Rekonstruktion als Anti-Faschismus

  • Rekonstruktion wilhelminischer Bauten als praktizierter Anti-Nationalsozialismus


    Es ist hier im Forum schon andernorts in dankenswerter Klarheit aufgezeigt worden, in welch unrühmliche Gesellschaft sich die dogmatischen Gegner von Rekonstruktionen in ihrer – leider teilweise schon starrsinnig zu nennenden – Unduldsamkeit begeben haben, nämlich in die der Nationalsozialisten. Letztere verwendeten häufig sogar dieselben Termini, wie. z.B. ‚Geschichtsfälschung’ oder ‚Unwahrhaftigkeit’ wenn es galt, einen originalgetreuen Wiederaufbau abzulehnen. Ihre Motivation war dabei nicht nur der Wunsch, die zerstörten Gebäude als Haß generierende Ruinen zu instrumentalisieren (dies sollte z.B. beim Goethehaus Frankfurt so geschehen), sondern auch ihre grundsätzliche Verachtung von gründerzeitlichen und wilhelminischen Bauten, wie Ingo Sommer in seinem Aufsatz ‚Zwischen Tradition und Moderne. Wilhelm II. und die Baukunst’ (in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte. Neue Folge 25. Band. 2015. Heft 2, S.174-175) überzeugend nachgewiesen hat. Bedauerlicherweise haben viel zu viele von diesen Entscheidungsträgern nach dem Ende der ersten deutschen Diktatur noch bis in die 70er Jahre hinein – als opportunistische Wendehälse – ihren Feldzug gegen Rekonstruktionen und Wilhelminismus ungestört fortsetzen und damit auch die nachwachsenden Generationen von Architekten und Stadtplanern negativ prägen können. Das Ergebnis sind unsere heute in weiten Bereichen verhunzten Alt-und Innenstädte.

    Vor diesem Hintergrund ist jede originalgetreu sanierte gründerzeitliche Häuserfassade, jedes rekonstruierte Ecktürmchen und auch jedes wiederaufgebaute Schloß und Denkmal der Kaiserzeit als praktizierter Anti-Nationalsozialismus zu bezeichnen, also ganz das Gegenteil dessen, was uns Leute wie Herr Trüby unterstellen wollen. Wir, als ‚rückwärtsgewandt’ verleumdete Reko-Feunde, sind insofern die recht eigentlichen Avantgardisten im Kampf um die längst überfällige Entnazifizierung von Städtebau und Baukunst !

    Wie anders man mit dem Wilhelminischen Erbe umgehen kann, zeigen im Übrigen in vorbildlicher Weise unsere Nachbarn Frankreich und Polen, die die Hohkönigsburg und den Kaiserbahnhof in Metz, bzw. das Residenzschloß in Posen wertschätzen, pflegen und als Touristenmagneten hochhalten.

    Anbei einige Beispiele von durch die Nationalsozialisten verschandelte Bauten bzw. Bauensembles, die mir spontan eingefallen sind. Erkennbar ist jeweils wie Vielfalt und Kleinteiligkeit durch Monotonie ausgetauscht wurde.

    Die Mitforisten sind herzlich aufgerufen, die Liste fortzusetzen !


    01a Das Kaiser Wilhelm Denkmal auf der Hohensyburg in der Originalversion.

    01b Das Kaiser Wilhelm Denkmal auf der Hohensyburg nach der ‚Umgestaltung’ im 3. .Reich. Ödnis pur.

    02a Das Posener Schloß mit Kapellenturm und Apsis.

    02b Das Posener Schloß nach dem Umbau mit lächerlichem ‚Führerbalkon’ statt der Apsis.

    03a Die Berliner Kaiser Wilhelm Straße und Brücke vor den Abrißarbeiten der Nationalsozialisten.
    (Dieses und die beiden folgenden Bilder stammen vom Mitforisten Spreetunnel).

    03b Der beginnende Abbruch in den späten 30er Jahren.

    03c Brücke und nördlicher Flankenbau der Kaiser Wilhelm Straße sind schon fast vollkommen verschwunden...


  • Das bezieht sich jetzt aber auch nur auf die Gründerzeit, die in Sachen Rekonstruktion bei mir zumindest keine Priorität besitzt. Davon ist genug übrig geblieben.
    Im Mittelpunkt der Rekonstruktionsbemühungen müssen die verlorenen mittelalterlich-frühneuzeitlichen Altstädte stehen, da die der größeren Städte praktisch alle ausgelöscht wurden.

    Es wäre im Übrigen ja schön, wenn man die Ablehnung der Gründerzeit durch die Nazis gleichzeitig in eine grundlegende, ideologisch motivierte Ablehnung von Rekonstruktionen durch die Nazis umdeuten könnte, aber das scheint mir (da schlägt der Nebenfach-Historiker in mir durch) die Quellenlage nun doch nicht herzugeben. Wenn die Nazis gegen Rekonstruktionen waren, dann im wesentlichen aus zwei Gründen:
    1. Die Altstädte erschienen den Planern um Speer aufgrund ihrer Enge zu anfällig für eventuelle weitere Bombenkriege. Daher die Propagierung der Zeilenbauweise für den Wiederaufbau (so ja leider auch in Frankfurt, Hannover etc. verwirklicht)
    2. Die Ruinen einzelner Altstädte sollten, wie im Fall Frankfurt gut dokumentiert, als Ruinen stehenbleiben, um Haß gegen die Briten zu schüren.

    Das nun mit dem Ressentiment vieler Nazis gegen die Gründerzeit (das in den 30'iger bis 50'iger Jahren allerdings im gesamten politischen Spektrum, von ganz links bis ganz rechts zu finden war) zu vermengen, erscheint mir doch historisch unredlich. Ebenso unredlich wie die entgegenlaufenden Thesen Trübys. Wenn wir das öffentlich vertreten würden, würden wir uns m.E. eher unglaubwürdig machen.

  • Sehr geehrter Philon,

    ich bedaure, Ihnen widersprechen zu müssen, aber eine historisch unredliche Vermengung kann ich hier nicht erkennen. Denn wie soll man es denn anders als 'ideologisch begründete grundsätzliche Ablehnung' von Rekonstruktionen bezeichnen, wenn selbst die Wiederherstellung der größten erhaltene mittelalterlichen Fachwerk-Altstadt Deutschlands (Franfurt a.M.) mit all ihren für das nationale Gedächtnis unverzichtbaren, bauhistorischen Kostbarkeiten rundweg abgelehnt wurde ? Und um wie viel mehr hätten diese Leute dann gegen einen Wiederaufbau von Gründerzeitlern und wilhelminischen Staatsbauten Front gemacht, die sie ja selber vorher erst im großen Stil beseitigt hatten ! Zusammen mit der klammheimlichen aber auch teilweise explizit geäußerten Freude darüber, daß die US-und Royal Airforce die ‚Vorarbeiten’ der in fast allen deutschen Städten geplanten umfangreichen Umbaumaßnahmen leisteten, ergibt sich hier – meines Erachtens – ein nicht zu übersehender ‚roter Faden’.

    Unser Gegner arbeitet in der Tat mit teils unredlichen harten Bandagen. Nehmen wir uns deshalb nicht selber dieses neue und nützliche Instrument, mit welchem wir überzeugend parieren und kontern können !

    Im Übrigen kann ich nur die Lektüre der von mir genannten Literaturstelle empfehlen…

  • Sie haben beide Recht. Die Nazis vertraten in Bezug auf ihren Blick auf Gründerzeitarchitektur einfach nur die damalige "Mainstream"-Meinung, die es -wie Philon ganz richtig anmerkte- wirklich bei allen politischen Ausrichtungen gab, bis weit in die Nachkriegszeit hinein.

    Man darf auch nicht vergessen, dass der kaiserzeitliche Historismus in seiner Masse auch tatsächlich nicht unproblematisch gewesen ist, es wurden reichlich Gebäude überformt und zimperlich im Umgang mit der ererbten Altstadtbausubstanz war man auch nicht gerade gewesen, es wird nicht ohne Grund gerne von der ersten Zerstörung unserer Altstädte in der Kaiserzeit gesprochen.

    Der Historismus war etwa eingangs des 20. Jahrhunderts extrem dominant im Stadtbild unserer Städte, eine gewisse Ermüdung oder gar Überdruss, die dann zur Reaktion über die bekannten Zwischenschritte Jugend-, später Reformstil zur Moderne führte, kann man im historischen Kontext vielleicht sogar nachvollziehen. Bis auf wenige schon damals als wertvoll erkannte Profanbauten aus älteren Epochen und Kirchen (auch diese aber gerne "renoviert" im Stil der Zeit) sowie "übersehene" Gebäude, die nicht gründerzeitlich überformt wurden, waren viele Städte zu fast 90% von Gebäuden aus der Kaiserzeit oder in ihr renovierten geprägt, bekannte Ausnahmen vielleicht die schon damals weltberühmten Altstädte von Frankfurt, Lübeck, Hildesheim, Braunschweig, Nürnberg etc.

    Ich halte den Hinweis darauf, dass sich die Nazis eher in der Kontinuität der Moderne befanden, für einen durchaus hilfreichen Argumentationsansatz, das, was wir heute betrauern, hatte in den 20er Jahren begonnen, war von der NSDAP dankend aufgenommen worden, hatte im Bombenkrieg einen nicht erhofften (oder billigend in Kauf genommenen) Katalysator gefunden und wurde von der Nachkriegsstadtplanung vollendet. Das dritte Reich stand in diesem Bereich -abgesehen von einigen gestalterischen Änderungen- absolut in der Kontinuität des Zeitgeists.

    Dieses Argument muss den Rekogegnern genommen werden, denn die Nazis waren alles andere als Freunde mittelalterlicher Altstädte, der Versuch einer Kontinuitätsherstellung vom Nationalsozialismus zum DomRömerprojekt ist derartig hanebüchen, dass eine solche Argumentation wieder und wieder als das, was sie ist, bloßgestellt werden muss: ein riesiger Blödsinn. Mich wundert, wie passiv und defensiv die Vertreter von Rekonstruktionen bei diesem Thema immer werden, sie lassen sich dort ohne Not die Diskussionshoheit nehmen, statt -wie vielfach belegbar- klarzumachen, dass Rekonstruktionen gerade nicht im Sinne der Nazis waren.

  • Dennoch ist die ganze Diskussion eben auch "gaga". So wie das Verhältnis des öffentlichen Diskurses zur NS-Zeit "gaga" ist. Wenn man sich auf verrückte Diskursrahmen einlässt, muss man selbst verrückt argumentieren und wird verrückt.

    Rekonstruktionen sind so nationalsozialistisch wie "anti-faschistisch". Jeder kann das interpretieren wie er möchte. Der Reko-"Antifaschist" kann sich vor die "Goldene Waage" stellen und rufen: "Das ist Architektur gegen die Nazis. Oder hat Speer etwa mit Holz gebaut?" Der Modernisten-"Antifaschist" kann sich genau so vor die "Goldene Waage" stellen und rufen: "Das ist Nazi-Architektur. Denn sie knüpft an eine positive Geschichte an. Dabei hat das Tätervolk keine positive Geschichte." Nun können sie beide schauen, er lauter schreit, dass er der wahre "Anti-Faschist" ist... Bloß, wer hat eigentlich festgelegt, dass "Anti-Faschismus" immer recht hat?

  • Halten wir der 'Hydra' den Spiegel vor !

    Geschätzter, lieber Heimdall,


    Sie haben natürlich vollkommen Recht mit Ihrer Kritik an der - dem gegenwärtigen immer intoleranter werdenden Zeitgeist geschuldeten - hysterischen und inflationären Verwendung des Begriffes ‚Anti-Faschismus’, der dazu benutzt wird, dem vermeintlich an jeder Straßenecke lauernden, fröhliche Urstände feiernden 3. Reich entgegenzutreten. Und gerade die ‚speziellen Gruppen’, die diesen Begriff monstranzartig vor sich her tragen, sind in der Regel mindestens ebenso totalitär in ihrem Auftreten, wie das System gewesen ist, dessen Wiederkehr sie vorgeben mit Vehemenz zu bekämpfen. Mit solchen – zurückhaltend formuliert : abstrusen - Kreisen möchte man sich selbstredend nicht gemein machen.

    Ich muß zugeben, daß ich auch nur deshalb im Titel auf diesen Begriff – und nicht auf den im Untertitel benutzten ‚Anti-Nationalsozialismus’ - zurückgegriffen habe, weil er schlicht kürzer und eingeführter ist und somit am ‚Leser-Markt’ schneller Aufmerksamkeit erhält. Leider verschleiert er natürlich die große ideologische Nähe der meisten ‚Ismen’ des 20. Jahrhunderts, die allesamt scharf von einem wirklichen Konservatismus abzugrenzen sind, der weder mit internationalem noch mit nationalem Sozialismus etwas gemein hat. (Nebenbei bemerkt: Genau darum ist es mir ja auch so wichtig, das landläufig und völlig zu Unrecht als Vorstufe zum Nationalsozialismus hingestellte Kaiserreich und seine Repräsentanten in scharfe Frontstellung zum NS-Regime zu bringen.)

    Trotzdem möchte ich die Gefahr, daß diese Diskussion als ‚verquer’ oder ‚gaga’ wahrgenommen wird riskieren und zwar aus folgendem Grunde: Man sollte versuchen, den Gegner mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Dazu brauchen wir nicht einmal selber die arg abgenutzte ‚Nazi-Keule’ zu schwingen. Viel besser und viel unerwarteter ist es doch, wenn wir den Trübys dieser Welt einfach den Spiegel vorhalten und ihnen dadurch zeigen, in wessen Gesellschaft sich sich eigentlich befinden, gleich der Film-Hydra, deren bösen Blick man auf diese Weise neutralisierte und die dadurch selber paralysiert wurde.

    Wenn man auf solche Weise dieses sinnentleerte ‚Totschlagsargument’ endlich aus der Diskussion um ästhetischen Städtebau herausdrängen könnte, wäre doch Allen gedient. Uns Reko-Freunden allemal. Denn glauben Sie mir bitte: Auch ich kann die Vokabeln 'Rolle rückwärts', 'rückwärtsgewandt’ , 'braun angehaucht’ und 'faschistisch’ ebenso wenig mehr hören, wie Sie.

    Ich hoffe, diese Zeilen tragen etwas zur Klärung der Motivlage bei...

    Beste Grüße

  • Ich finde die Initiative von Pagenthorn sehr ehrenwert und kann die Absicht, die mir äußerst sympathisch ist, auch sehr gut nachvollziehen. Auch halte ich die Debatte für sehr interessant - aber auch für nicht unproblematisch. Ich fürchte nämlich, dass über kurz oder lang mehrere Stränge durcheinanderzulaufen drohen

    Erstens: Beginnen wir mit dem Verhältnis Nationalsozialismus-Historismus: Die Nazis haben den späten Historismus ebenso gehasst wie das Wilhelminische Zeitalter oder die Zeit Franz Josefs I. Und natürlich hat die Moderne all das auch gehasst. Aber kann man daraus schon auf eine Analogie zwischen NS-Zeit und Moderne schließen? Und kann man im Umkehrschluss Rekonstruktionen dieser Bauten als antifaschistisch bezeichnen?

    Zweitens: die Frage nach der Qualität des Historismus: Es gibt ganz großartige Bauten des Historismus, gar keine Frage. Aber manchmal war er wirklich zu überbordend und qualitativ ungenügend. Das liegt nicht unbedingt an der Epoche selbst, sondern eher daran, dass extrem viel gebaut wurde, oft nach Katalog, mit sehr viel Geld. Gerade in mittelalterlichen und barocken Altstädten war der Historismus nicht immer eine Wohltat. Insofern kann ich manche Rückbaumaßnahmen aus den 1930er Jahren durchaus gutheißen (z. B. von Schlippe in Freiburg). Auch das von Pagenthorn gezeigte Denkmal für Wilhelm I. überzeugt mich nicht - zuviel Märklin-Ritterburg. Andererseits sind die Purifizierungen aus der NS-Zeit auch nicht immer gut: beim Posener Schloss nicht und auch nicht bei Schwechtens Kriegsschule in Potsdam.

    Drittens: Was verstehen wir überhaupt unter Historismus? Der von Ignaz Michael Neumann erbaute Westturm des Mainzer Doms ist in gewisser Hinsicht schon ein Historismus, ebenso die in einem anderen Strang behandelten romanisierenden Elemente von St. Mariä Himmelfahrt in Köln und der Turm von Neresheim. Stülers Historismus ist ein ganz anderer als der von Raschdorff.

    Viertens: Wie definieren wir Faschismus? Für mich ist das etwas anderes als Nationalsozialismus, wenngleich beide Systeme im WK II verbündet waren. Aber die faschistischen Staaten waren Ständestaaten mit einem diktatorisch regierenden Regierungschef. Aber in Italien gab es den König als Staatsoberhaupt, die Kirche wurde nicht verfolgt (die faschistischen Regime waren nicht atheistisch-neuheidnisch, es gab sogar in der Slowakei einen Klerikalfaschismus). Der Faschismus war kolonialistisch und imperialistisch, aber nicht im selben Maße rassistisch. Er strebte nicht nach Lebensraum und ihm fehlten die sozialistischen Elemente wie die klassenlose Gesellschaft aka Volksgemeinschaft.

    Fünftens: Der Historismus hat weniger rekonstruiert als vielmehr überformt. Man müsste nun klären, ob die NS-Zeit rekonstruiert hat. Ist der pseudoromanische Chor, den Himmler in Quedlinburg hat einziehen lassen, optisch ein Gewinn oder nicht? Nimmt er Purifizierungstendenzen der 1960er Denkmalpflege vorweg oder sind das zwei Paar Stiefel.

    All das müssten wir also erst einmal klar abgrenzen, weil wir uns sonst sofort wieder angreifbar machen.

    Sehr interessant fände ich dagegen einen Strang, in dem wir über Historismus debattieren, über guten und weniger guten.

    Wer einer Halbwahrheit eine weitere Halbwahrheit hinzufügt, schafft keine ganze Wahrheit, sondern eine ganze Lüge.

  • Sehr geehrter Seinsheim,

    vielen Dank für diesen differenzierten und differenzierenden Beitrag !

    Eine Diskussion mit genau solchen Wortmeldungen hatte ich gehofft anzustoßen...

  • Anbei der Textausschnitt von Ingo Sommer, auf den oben im einleitenden Beitrag schon verwiesen wurde:

    Sommer, Ingo: ‚Zwischen Tradition und Moderne. Wilhelm II. und die Baukunst’
    (in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte. Neue Folge 25. Band. 2015. Heft 2, S.157-209) hier: S.174-176.

    Ich bitte um Verzeihung für die mäßige Qualität der Abbildungen, aber das Heft ist broschiert und hat keine Fadenheftung, sodaß ich es nicht scannen, sondern nur abfotografieren konnte.

    (Im Übrigen ist der gesamte Aufsatz – wie auch die anderen Beiträge in dem Heft – sehr lesenswert !)


  • Den Text kannte ich noch nicht, er ist hochinteressant und aufschlussreich. Herzlichen Dank! Interessant ist nur: Hitlers Lieblingsbau war die Garnier-Oper in Paris. Was, so kann man sich fragen, ist an ihr anders als an vielen Bauten der Kaiserzeit?

    Wer einer Halbwahrheit eine weitere Halbwahrheit hinzufügt, schafft keine ganze Wahrheit, sondern eine ganze Lüge.

  • Ich habe gerade den Satz vor dem markierten Abschnitt von Ingo Sommers Text gelesen: "Das vernichtende Urteil über die wilhelminische Architektur wurde von der Weimarer Republik an den NS-Staat und auch an die junge Bundesrepublik weitergegeben".
    Genau da liegt das Problem: die konservativen Kräfte der Weimarer Demokratie (Rathenau), die Nazis, die junge Bundesrepublik und übrigens auch die Kommunisten in der DDR haben allesamt den Wilhelminismus abgelehnt. Nun stellt sich die Frage, wieso? Was begründete die gemeinsame Ablehnung durch diese völlig verschiedenartigen, ja verfeindeten Gruppen und Systeme? War es die Gegnerschaft zur Monarchie? War es ein Stil, der als überholt, überlebt und dekadent galt? Galt das System nicht vielen schon vor 1914 als morsch? Zogen nicht viele junge Männer 1914 in den Krieg, weil sie sich eine völlige Erneuerung Europas erhofften? All das macht es m. E. schwierig, die Ablehnung des Wilhelminismus einem einzigen System wie dem Nationalsozialismus zuzuschreiben. Ich glaube, es war eine allgemeine, in ganz Europa zu beobachtende Mentalität, die ja auch die Mode, das Alltagsleben und die Bildkünste erfasste. Es war das Gefühl, aus einer Welt, die sich vollkommen überholt hatte, auszubrechen. Und dabei hat man leider das Kind mit dem Bade ausgeschüttet.

    Wer einer Halbwahrheit eine weitere Halbwahrheit hinzufügt, schafft keine ganze Wahrheit, sondern eine ganze Lüge.

  • Eine treffende Beobachtung, Seinsheim !


    Allerdings möchte ich die Einschränkung machen, daß die Geringschätzung des Historismus wohl nur ein kontinental-europäisches Phänomen ist. Denn seiner angelsächsischen Spielart, dem Viktorianismus (interessant, daß beide Stile nach Großmutter und Enkel benannt wurden) ist nie dermaßen mit zerstörerischer Verachtung begegnet worden (man denke nur an den unverändert erhaltenen St. Pancras Staion in London). Und sogar heute noch ist der Viktorianismus bis hinein in die Populärkultur beliebt, man denke nur an das Aussehen des Internats Howgarts in Harry Potter (daß ich einmal dieses von mir nie gelesene Buch zitieren werden würde, hätte ich mir auch nicht träumen lassen...).

    Einmal editiert, zuletzt von Pagentorn (9. November 2018 um 23:54)

  • Nebenbei bemerkt war ja der Wilhelminismus des Kaisers selber kein monolithischer Block, sondern zwischen 1888 und 1918 deutlich erkennbaren Veränderungen unterworfen. Und daß Wilhelm – wenn er auch nicht der unmittelbare Auftraggeber des Cecilienhofes war, so wird ihm dennoch das Kronprinzenpaar die Entwürfe zur Zustimmung vorgelegt haben – die Ausführung der Pläne von Paul Schultze-Naumburg genehmigte, eines ja unverblümten Kritikers seines lange bevorzugten Baustiles, zeugt zumindest von Großzügigkeit und Toleranz, wenn nicht gar von souveräner Größe. Und wenn man sich den Wilhelminismus in Huis Doorn ansieht, sowohl das neue Torgebäude, aber auch insbesondere die Garage, dann ist hier sogar eine Form von expressionistischem Wilhelminismus vorhanden… Diese Duldsamkeit und Aufgeschlossenheit Neuem gegenüber wurde von den Kritikern, zumal den Nationalsozialisten, dem Namensgeber des Wilhelminismus ja niemals zugestanden !

  • Ja, die Bandbreite des Stils unter Wilhelm II. ist beträchtlich (interessant übrigens, dass alle möglichen Wörter, die in der Nazizeit Verwendung fanden, tabuisiert sind, nicht aber das von den Nazis geschaffene Wort 'Wilhelminismus').
    Die Staatsbibliothek Unter den Linden ist für mich einer der besten Bauten Berlins und auch das Bode-Museum finde ich sehr qualitätvoll. Tietz Wertheim in der Leipziger Straße war auch grandios.

    Der Torbau in Doorn ist übrigens gleichfalls schön - wenngleich er in Wikipedia als "ein neo-mittelalterliches Torgebäude" beschrieben wird, was natürlich Unsinn ist.

    Wer einer Halbwahrheit eine weitere Halbwahrheit hinzufügt, schafft keine ganze Wahrheit, sondern eine ganze Lüge.

    2 Mal editiert, zuletzt von Seinsheim (10. November 2018 um 12:44)

  • Beispiel: Rathaus Hechingen

    Dieses weitere einprägsame Beispiel für den Umgang des Dritten Reiches mit Bauten von Historismus bzw. Wilhelminismus ist in der Schrift ‚Denkmalschutz für Bauten der Kaiserzeit’ von Michael Ruhland (S.36-37) enthalten, zu dem ich unten den Link beifüge. Hier ein Auszug aus dem Text, der auf das Rathaus Bezug nimmt:



    Durch die Einrichtung eines Luftschutzkellers in den 30er Jahren wurden die Fundamente des entdekorierten Rathauses derart beschädigt, daß es 1955 gesprengt werden mußte. Mit dem Neubau wurde erneut Paul Schmitthenner (!) beauftragt. Der Bau stellt sich gegenwärtig so da:

    Sieh an, sieh an: Der Herr Architekt hat sich sogar dazu herabgelassen, dem 'Volksgeschmack' entgegenzukommen und sozusagen als 'Brosamen' ein Türmchen auf dem First (einen Dachreiter kann man das wohl eher nicht nennen) zu konzedieren.

    https://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/nbdp…File/13440/7252

  • Nochmals danke, @Pagentorn für das wunderbare Material. Mein Eindruck ist gemischt, wenn ich den Link unten ansehe.

    Beispielsweise finde ich Entwurf und Gegenentwurf in Abb. 4a und 4 b gleichermaßen gut. Ich hätte es aber niemals gutheißen, 4a zugunsten von 4b umzubauen.
    5a (Verbindungshaus Tübingen) war für mich kein wirklich gelungener Entwurf, 5b ist etwas banal, fügt sich in das Ensemble aber wohl besser ein.
    6a (Rathaus Hechingen) finde ich sehr schön, aber an dieser Stelle vielleicht etwas zu reichhaltig. Anderswo hätte es noch besser gewirkt. Der Umbau durch Schmitthenner, den ich durchaus schätze, ist nichtsagend, sein Nachkriegsbau besser als die meiste übrige Nachkriegsarchitektur, aber doch zu groß. Summa summarum wäre ich für den Erhalt des Ursprungsbaus.
    Abb. 8: Eine Kulturschande ersten Ranges, diese wirklich sehr gelungene neobarocke Kirche abzureißen!
    Abb. 11 u. 12: Durch Entfernung der Erkerdächer, der Stuckgesimse und der Fenstersprossen ist der Bau, der an sich recht gut war, zu einer plumpen Kiste degradiert worden. Sehr ärgerlich!

    Sie sehen, dass sich - zumindest in meiner Wahrnehmung - die Sache sehr differenziert gestaltet. Aber ganz deutlich wird auch, dass es den Nazis - wie auch vielen Protagonisten in der gegenwärtigen Architekturdebatte - um Ideologie ging.

    Und vor allem zeigt sich auch, und das ist für mich bislang der größte Gewinn aus dieser Debatte: Es ist absolut widersinnig, ja bösartig, zwischen dem Kaiserreich und der NS-Zeit eine Kontinuität herstellen zu wollen. Eine solche Unterstellung wird gerade durch den Umgang der Nazis mit der Wilhelminischen Architektur sehr eindrucksvoll widerlegt"!


    Ob dies allerdings zu dem Umkehrschluss berechtigt, die Rekonstruktion historischer Architektur als antifaschistisch zu bezeichnen, weiß ich nicht. Auf jeden Fall aber ist sie alles andere als faschistisch bzw NS-behaftet. Hingegen kann sie durchaus rechts sein, sofern man rechts, wie jeder vernünftige Mensch, als bürgerlich-konservativ definiert. Ebenso kann Reko aber auch links sein: DDR-Nicolaiviertel in Berlin, frühe Rekonstruktionen in Potsdam unter Ulbricht.

    Wer einer Halbwahrheit eine weitere Halbwahrheit hinzufügt, schafft keine ganze Wahrheit, sondern eine ganze Lüge.

  • Lieber Seinsheim,

    ihre Schlußfolgerungen sind sehr überzeugend !

    Ich bin nun hin und her gerissen, den Titel dieses Stranges in

    'Historismus und Wilhelminismus - Feindbilder der NS-Architektur'


    umbenennen zu lassen. Andererseits würde dabei der aktuelle Nutzwert in der Debatte mit den Rekonstruktionsgegnern verloren gehen... Und der Titel wäre sehr sperrig.

    Im Übrigen, daß man sich als Rekonstruktionsbefürworter eo ipso nicht nur gegen die NS-Bauideologie, sondern damit automtisch auch gegen kommunistische Architekturvorstellungen und eine durch flächendeckenden, inflationären Gebrauch entwertete und dogmatisch erstarrte Bauhaus-Moderne positioniert (wie Sie gestern zurecht schrieben), hindert einen ja nicht daran, den anti-nationalsozialistischen Anteil einmal besonders hervorzuheben. Insbesondere auch deshalb weil landläufig ja gerne, kontrafaktisch und vorschnell - auch insofern - eine nicht vorhandenen Traditionslinie vom Kaiserreich zum Dritten Reich konstruiert und der uninformierten Öffentlichkeit suggeriert wird. Etwa nach dem Muster 'von der Marineschule in Mürwik zu den NS-Ordensburgen'.

    Schließlich werden Sie es verstehen, daß es mir ein Anliegen ist, hier zeitnah auch ein Bremer Beispiel vorführen zu können und ich glaube, daß ich im Folgenden mit einem aufwarten kann:

    Das Herren-Bekleidungshaus der Gebrüder Hirschfeld in der Obernstraße war eine reizvolle Mischung aus früher Glasfassade und neo-barockem Giebelaufbau. Wahrscheinlich ist dieser Giebel im Zuge der enteignenden 'Arisierung' des Betriebes entfernt worden. Jedenfalls ist er auf einem Foto aus dem Jahre 1938 durch eine gerade Traufe ersetzt worden.

    Abbildung 01

    Der neobarocke Giebel der Gebrüder Hirschfeld (roter Pfeil).


    Abbildung 01a

    Abbildung 02

    Der Giebel in voller Höhe.

    Abbildung 03

    Das Gebäude ohne Giebel 1938.

    Einmal editiert, zuletzt von Pagentorn (11. November 2018 um 22:35)

  • Ein ähnliches Beispiel aus Leipzig:

    https://upload.wikimedia.org/wikipedia/comm…ch_vor_1900.jpg

    Das Modehaus August Pollich, 1933 arisiert, 1935 abgerissen und durch das Merkurhaus ersetzt:

    https://upload.wikimedia.org/wikipedia/comm…-Merkurhaus.jpg

    Kürzlich hat das Merkurhaus durch ein sehr gutes Beleuchtungskonzept (das aus der Architektur mehr macht, als eigentlich da ist) und durch die Rekonstruktion der historischen Schaufensterfront eine Aufwertung erfahren:

    https://scontent-atl3-1.cdninstagram.com/vp/05212269b44…269797888_n.jpg

    ..doch das Haus Pollich passte dort stets viel besser, schaffte es doch einen spielenden Übergang zwischen Peterrstraßen-Oppulenz und Schillerstraßen-Eleganz. Die spätere Erweiterung hat aber jede Referenz zur Schillerstraße aufgegeben, eher zum Nachteil des Hauses, nach meinem Geschmack:
    http://research.uni-leipzig.de/agintern/leipz…polich_1910.jpg

  • Ich sehe, geschätzter @Pagentorn Ihr Anliegen und überlege auch, wie man damit am geschicktesten umgehen könnte.

    Im Grunde betrifft die Rekonstruktionsdebatte ja weniger den Historismus als vielmehr die Zeit davor (Mittelalter bis Barock), während die Gegnerschaft gegen den Historismus u.a. in der NS-Zeit wurzelt. Letztlich begründeten die Nazis ihre Purifizierungen sogar mit einer Rücksichtnahme auf den Kontext der mittelalterlichen bzw. barocken Stadtarchitektur. Und tatsächlich haben die historistischen Bauten zum Teil - ungeachtet ihrer Qualtität, die sich für sich genommen besaßen - die alten Stadtbilder zum Teil aufgesprengt, bisweilen allein schon durch ihre Größe. Es ging eben auch schon damals um Bodenspekulation, aber auch darum, dass man im industriellen Zeitalter ganz anders bauen konnte als im vorindustriellen.

    Das Tertium comparationis zwischen Reko-Debatte und Historismus-Diskussion kommt ja nur dadurch zustande, dass die Reko-Gegner unsereins mit der Nazikeule bekämpfen und die Nazis ihrerseits den Historismus hassten. Also eine etwas schiefe Verbindung.Inwiefern es nun unsere Position stärkt, wenn wir den Historismus - der mit der Reko-Debatte wenig zu tun hat - als Opfer nationalsozialistischer Ideologie ins Feld führen, weiß ich nicht.


    Daher überlege ich mir, ob nicht Folgendes sinnvoll wäre, doch einen eigenen Strang über den Historismus zu eröffnen, in dem wir dessen städtebauliche Bedeutung diskutieren und dabei auch die auf den Bruch zwischen Wilhelminismus und Nazismus bzw. Historismus (inkl. Viktorianismus und Louis Philippe) und Neoklassizismus/Razionalismo/Neopalladianismus
    eingehen und die eine zweite Debatte eröffnen: Ist Rekonstruktion faschistisch? - wobei diese Frage eventuell in den Strang Populismus in der Architekturdebatte integriert werden könnte.

    Wer einer Halbwahrheit eine weitere Halbwahrheit hinzufügt, schafft keine ganze Wahrheit, sondern eine ganze Lüge.