzt zu formulieren wie es die Gegenseite macht (siehe Prof. Trüby)? Ohne dabei deren Polemik zu übernehmen?
    Beachtung wird ja heute leider weniger dem differenzierenden Bemühen geschenkt als vielmehr emotionalen Schlagworten. Das müssen wir in der Auseinandersetzung berücksichtigen.

    In dubio pro reko

  • Historismus emanzipiert den Bürger - Totalitarismus degradiert ihn


    Den in unserer ergiebigen Diskussion herausgearbeiteten ‚demokratisierenden’ Aspekt des Historismus, der durch seine kostengünstige serielle Fertigung (man denke nur an die Fabrik von Albert Lauermann in Detmold) Bauschmuck, der vordem Adel und Herrscherhäusern vorbehalten war, der gesamten Bevölkerung zur Verfügung stellte und dadurch die bauästhetische Emanzipation des Bürgertums – erfreulicherweise auch dessen mosaisch gläubigen Anteils – vehement beförderte, würde ich gerne einmal an einem prominenten Beispiel konkretisieren und mit den gegenläufigen Tendenzen des nationalsozialistischen Bauens kontrastieren.

    Dieses Beispiel soll die Anbindung des Durchbruchs der Kaiser-Wilhelm-Straße an die Spree-Insel sein.

    Bevor diese realisiert wurde, waren die Bürgerstadt Alt-Berlin und das Gebiet des mittleren Cölln in dieser Zone (trotz der schmalen Kavaliersbrücke, die nur ein Steg für Fußgänger war) ziemlich hermetisch voneinander abgeriegelt.

    Die Krone hat der Umsetzung der Neugestaltung keine nachhaltigen Hindernisse in den Weg gelegt, ganz im Gegenteil: Wilhelm I. genehmigte diese und sein Enkel hat an ihr ebenfalls festgehalten. Die Planung beinhaltete die Öffnung des vordem rein höfischen Bereichs zu den bürgerlichen Quartieren jenseits des Flusses; ein wie ich finde bemerkenswerter Vorgang, den man nicht allein auf seine verkehrstechnischen Aspekte reduzieren sollte (immerhin mußte dafür ja der Apothekenflügel des Schlosses nicht unwesentlich verkürzt werden – der Monarch nahm sich dadurch sozusagen zugunsten der Bürger ‚ein stück weit zurück’).

    In der Ausgestaltung der Straßenanbindung setzte sich diese Kooperation von Thron und Volk auf subtile Weise fort:

    Die neobarocken Fassaden der beiden Kopfbauten der Kaiser-Wilhelm-Straße transferierten mit ihrem reichen Dekor Baugedanken der Residenz über den Fluß hinweg und gaben dadurch dem königlichen Lustgarten einen neuen stimmigen östlichen Abschluß (den man heute schmerzlich vermißt). Gleichzeitig rahmten die als Hommage an die neue Würde der Hohenzollern gedachten und die oberen Spitzen der beiden Ecktürme bildenden Kaiserkronen optisch die Marienkirche und hoben diese quasi über sich empor – die Krone als dienstbarer Helfer des Bürgertums sozusagen.

    Die trotz ihres Bauvolumens durch den kühnen Schwung ihres Hauptbogens elegant zu nennende Brücke wiederum, wies sowohl monarchische Symbole, als auch (mit ihren heute wieder vor Ort zu sehenden Bärenköpfen) Elemente städtischer Ikonographie auf und setzte auf diese Weise die beschriebene Symbiose fort.

    Durch den Historismus wurden somit Landesherr und Bürgertum hier in einer Weise miteinander verschränkt, wie dies seit den Tagen Eisenzahns wohl nie der Fall gewesen war.

    Zusammen mit dem neuen Dom und der modifizierten Erkergestaltung des Apothekenflügels wurde ein Stadtraum kreiert, welcher für den Betrachter ein so vielfältiges Angebot an optische Entdeckungen bereithielt, daß dieser ganz automatisch ins Flanieren geriet, wollte er auch nur die allerwichtigsten Elemente dieses ausgeklügelten Programms in sich aufnehmen.

    Ganz im Gegensatz dazu standen die Umbaupläne der Nationalsozialisten:

    Zum einen hätte die Verlängerung der zugigen ‚Ost-West-Achse’ (deren beabsichtigte breitere Flußquerung machte den Abbruch der Kaiser-Wilhelm-Brücke notwendig) den nicht ungern gesehenen Nebeneffekt gehabt, die Passanten schnell am ungeliebten ‚hohenzollernschen Relikt’ des Schlosses vorbeileiten zu können. Denn aus einer einst bedeutungsschweren Verbindung wäre bei Realisierung der Achsen-Planung ganz automatisch eine schnöde Durchgangsstraße geworden, die die beiden historischen Kernbereiche der Doppelstadt zu bloßen Statisten am Zubringer zum gigantomanischen neuen Zentrum vor der ‚Großen Halle’ degradiert hätte.

    Zum anderen hätten die geplanten Erweiterungsbauten der Museumsinsel östlich der Spree (zu deren Gunsten ja schon der nördliche Kopfbau der Kaiser Wilhelm Straße 1939 niedergelegt war) keinerlei Bezug zur engeren Geschichte ihres Standortes gehabt. Aber das wundert einen nach dem oben Gesagten, ja nicht mehr wirklich. Sie wären monumentale Großbauten geworden, die, hätte man von ihnen nicht optische erschlagen werden wollen, wohl nur noch aus der Perspektive des vorbeibrausenden Autofahrers erträglich gewesen wären. Der Fußgänger hätte sie, wie die meisten NS-Bauten, nur als monton und überdimensioniert empfunden – insofern dem 20. Jahrhundert mit seinen diversen Totalitarismen sehr angemessen…

    Was lernen wir – zumindest bezogen auf dieses Beispiel – daraus ?

    Nun wohl Dieses: Historismus führt zusammen und lädt zum Verweilen sowie Flanieren ein. Bauten totalitärer Systeme hingegen isolieren und schüchtern den Passanten ein, treiben ihn zum schnellen Weitergehen an.

    Vielleicht sollte man Herrn Trüby wirklich einmal auf das antitotalitäre Potential der Rekonstruktion historistischer Gebäude aufmerksam machen. Aber der gute Mann wird dies wahrscheinlich gar nicht erst zur Kenntnis nehmen wollen…


  • Ich weiß nicht wie es euch geht, mich jedenfalls lassen moderne Großbauten wie z.B. diverse Regierungsbauten in Berlin mit ihrer kalten Monumentalität viel mehr an den Geist des 3. Reichs denken als irgendwelche Rekonstruktionen von mittelalterlichen Häusern. Die Bauten des Faschismus und der Moderne haben unbedingt eins gemeinsam: Eine Architektursprache der Strenge und Lustfeindlichkeit. Kein Wunder dass der Historismus beiden Ideologien zuwider war.

    In dubio pro reko

  • Beabsichtigte Verdrängung des Historismus durch NS-Planungen am Beispiel der Bremer Innenstadt

    Anbei einige Pläne zu den 1942 erstellten Umbauplänen für Bremen – insbesondere denen für die Altstadt. Entnommen sind diese der Autobiographie von Gerd Offenberg ‚Mosaik meines Lebens’ (S.232-233, 236-241).


    Im Falle einer Realisierung hätten weite Teile der östlichen Altstadt ihren historistischen Gebäudebestand total eingebüßt (z.B. der Domshof). Auffällig ist zudem, daß viele der strukturellen Planungen, wie die Umgestaltung der Balgebrückstraße zur Hauptzufahrt der Großen Weserbrücke, die Niederlegung der südlichen Bebauung an der Tiefer oder der Nutzung der Violenstraße als innerstädtische Umfahrung des Kernbereiches, nach dem Kriege – teils von personenidentischen Planern – doch noch umgesetzt wurden. Hierzu gehört jenseits der Altstadt, im Bereich des Ostertores, natürlich noch die heute sog. ‚Mozart-Trasse’, die eine Ostbrücke über die Weser bedienen sollte, aber Dank des Engagements diverser Bürgerinitiativen nie vollendet werden konnte und heute am sog. Remberti-Kreisel als Rudiment endet. Diese ‚Trasse’ sollte im Rahmen der Planungen von 1942 einem großen Gau-Forum auf dem Stadtwerder als Aufmarschstraße dienen.

    Bremens Altstadt hätte die großbürgerliche Atmosphäre seines historistischen Baubestandes im Innenstadtkern (so z.B. auch die Neue Börse des aus Bremen Oberneuland stammenden Architekten Heinrich Müller – dessen Börsengebäude in Königsberg als eines der wenigen Gebäude aus deutscher Zeit übrigens heute noch steht), somit auch ohne Bombenkrieg verloren. Es hätte – wenn es günstig gelaufen wäre – eine Anmutung erhalten, die in etwa der der Nachkriegsbauten in der Rostocker Altstadt entsprochen hätte.

    01. Baubestand in Bremen 1940



    02 Umbauplanung 1942



    03 Baubestand in der östlichen Altstadt 1940



    04 Umbauplanung für die östliche Altstadt 1942



    05 Visualisierung der Planung für die östliche Altstadt


    3 Mal editiert, zuletzt von Pagentorn (11. November 2018 um 14:34)

  • Als vor wenigen Jahren die Reutlinger Stadthalle erichtet wurde, war es bei Kritikern des Projektes beliebt, den Bau in die Nähe von Nazi-Architektur zu rücken. https://de.wikipedia.org/wiki/Stadthalle_Reutlingen Die ungeschickte Farbgebung tat dann noch ihr Übriges.. Wenn dieser Vergleich auch stilistisch nicht wirklich passt, umso treffender legt er die Essenz des Gebäudes offen, seine Außenwirkung, die Art und Weise, wie es sich in den Stadtraum einfügt, bzw. nicht einfügt. Denn so ein moderner Klotz löst in dem Betrachter dieselben Gefühle aus wie die Parteipaläste der Nazis. Als wuchtige, ungezähmte Baumasse, erdrückend durch nicht von auflockernden Elementen enlastete Größe und entindividualisierte Klarheit, lässt er dasselbe Gefühl von Kleinheit und Unbedeutendheit im Menschen keimen, das hervorzurufen die faschistischen Bauten intendiert waren.

    Einmal editiert, zuletzt von Suebicus (11. November 2018 um 21:47)

  • Es geht in diesem Strang nicht um die Bewertung von Nazi-Architektur, bitte zurück zum Thema.

    Ein Teil der Diskussion wurde deaktiviert, da er themenfremd ist. Wir beraten uns intern

    Update (12.11.2018, 11:43)

    Da ich Kritik zu den Deaktivierungen bekam, möchte ich nur klar stellen, dass die Beitrage nicht anstößig waren.
    Das Problem daran ist, dass unter anderem emotional argumentiert wurde, was ich absolut nachvollziehen kann, was uns aber auf die Füße fällt, da es Neonazis und Antifa Trolls anlockt, wie gestern geschehen. Diese Person wurde sofort gesperrt. Es tut mir auch leid, Gedanken und Argumente zu zensieren, die an sich harmlos gemeint sind.
    Deshalb meine Bitte bei diesem heiklen Thema: Behutsam und wissenschaftlich zu argumentieren und Emotionen außen vor lassen.

    Beauty matters!

  • Versuch eines vorläufigen, ersten Zwischenergebnisses

    Vor dem Hintergrund der im Rahmen der bisherigen Diskussion deutlich gewordenen emanzipatorischen und demokratisierenden Aspekte des Historismus, die offenbar wesentlich dazu beigetragen haben, diesen Baustil zur Projektionsfläche von Feindbildern diverser totalitärer Ideologien des 20. Jahrhunderts zu machen, kann man – so denke ich – jetzt schon festhalten, daß jedenfalls die Rekonstruktion eines historistischen Gebäudes, welches einst auf Veranlassung einer dieser Ideologien beseitigt wurde, durchaus anti-kommunistische, anti-nationalsozialistische und anti–faschistische Anteile haben kann. Diese bilden natürlich nicht den primären Impetus Derjenigen, die sich in der Gegenwart für den Wiederaufbau einsetzen, aber sie schwingen unterschwellig sehr oft mit.
    Das gleiche dürfte auch bei Rekonstruktionen von Gebäude aus Stilepochen jenseits des Historismus gelten, wenn diese ehedem ebenfalls aus eindeutig ideologischen Gründen beseitigt wurde, wie z.B. mittelalterliche Synagogen unter dem Nationalsozialismus oder barocke Herrensitze des Landadels unter dem Kommunismus.
    Derartigen Rekonstruktionsvorhaben eine Nähe zu einer der genannten Totalitarismen zu unterstellen ist grotesk, und diskreditiert denjenigen, der das tut, als ernst zu nehmenden Diskussionspartner.

    Im Übrigen dürfte die folgende Faustregel gelten: Hat sich die jeweilige Ideologie grundsätzlich negativ zu Rekonstruktionen geäußert und solche auch nie selber praktiziert, so kann ein originalgetreuer Wiederaufbau niemals eine Parteinahme für diese Ideologie sein.
    Hat sich die Ideologie hingegen nicht bzw. nicht eindeutig geäußert und / oder selber Rekonstruktionen vorgenommen, dann wäre im jeden Einzelfall zu prüfen, ob man sich mit einem Reko-Vorhaben dem Vorwurf der geistigen Nähe aussetzen würde.

    Im Endeffekt könnte man nur Diejenigen vorbehaltlos als Gesinnungsgenossen eines der totalitären Regime bezeichnen, die darauf abzielen, verschwundene Bauten des jeweiligen Regimes zu rekonstruieren. Aber die Zahl Derer, die die Neue Reichskanzlei oder gigantische Stalin-Statuen wiederaufbauen wollen dürfte - Gott sei es gedankt - sehr überschaubar sein.
    Insofern ist es eine impertinente Infamie von Herrn Trüby, wenn er in pauschaler Weise alle Rekonstruktionsfreunde mit dieser kleinen Minderheit in einen Topf wirft !

    Einmal editiert, zuletzt von Pagentorn (11. November 2018 um 21:34)

  • Die puristischen ‚Abwasch-Orgien’ der Nationalsozialisten und ihrer Epigonen

    Die Stiftskirche St. Blasii in Braunschweig (vulgo Braunschweiger Dom) mag als Beispiel dafür dienen, wie man im Dritten Reich mit umfangreichen Bildprogrammen des 19. Jahrhunderts verfuhr. Die sehr komplexe Geschichte der von erhaltenen hochmittelalterlichen Secco-Malereien ausgehenden und sich über mehrere Jahrzehnte erstreckenden flächendeckenden Ausmalung des Doms kulminierte in einer 1880/81 vorgenommenen kompletten Neubemalung der Innenwände, die somit in die Hochzeit des Historismus fiel. Der durch diese Neubemalung erzeugte Raumeindruck erinnerte an San Marco in Venedig oder die Uspienski Kathedrale im Moskauer Kreml.

    Während der NS-Zeit wurde der Dom zu einer staatlichen Weihestätte für Heinrich den Löwen in seiner Eigenschaft als ‚Vater der deutschen Ostkolonisation’ umgestaltet. Dabei beseitigte man die Wandmalereien des späten 19. Jahrhunderts rigoros. Der so erzeugte ‚puristische’ Raumeindruck ähnelt sehr demjenigen vieler nach dem Kriege oft in gleicher Weise ihrer historistischen Ausmalung ‚entkleideten’ und dadurch nun größtenteils steinsichtigen Kirchen wie z.B. dem Dom zu Speyer oder St. Gereon in Köln. Alles ist auf strenge Monumentalität ausgelegt. Die vorherige Anmutung einer mit Bildergeschichten schwangeren, bergend heimeligen ‚Mutter Kirche’ ist total verschwunden.

    Da die Polychromie nicht nur der Antike, sondern auch des Mittelalters mittlerweile wieder sehr geschätzt wird, wäre es doch schön, wenn sich bald darüberhinaus eine Hochachtung für die Vielfarbigkeit des Historismus hinzugesellen würde. Was die Adepten von Herrn Trüby wohl zu einem rekonstruierten Bildprogramm sagen würden ...?

    Bild 01:
    Blick zum Altarraum vor und nach der Umgestaltung im Dritten Reich. Links der neuromanischer Altar. Rechts der Reichsadler.

    Bild 02:
    Blick zur Rosette. Links: Gemälde von Mai 1914, die Taufe des Enkels des Kaisers, des Erbprinzen Ernst August von Braunschweig (in Anwesenheit seines Großvaters) darstellend. Mitte: Foto vor der Umgestaltung im Dritten Reich. Rechts: Situation in der Gegenwart.

    Einmal editiert, zuletzt von Pagentorn (12. November 2018 um 11:30)

  • Mein lieber Pagentorn, Seinsheim und alle Beteiligten,
    vielen Dank und Anerkennung für diese Diskussion auf ganz hohem Niveau!
    Das ist besser als an der Hochschule, "ganz großes Kino"!

    Ich versuche mal, das Ganze ein wenig zusammenzufassen, nein, eher zu ergänzen:

    Heinzer schrieb:
    "Ich halte den Hinweis darauf, dass sich die Nazis eher in der Kontinuität der Moderne befanden, für einen durchaus hilfreichen Argumentationsansatz, das, was wir heute betrauern, hatte in den 20er Jahren begonnen, war von der NSDAP dankend aufgenommen worden, hatte im Bombenkrieg einen nicht erhofften (oder billigend in Kauf genommenen) Katalysator gefunden und wurde von der Nachkriegsstadtplanung vollendet. Das dritte Reich stand in diesem Bereich -abgesehen von einigen gestalterischen Änderungen- absolut in der Kontinuität des Zeitgeists."

    Die Nazis und die Faschisten als Teil der Moderne - und - deren radikalste Vertreter?
    Dann aber genauso die Kommunisten. Zwischen beiden Lagern gab es Querverbindungen. Es gab Rotfrontler, die zur SA gingen und umgekehrt.
    Ihnen allen gemein ist die Ablehnung des Bürgertums mit seinem Feinsinn (dekadent), seiner Religion (Historischer Materialismus oder Neo-Germanentum) und seiner Vormachtstellung in der Gesellschaft
    (revolutionäre Enteignung oder Eingliederung und Gleichschaltung im Führerstaat).

    Seinsheim stellte ganz richtig fest:
    "Der Nationalsozialismus hat die bürgerliche Kultur gehasst. Er hat die Frakturschrift abgeschafft, das humanistische Gymnasium, hat die Kirchen bekämpft. Darin war er durchaus sozialistisch, mit dem Unterschied, dass er diese Einheitsgesellschaft rassisch definierte: Volk nicht als soziale Einheit wie im Kommunismus, sondern als ethnische."

    Genauso hassten natürlich die Kommunisten die bürgerliche Kultur.

    Woher kommt diese Feindschaft?
    Sicherlich aus der enormen Massenarmut der ersten Industrieepoche, also dem Zeitraum etwa 1840 bis 1918.
    - Als der Kapitalismus sich technisch aufrüstete mittels Dampfkraft, Stahl und später Erdöl.
    Dies ist die Zeit des Historismus, des architektonischen Ausdrucks der Potenz des kapitalistischen Bürgertums.

    Der Anhalter Bahnhof ist immer noch für mich DER Höhepunkt des Historismus schlechthin.
    Hier hat man ennorm opulent Millionen von Arbeitstunden und Baumaterial "verschwendet".

    Warum? Ein ganz banaler Verkehrsbau wird zur Kathedrale, vermittelt die Botschaft: "Seht her, so mächtig sind wir, das können wir!"

    Alle Bauten des Historismus versuchten zumindest, diese Botschaft zu vermitteln.
    Und weil diese Bauten dominierend im Stadtbild wurden, wurde man auch ihrer überdrüssig.

    Gerade die benachteiligte Arbeiterklasse wohnte in billig zusammengeklatschten riesigen Mietskasernen, außen mit Stuckornamenten von der Stange aufgehübscht, damit das Elend des 4. Hinterhofs nicht so deutlich wurde...

    Diese Leute sahen die Bürger, die ihnen Hungerlöhne zahlten in ihren schicken Gründerzeit- oder Jugendstilvillen. "Das sind die Leute, die uns hungerleiden lassen!"

    "Es gibt vermutlich jedoch auch einen ganz pragmatischen Grund, und dieser mag noch vor den ideologischen wie ästhetischen oder pekuniären Motiven dazu geführt haben, daß wir keine Rückkehr des Ornaments mehr erlebt haben: es gibt kein Personal mehr, daß die Samtportieren ausklopfen und die gedrechselten Möbel und den Nippes abstauben würde, und die Emanzipation und Berufstätigkeit der Frau führte dazu, daß der Haushalt, der so lange ihre auferlegte Pflicht war, heutzutage möglichst rasch erledigt sein will; da sind glatte Flächen und „buddhistisch“-karge Räume ein Vorteil."

    ..schrieb etinarcadiameo.

    Eben, die "Bürger", oder Bourgeoisie, wenn man so will, hatten jede Menge Dienstboten zur Pflege der Ornamente.
    Eigentlich kein Wunder, daß das politische Proletariat der 1920er Jahre, egal ob faschistisch oder kommunistisch, den Historismus GEHASST hat.
    Und daraus folgte die Moderne mit Bauhaus, Jazz, Dadaismus und anderem.
    Eine Rebellion gegen die alte Klassengesellschaft und ihre Architektur.

    Die Arbeiterklasse zog 1914 begeistert in den Krieg, in der ganz verworrenen und unklaren Perspektive, das aus dem Gemetzel doch irgentetwas Neues, Positives entstehen muß...
    Und kehrte 1918 aus dem Weltkrieg zurück mit nur einem Wunsch:
    "Wir haben genug, fort mit dem Kaiser, mit den Bonzen, wir möchten entlich anständig leben!"
    So erklärt sich die revolutionäre und konterrevolutionäre Epoche 1917 -1920.
    Wie überhaupt politische Umwälzungen auch architektonische Epochen beginnen und enden lassen.

    Der Historismus von etwa 1840 - 1918
    Dann Kriegsende und Revolution.
    Dann die Moderne von 1918 - 1968 ? -- Ich denke schon. 1968 war auch eine Abrechnung mit der Moderne, zumindest mit ihrem faschistischen Teil.
    Dann von 1968 bis heute die Postmoderne?
    Wobei ich jetzt nich die Postmoderne vertiefen will, das sprengt den Rahmen, auch wenn es sehr interessant ist...

    Der Historismus hat die Architektur der Feudalgesellschaft, die "mittelalterliche Stadt" verdrängt.
    Die Moderne hat den Historismus verdrängt.
    Und was tut die Postmoderne? Kopiert sich selbst, wie Heimdall aufzeigte.

    Die Moderne in der Architektur ist durchaus global.
    Nicht nur in Großbritannien, auch in den USA verlief die Architekturgeschichte ganz ähnlich wie in Europa.
    Wir haben es also auch mit globalen Moden zu tun, die dann auch jedesmal übertrieben werden.

    Worauf die nachfolgende Generation sagt: Scheußlich und viel zu viel. Weg damit!

    Nebenbei --- die Moderne ist architektonischer Ausdruck des Fordismus.
    Des durchrationalisierten, normierten Kapitalismus mit quasi paramilitärisch organisierten Heeren von Arbeitern. --- Oder wie soll man sonst die moderne Fließband-Massenproduktion und -konsum werten?
    Die Moderne repräsentiert das "amerikanische" Zeitalter.
    Und dieses ist insofern faschistisch, weil Henry Ford ein glühender Verehrer des Nationalsozialismus war. Und ein finanzieller Förderer der NSDAP, zusammen mit General Motors, Standard Oil, Morgan Stanley und anderen.

    Um zum Thema zurückzukehren:

    Ja, Rekonstruktion des Historismus ist antifaschistisch, weil die Nazis ein Teil der Moderne sind. Aber genauso auch antikommunistisch, weil die Kommunisten auch Teil der Moderne sind.
    Und Rekonstruktion ist sogar auch antikapitalistisch, weil sie den modernen Kapitalgesellschaften vor Augen führt:
    "Ihr in euren albernen Glastürmen, was könnt ihr schon? Habt ihr überhaupt Kultur? Guckt euch die Bauten EURER Vorgänger an!"

    Also, ich bekenne mich zum Historismus.
    Aber auch zur Feudalarchitektur.
    Und auch zur Moderne...

    7 Mal editiert, zuletzt von reschbanner (24. November 2018 um 20:08)

  • Lieber reschbanner,


    vielen Dank für Ihre profunde Zusammenfassung, die ich mir noch im Einzelnen ansehen werde !

    Mit meinem, soeben vorbereiteten, halb augenzwinkernden, halb ernsten Beitrag komme ich nun etwas unpassend 'hinterher gekleckert. Ich hoffe dennoch auf 'freundliche Aufnahme'.


    Das Wiederanbringen einer bestimmten Barttracht als Zeichen der Ablehnung der NS-Ideologie

    Das ab 1895 nach Plänen von Paul Tornow realisierte neugotische Hauptportal des Stephansdoms in Metz enthält u.a. vier Kolossalfiguren der altttestamentlichen Propheten Jesaja, Jeremia, Ezechiel und Daniel. Dem letzteren wurden die Gesichtszüge Kaiser Wilhelms II. gegeben (ähnlich wie bei der Figur Karls des Großen an der Westfassade des Bremer St. Petri Doms). Als Metz nach 1918 Deutschland erneut verloren ging, veranlassten die französischen Autoritäten, daß dem Daniel ein Schild mit der Aufschrift ‚Sic transit gloria mundi’ umgehängt wurde, ließen die Statue aber offenbar ansonsten unangetastet. Laut Jean-Claude Berrar (Memoire en images, Metz, Saint-Avertin 1996, S.85) waren es erst die Nationalsozialisten, die während des 2. Weltkrieges den Auftrag erteilten, den bekannten Schnurrbart des Kaisers abzumeißeln. Wenn man allerdings das originale Gesicht des Propheten mit dem jetzigen vergleicht, dann scheint hier nicht bloß der Bart entfernt worden, sondern gleich das ganze Gesicht ausgetauscht worden zu sein.
    Dies war nicht bloß ein unfreundlicher Akt, sondern vielmehr eine regelrechte ‚Damnatio Memoriae’ ganz im Sinne vieler NS-Schmähschriften gegen Monarch und Kaiserreich, wie z.B. dem von Ernst Graf zu Reventlow verfassten Buch ‚Von Potsdam nach Doorn’.
    Es mag skurril erscheinen, aber ich würde vor diesem Hintergrund eine potentielle Wiederherstellung des originalen Gesichtes durchaus als Symbol dafür werten, daß die Nationalsozialisten auch in Metz nicht das letzte Wort behalten. Und eine Akt nobler historischer Großzügigkeit wäre es obendrein !

    Abbildung 01
    Der Stephansdom in Metz. Das neugotische Hauptportal befindet sich links.

    Abbildung 02
    Das Hauptportal. Die Statue des Propheten Daniel ist mit einem roten Pfeil markiert.

    Abbildung 03
    Die Statue des Propheten Daniel. Links: vor 1918 mit den Gesichtszügen Wilhelms II. Mitte: mit den lateinischen Worten im November 1918. Rechts: Die Statue nach der Veränderung des Gesichts durch die Nationalsozialisten während des 2. Weltkrieges.

    Abbildung 04
    Der Vergleich ‚der Köpfe’ im Detail.

    Einmal editiert, zuletzt von Pagentorn (13. November 2018 um 08:45)

  • Lieber reschbanner,

    in den zusammenfassenden und in den Ihre eigenen Gedanken wiedergebenden Teilen Ihres Beitrages werden sehr plastisch die Motivlagen für die Ablehnung des Histotrismus durch Sozialismus, Kommunismus und Nationalsozialismus herausgearbeitet.
    Ein wichtiger Aspekt war dabei wohl zudem der Neid auf den sich durch die Möglichkeiten der industriell-seriellen Herstellung auch bauästhetisch den alten Eliten annähernden Lebensstil des aufsteigenden Bürgertums.
    Da Neid und Haß oft Ausdruck unerfüllbaren Begehrens sind, denke ich schon, daß viele Angehörige des Kleinbürgertums und der arbeitenden Schicht, tief in ihrem Innern die Bauten des Historismus durchaus als 'schön' und erstrebenswert empfanden, diese aber dann, in einer dem Vorgehen des Fuchses in der Fabel des Aesop ähnlichen Weise, wegen ihrer Unerreichbarkeit zu ungenießbar saueren und deshalb abzulehnenden 'Trauben' erklärten.
    Nur diese Trotzreaktion läßt es mir verständlich erscheinen, warum man nach dem 1. Weltkrieg und insbesondere im - intensiv von kleinbürgerlichen Charakteren geprägtem Dritten Reich - das einzige, was die gründerzeitlichen Quartiere für die breitere Bevölkerung mit denjenigen des Bürgertums bis dato verbunden hatte, ihre - relativ - aufwendig gestalteten Frontfassaden nämlich, im Rahmen von staatlich geförderten Entstuckungsprogrammen, abschlagen ließ. Zwar hielt mit dem an die Stelle des Stucks tretenden garstigen Rauhputz die Tristesse des 4. Hinterhofes nun auch an der Straßenfassade des Gebäudes ihren öden Einzug, aber das machte nichts, denn man hatte ja nun sein 'Mütchen' gekühlt...

  • Die Botschaft des entnobilitierten Reichsadlers von Bad Münder

    Das sympathische Provinzstädtchen Bad Münder, südwestlich von Hannover am Fuße des Deisters gelegen, besitzt eines der in vielen norddeutschen Städten bis heute erhaltenen, ursprünglich ‚kaiserlichen' Postämter, mit ihren typischen Fassaden aus rotem Backstein. Es markiert das Südende der dortigen Marktstraße und bildet gleichzeitig das Pendant zum Rathaus, welches gut hundert Meter entfernt am nördlichen Beginn des Straßenzuges platziert ist.

    Der aus glasiertem Ton bestehende Fassadenschmuck des Postamts umfaßt neben drei Rundmedaillons - welche auf den Postverkehr auf Straße, Schiene und zur See sowie auf das Telegraphenwesen verweisen - als wichtigstes Element einen Reichsadler, welcher über einem dekorativen Arrangement schwebt, das nochmals das Thema Brief- und Frachtbeförderung, sowie die Nachrichtenübermittlung via Telegraphie thematisiert.

    Dieser Reichsadler ist für unser Thema in mehrfacher Hinsicht interessant:

    Zum einen sind seine vorhandenen vier Segmente Beispiele der oben bereits mehrfach angesprochenen, seriellen industriellen Fertigung von Schmuckelemente im Zeitalter des Historismus. Diese wurden lediglich von den ausführenden Bauhandwerkern vor Ort ‚montiert’. Hätte man zum damaligen Zeitpunkt für derartigen Zierrat auf individuelle Bildhauer oder Keramikkünstler zurückgreifen müssen, hätte das mit Sicherheit den im Bauetat des Reichspostamts für Kleinstädte vorgesehenen Kostenrahmen weit überstiegen.
    Wir haben hier somit einen weiterer Beleg für die 'demokratisiernde' Kraft des Historismus, der es mit seinen kostengünstigen 'Fertingungsmethoden' überhaupt erst möglich machte, Schönheit auch auf das 'platte Land' zu tragen und diese dadurch nicht mehr das ausschließliche Privileg der Großstadtbevölkerung bleiben zu lassen.

    Zum anderen hat dieser ‚Vogel’ im 20. Jahrhundert deutlich sichtbar den sich wandelnden Zeitläufen seinen Tribut zollen müssen: Oberhalb seines Kopfes ist nämlich ein - für den ja bekanntlich vom ‚horror vacui’ geplagten Historismus, mit seinem Drang nach maximaler Flächenausnutzung - als sehr ungewöhnlich zu bezeichnendes freies Feld zu sehen, in dem ursprünglich eine weitere Keramiktafel angebracht gewesen war, auf welcher mit hundertprozentiger Sicherheit die heraldische Krone des Kaiserreichs nebst ihren beiden Infuln zu sehen gewesen sein dürfte. Zudem weist das Brustschild des Adlers, welches ursprünglich den kleinen preußischen Adler mit dem hohenzollernschen Herzschild trug, umfangreiche Abkratzspuren auf, welche die beschriebenen letzten beiden Elemente nur noch als schemenhafte Umrisse übrigließen.

    Auch wenn noch nicht zu eruieren war, wann genau in der Zwischenkriegszeit diese ‚Entnobilitierung des Reichsadlers erfolgte, so kann doch zumindest davon ausgegangen werden, daß die Nationalsozialisten im Falle einer bereist vor 1933 erfolgten ‚Entkronung’, diese nicht revidierten und damit billigten. Da aber der ‚volkspädagogische’ Impetus bei Provinzpotentaten totalitärer Ideologien oftmals deutlich ausgeprägter ist, als bei ihren Gesinnungsgenossen in den Metropolen,so ist es auch gut denkbar, daß Krone und Preußenschild erst nach der Machtergreifung beseitigt wurden.

    Der verstümmelte Adler kündet somit in jedem Fall von Unduldsamkeit und mangelnder Souveränität der auf das Kaiserreich folgenden politischen Systeme. Nachfolger haben im Übrigen ja oftmals ‚bilderstürmerische’ Tendenzen.

    Vor diesem Hintergrund wäre es – meines Erachtens – unredlich, einem potentiellen Geldgeber einer Komplettierung des Adlers, nationalsozialistische Motive zu unterstellen…

    Abbildung 01
    Das Postamt in Bad Münder. Gesamtansicht.


    Abbildung 02
    Der giebelständige Fassadenteil mit dem Adler.


    Abbildung 03
    Der Adler im Detail.


  • Lieber Reschbanner, ich kenne zwar diese Erzählung, aber wo sind denn diese "schrecklichen" Bauten abgeblieben? Was für eine prototypische Mietskaserne gibt es denn als Baudenkmal? Was ist denn der Vergleichsmaßstab dieser anekdotischen Kritik?

    Gerade die benachteiligte Arbeiterklasse wohnte in billig zusammengeklatschten riesigen Mietskasernen, außen mit Stuckornamenten von der Stange aufgehübscht, damit das Elend des 4. Hinterhofs nicht so deutlich wurde...

    Wenn ich es richtig erkenne, geht es darum, dass im Zuge der Blockbebauung es möglich wurde in Hinterhöfen zu verdichten, und zwar diese Hinterhöfe zuzubauen. Die Höfe selbst sind nur noch Feuerwehrzufahrten. Der Wille zur Verdichtung lag nun wohl in erster Linie an dem rasanten Zuzug in die Städte, nicht an dem Elend als solchen. Diese Blockbebauung ist nichts anderes als der klassische Gründerzeitler. Solche gab es dann natürlich noch speziell für Arbeiter, mit Mischformen von Arbeiten, Wohnen, Kaninchenställen.

    Was hat das mit einem kleinstädtischen Postamt zu tun, bei dem die Nähe zu Kirchenbauten (wie auch bei Kasernen und anderen Backsteinbauten) wohl eher der Tatsache geschuldet sein mag, dass Architekten in der Ausbildung Kirchen zeichneten?

  • Lieber Agon,

    zurecht weisen Sie darauf hin, daß man nicht unhinterfragt, die sattsam bekannten alten Cliches hinsichtlich des 'Elends' in den Mietskasernen weitertragen sollte. Zumal die heute noch vorhandenen Exemplare - mit teilweise äußerst gelungener Begrünung des 4. Hofes - äußert begehrte Wohnimmobilien sind.

    Was Provinzpostamt und Kathedrale - also etwas disparat erscheinende Themata - angeht, so bemühe ich mich schlichtweg, verschiedene Beispiele des Umgangs des Nationalsozialismus mit dem historistischen Erbe beizuziehen und auf diese Weise eine 'Stoffsammlung' zuzsammenzutragen.

  • Pagentorn, mich würde auch noch was anderes interessieren, die Kunst am Bau, sei es als fotographisch überlieferter oder dokumentierter Stuck oder als erhaltenes Artefakt. Es wird immerzu von der Serienhaftigkeit gesprochen und das gewiss zurecht. Gibt es denn die Kataloge noch? Gibt es dazu Sammlungen bauhistorischer Dokumentation und Findbücher? Sammelt irgendjemand Fotos von Stuck?

    In dem Fall dieses Bauwerks, gibt es Schwesterbauten mit gleicher Gestaltung oder andere Abgüsse?

  • Lieber Agon,


    Sie sprechen ein großes Desiderat vieler bauhistorisch Interessierter an:

    Die 'Bestellkataloge' von Albert Lauermann, Detmold.

    Seit Jahrzehnten tauchen diese im Antiquariatshandel nicht auf. Und in Archiven ist die Überlieferung auch schwierig.

    Bezüglich 'Schwesterbauten' kann ich nur meiner Hoffnung Ausdruck geben, daß sich Mitforisten hier angesprochen fühlen, die solche vielleicht kennen.

  • Ich finde die Zusammenfassung von reschbanner sehr überzeugend, wenngleich man für das Wohnungselend mancher Hinterhöfe unterschiedliche Untersachen benennen können.
    Den Hinweis auf den antifeudalistischen Charakter des Historismus finde ich besonders bemerkenswert.

    Im Grunde könnte man ein Buch schreiben:
    HISTORISMUS IM WÜRGEGRIFF DER ISMEN- Großbürgerliche Repräsentationskunst versus feudalem und klerikalem Absolutismus, kleinbürgerlich-proletarischem Totalitarismus, technokratischem Modernismus und avantgardistischem Salonmarxismus

    Leider ein etwas sperriger Titel :)

    Oder einfach: Der Historismus im Schatten seiner Feinde: Großbürgerliche Repräsentationskunst im Fadenkreuz der Ideologien.

    Wer einer Halbwahrheit eine weitere Halbwahrheit hinzufügt, schafft keine ganze Wahrheit, sondern eine ganze Lüge.

  • Zur Bestuckung von Gebäuden sei es mir gestattet, Folgendes anzumerken:

    Stuck an den Fassaden von Backsteinhäusern anzubringen, war ganz überwiegend im nördlichen Deutschland usus. Dort, wo eben kein gewachsener Fels vorhanden war, um Häuser in Haustein bzw. Naturstein errichten zu können. Aber es gab im nördlichen Deutschland viele Tongruben, die guten Ton sowohl zur Herstellung von Backsteinen, Formsteinen und Ziegeln boten. Deshalb herrschte in den Städten Norddeutschlands der Backsteinbau vor. Hätte man hingegen gewachsenen Naturstein verwenden wollen, so hätte man diesen von weit her transportieren müssen. Mit der Folge, dass die Verwendung von Naturstein wegen der hohen Transportkosten die Baukosten des zu errichtenden Gebäudes extrem verteuert hätten. Somit kamen Natursteinfassaden im nördlichen Deutschland nur sehr selten zur Ausführung, und wenn doch, so meist bei besonders herausragenden, wichtigen Gebäuden, wie z. B. beim Bau des Reichstags. Einfache Wohnhäuser, wie die Mietskasernen der Gründerzeit, vor allem in den rasant wachsenden Industrie- und Großstädten, sollten zumindest an den Straßen eine schöne Fassade besitzen, was durch Anbringung von Stuck auf Backsteinfassaden relativ kostengünstig möglich war.

    In Süddeutschland hingegen war die Situation naturgemäß eine völlig andere. Hier stand in sehr vielen Gegenden seit jeher ein großes Vorkommen an Naturstein zur Verfügung, weshalb es hier auch sehr viele Steinbrüche gab. Der Werkstein musste meist nicht allzu weit transportiert werden, was die Transportkosten im Rahmen hielt. Fassaden, zumindest der repräsentativen Gebäude, wurden in Süddeutschland zumeist in heimischem Gestein errichtet. Repräsentative Gebäude wurden in der Regel "steinsichtig" erbaut. Hier war dann der Bauschmuck und Zierrat selbstverständlich ebenfalls aus Naturstein, wobei üblicherweise zunächst die groben Steinblöcke bis zur Baustelle befördert und dort vor Ort an der Baustelle, also auf der dafür teils abgesperrten Straße, zuerst behauen und anschließend gleich eingebaut wurden. Letztlich ist der in den meisten Regionen Süddeutschlands zur Verfügung stehenden Naturstein mit als Grund dafür zu sehen, warum in der Gründerzeit in Süddeutschland die Fassaden der Häuser nur sehr selten "bestuckt" worden sind.

    Nachtrag:
    Daraus ergibt sich auch schlüssig, dass von vorne weg "Entstuckungen" in Süddeutschland keinen nennswerten Umfang haben konnten.

    Einmal editiert, zuletzt von Villa1895 (13. November 2018 um 18:33)